Marc starrte auf sein Handy. Drei Tage. Drei Tage, seit sie sich angeschrien hatten. Drei Tage, seit Lio die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Drei Tage, seit er das letzte Mal richtig geatmet hatte.
Seine Finger zitterten über der Tastatur. Wie geht es dir? Gelöscht. Es tut mir leid. Gelöscht. Ich vermisse dich. Gelöscht.
Nichts war richtig. Alles war zu wenig. Oder zu viel.
Er ließ das Handy fallen. Presste die Handflächen gegen die Augen. Versuchte, das Brennen wegzureiben. Es funktionierte nicht. Nichts funktionierte mehr, seit sie weg war.
Zwei Straßen weiter saß Lio auf ihrer Couch. Dieselbe Couch, auf der sie noch vor vier Tagen zusammen gelegen hatten. Dieselbe Couch, die jetzt zu groß war. Zu leer. Zu kalt.
Ihr Handy lag neben ihr. Stumm. Wie schon die ganze Zeit.
Sie hatte angefangen zu schreiben. Hunderte von Nachrichten. Alle unversendet. Alle gelöscht. Alle unzureichend für das, was sie sagen wollte. Für das, was sie fühlte.
Ich war ein Idiot. Wahr, aber nicht genug.
Du warst auch ein Idiot. Wahr, aber nicht hilfreich.
Ich liebe dich. Wahr, aber… aber würde er es glauben? Nach dem, was sie gesagt hatte? Nach dem, was er gesagt hatte?
Sie zog die Knie an die Brust. Versuchte, das Loch in ihrer Brust zu füllen. Das Loch, das Marc-förmig war.
Marc stand auf. Ging zum Fenster. Sah hinaus in die Nacht. Irgendwo da draußen war sie. Irgendwo da draußen war Lio. Und sie war genauso verletzt wie er. Genauso stolz. Genauso verzweifelt.
Er kannte sie. Natürlich kannte er sie. Vier Jahre. Vier Jahre, in denen er gelernt hatte, wie sie atmete, wenn sie schlief. Wie sie lächelte, wenn sie glücklich war. Wie sie weinte, wenn sie sich geschnitten hatte – nicht nur körperlich.
Und er kannte sie gut genug, um zu wissen: Sie würde nicht anrufen. Nicht zuerst. Nicht nach dem, was passiert war.
Also musste er es tun.
Seine Hände zitterten, als er das Handy nahm. Ihre Nummer. Wie oft hatte er sie gewählt? Wie oft hatte er gehört, wie sie »Hallo, Schatz« sagte, wenn sie wusste, dass er es war?
Ein Klingeln. Zwei. Drei.
»Marc?«
Ihre Stimme. Zerbrechlich. Hoffnungsvoll. Vorsichtig.
»Lio.«
Stille. Aber es war keine schlechte Stille. Es war die Stille zwischen zwei Menschen, die gleichzeitig sprechen wollen. Die gleichzeitig schlucken. Die gleichzeitig zu stolz und zu verzweifelt sind.
»Es tut mir leid«, sagten sie gleichzeitig.
Dann Lachen. Oder war es Weinen? Bei ihnen war das manchmal dasselbe.
»Ich…« begann Marc.
»Nein, ich…« unterbrach Lio.
»Lio.«
»Ja?«
»Ich liebe dich. Und ich hasse mich dafür, dass ich so ein Idiot war. Und ich hasse mich dafür, dass ich dich verletzt habe. Und ich hasse mich dafür, dass ich drei Tage gebraucht habe, um anzurufen.«
Stille. Dann ein Schluchzen. Leise. Aber er hörte es.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie. »Und ich hasse mich für dasselbe. Und ich hasse mich dafür, dass ich nicht abgenommen habe, als du vorhin angerufen hast.«
»Ich habe nicht angerufen.«
»Doch. Vor einer Stunde. Ich habe es gesehen. Aber ich… ich hatte Angst.«
Er lächelte. Zum ersten Mal seit drei Tagen.
»Ich komme zu dir«, sagte er.
»Nein, ich komme zu dir.«
»Lio.«
»Ja?«
»Treffen wir uns in der Mitte.«
Zwanzig Minuten später standen sie sich gegenüber. Auf der Brücke, die ihre Straßen verband. Unter der Laterne, die ihr Licht schon zu oft über ihre Spaziergänge geworfen hatte.
Marc sah müde aus. Lio sah müde aus. Beide sahen aus, als hätten sie drei Tage nicht geschlafen. Hatten sie auch nicht.
»Hallo«, sagte Marc.
»Hallo«, sagte Lio.
Sie standen da. Zwei Meter voneinander entfernt. Zwei Meter, die sich anfühlten wie eine Welt.
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, sagte er.
»Ich auch nicht«, sagte sie.
»Vielleicht…« begann Marc und hielt inne.
»Vielleicht«, sagte Lio leise, »fangen wir einfach hier an.«
Sie ging einen Schritt auf ihn zu. Er ging einen Schritt auf sie zu. Noch einen. Noch einen.
Und dann waren sie da, wo sie hingehörten. In den Armen des anderen. Fest. Verzweifelt. Erleichtert.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Marc in ihr Haar.
»Mir auch«, flüsterte sie gegen seine Brust.
Sie standen dort. Unter der Laterne. Auf der Brücke. Und hielten sich fest, als ob sie nie wieder loslassen würden.
Und vielleicht würden sie das auch nicht.