Kastanienmann

Die Schatten der Kastanie vor Gertrud Foldnaks Fenster tanzten im Abendlicht über das Parkett, während sie mit ruhiger Hand die letzten Zeilen ihres Testaments niederschrieb. Blauschwarze Tinte auf schwerem Büttenpapier – ein letzter Akt der Würde in einem Leben, das mehr Geheimnisse barg, als die penible Ordnung ihres Haushalts vermuten ließ.

Fünfzig Jahre. Fünfzig Herbste hatte sie die fallenden Kastanienblätter gezählt, fünfzig Winter ihre Träume unter Schnee begraben. Die Zeit war gekommen.
Das Haus atmete Stille, als Gertrud sich erhob. Ihr Blick glitt über die makellosen Oberflächen, die gebügelten Spitzendeckchen, die polierten Messinggriffe. Alles an seinem Platz, alles vollendet. Nur sie selbst war es nicht. Noch nicht. Aber bald.

Im Schlafzimmer duftete das Leinen nach Lavendel. Sie hatte es gestern gewaschen, heute gebügelt – dieselbe Routine seit Jahrzehnten. Eine Routine, die half zu vergessen. Die half, nicht an jenen Novembertag 1974 zu denken, an die kalten Kachelwände des St. Elisabeth-Krankenhauses, an die mitleidigen Blicke der Ordensschwestern.

Als sie sich in die gestärkten Laken bettete, wusste Gertrud, dass er kommen würde. Sie hatte ihn schon lange gespürt, diesen Schatten zwischen den Blättern, diese Gestalt, die am Rande ihrer Träume wartete. Der Kastanienmann. Ihr Kastanienmann. Geboren aus fünfzig Jahren stummen Schmerzes. Sie wurde unruhig und erhob sich. Vorsichtig gin sie zum Fenster. So als wolle sie nicht, das sie jemand sieht.

Er stand unter dem Baum, als die Kirchturmuhr Mitternacht schlug. Groß, in einen Mantel gehüllt, der wie Baumrinde im Wind knisterte. Sein Gesicht blieb im Schatten des breitkrempigen Hutes verborgen, doch Gertrud kannte ihn. Niemand sonst würde ihn je sehen. Er gehörte zu ihr.

Ihre Hand legte sich an die Scheibe, und durch das kalte Glas hindurch spürte sie seine Gegenwart. Nicht bedrohlich. Einladend.
»Es ist Zeit«, formten seine Lippen, obwohl kein Laut die Stille durchbrach.

Gertrud nickte. Ein Stich durchfuhr sie – kein Schmerz, eher eine Erlösung. Sie sank zurück aufs Bett, während draußen die Kastanienblätter fielen wie damals, als Schwester Magdalena ihr zuflüsterte: »Dein Kind liegt unter der großen Kastanie. Auf dem anonymen Feld. Gott sei seiner kleinen Seele gnädig.«
Die junge Gertrud hatte nicht weinen dürfen. Nicht im Krankenhaus, wo die Wände Ohren hatten und unverheiratete Mütter keine Tränen verdienten. Sie hatte ihr totes Mädchen nur einmal gesehen, eingehüllt in grobes Leinen, bevor man es ihr wegnahm. Kein Name. Keine Zeremonie. Nur die heimliche Gnade einer alten Schwester, die ihr Wochen später den Ort verriet.

Am Morgen fand die Nachbarin sie. Friedlich, die Hände über der Brust gefaltet, ein Lächeln auf den Lippen. Vielleicht das erste echte Lächeln seit fünfzig Jahren.
Das Testament auf dem Sekretär sprach von einer großzügigen Spende an das hiesige Waisenhaus. Sie hatte keine Erben. Keine die lebten. Wem also sollte sie ihr Vermögen vermachen. Doch die eigentliche Überraschung war ihr Begräbniswunsch: Einäscherung und anonyme Beisetzung auf dem Feld der Namenlosen auf dem Friedhof am Stadtrand. Dort wo eine alte Kastanie ihre Zweige über die Vergessenen breitet. Nahe des Baumes. Dort wollte sie begraben werden.
Niemand verstand es. Gertrud Foldnak, die Dame von Stand, die ihr Leben der Ordnung und dem Ehrenamt geweiht hatte – warum dort, bei den Namenlosen?
Die Trauerfeier fand an einem grauen Novembertag statt. Nu wenige kamen. Als der Pfarrer die letzten Worte sprach, wusste der alte Friedhofsgärtner von Gertruds Wunsch. Wortlos trug er die Urne zur großen Kastanie. Dort, wo seit fünfzig Jahren die namenlosen Kinder ruhten, versenkte er sie in der Erde.
Die Blätter der alten Kastanie raschelten ein letztes Willkommen. Irgendwo unter ihren Wurzeln, in derselben dunklen Erde, lag seit 1974 unsichtbar ein winziges Grab. Kein Stein, kein Zeichen. Nur die verschwiegene Gnade einer Ordensschwester und das gebrochene Herz einer Mutter, die nie öffentlich hatte trauern dürfen.
Heute wächst die Kastanie noch immer über dem anonymen Feld. Manche sagen, an stillen Novembertagen könne man ein Wiegenlied hören, das der Wind durch die Blätter trägt. Ein Lied, das eine Mutter ihrem Kind nie singen durfte – bis jetzt.

Der Kastanienmann? Den hat nie jemand gesehen außer Gertrud selbst. Er war ihr ureigenstes Geheimnis, ihre manifestierte Sehnsucht, ihr stummer Begleiter durch fünfzig Jahre des Wartens. In der Nacht ihres Todes hatte er sie endlich nach Hause geführt – zu dem namenlosen Kind unter der Kastanie, das sie nur einmal im Arm halten durfte.

Manche Liebe ist stärker als alle gesellschaftlichen Konventionen. Manche Sehnsucht überdauert Jahrzehnte. Und manchmal, nur manchmal, erlaubt uns der Tod die Erlösung, die uns das Leben verwehrte.

Schwester Magdalena, längst selbst bei Gott, hätte gelächelt. Ihre kleine Sünde – das Vertrauen, das sie brach, als sie der verzweifelten jungen Mutter den Ort verriet – hatte am Ende zwei Seelen zusammengeführt. Unter der ewigen Wacht der alten Kastanie.

***

Lesezeit wird berechnet...
Szenen wird erstellt...