Andreas schlenderte an den Regalen vorbei und streifte die Bücher mit flüchtigen Blicken. Ab und an blieb er stehen, legte den Kopf auf die Seite und besah sich den einen oder anderen Titel genauer. Schließlich schlurfte er nach vorn, die Augen an ein Buch geheftet, das er in der Hand hielt.
»War diesmal nichts für Sie dabei, Herr Martens?«, fragte der alte Buchhändler freundlich.
»Nur das eine hier, Herr Grasser…«, sagte Andreas und legte das schmale Büchlein auf den massiven Schreibtisch, den Grasser zu seinem Ladentisch deklariert hatte.
Andreas liebte das winzige Buchantiquariat, in dessen modrigem Geruch er sich sogleich um Jahrzehnte in der Zeit zurückversetzt fühlte. Wenn er den Raum betrat und das Messingglöckchen an der Tür ihn mit hellem Klang willkommen hieß, wurde er jedes Mal urplötzlich von dem Flair des Ladens gezwungen, leiser zu gehen und zu flüstern, wollte er sich mit jemandem unterhalten.
An den Wänden standen ringsum die Regale, die allesamt bis oben hin mit Büchern aller Genres und Epochen vollgestopft waren. Davor stapelten sich Kartons mit neuen Lieferungen von Leuten, die sich ihrer alten Literatur entledigt wissen wollten, jedoch genug Anstand besaßen, sie nicht auf den Müll zu werfen. Mitten im Raum stand eine Glasvitrine, in der Grasser die kostbarsten Stücke ausgelegt hatte. Die düsteren Holzregale schienen Geschichten zu flüstern, und der Staub auf den Büchern wirkte wie ein Schleier, der ihre Geheimnisse schützte. Wenn er die raue Oberfläche der alten Einbände berührte, hatte er das Gefühl, eine direkte Verbindung zu den vergangenen Jahrhunderten herzustellen.
»Liebesgedichte!« Grasser lächelte. »Das macht drei Mark«, sagte der Händler und legte den Band wieder auf den Tisch. Andreas bezahlte und ging.
Zweimal die Woche kam der junge Sachbearbeiter in seiner Mittagspause hierher, um in den Regalen und Kisten nach kleineren Kostbarkeiten zu suchen, und selbst wenn er ohne ein Schnäppchen geschlagen zu haben zurück ins Büro ging, wusste er, dass er wiederkommen würde.
Andreas Martens hatte eine besondere Beziehung zu Büchern. Er musste sie nicht alle gelesen haben. Manchmal reichte es, wenn er sie in seinen Händen hielt und mit den Fingern über die vergilbten Seiten strich, um sich verzaubern zu lassen.
Später im Büro lehnte Andreas sich für einen Moment zurück, nahm das Büchlein, das er zuvor im Antiquariat erstanden hatte, zur Hand und blätterte darin. Manchmal standen in den Büchern Widmungen, die er jedoch meistens überflog, da es sich fast immer um nichtssagende Phrasen handelte. Nichtssagende Widmungen für nichtssagende Menschen in ihren nichtssagenden Beziehungen. Diesmal blieb Andreas jedoch an der Seite hängen, auf der mit feinen Tintenstrichen ein kurzer Text geschrieben stand:
…Die Liebe hemmet nichts, sie kennt weder Tor noch Riegel und drängt durch alles sich. Sie ist ohne Anbeginn, schlägt ewig ihre Flügel und schlägt sie ewiglich. (Matthias Claudius)
Es war Sabines Reaktion, als ich ihr von Dir und mir erzählte. Für sie waren meine Tränen Theorie. Tränen, die Du erlebt hast. Tränen, die mehr als alle Worte auszudrücken vermochten. Und Du warst dabei.
Vielleicht findest Du ja mal Zeit, dieses Büchlein zu lesen. Was hauptsächlich meine Gedanken ausmacht, habe ich unterstrichen. Besonders Seite 23.
Die Zeit mit Dir war schön. Es wäre schön, wieder etwas von Dir zu hören, einfach, weil Du mir nicht egal bist.
Alles Liebe und Gute. Marie…
Andreas blätterte auf die dreiundzwanzigste Seite, und noch bevor er das Unterstrichene zu lesen begann, erstarrte er. Auf einmal fühlte er sich wie ein Einbrecher, der sich in das Leben eines Anderen schlich und dessen Geheimnisse stahl. Sein Gewissen strafte ihn mit Selbstvorwürfen. Erschrocken legte er das Buch beiseite, als Yvonne das Büro betrat.
»Na, Großer? Ich wollte nur fragen, ob wir heute zusammen essen gehen?«
Andreas wusste, worauf Yvonne aus war, und schüttelte den Kopf.
»Heute nicht, mein Schatz. Ich bin nicht in Stimmung.«
»Was ist denn mit dir los? Du bist ja mit den Gedanken ganz woanders?«
»So könnte man es auch nennen.«
Andreas zog eine Schublade auf, um das Buch verschwinden zu lassen, doch Yvonne grabschte mit der Schnelligkeit einer Viper danach und riss es ihm aus der Hand. Sie drehte sich, um Andreas daran zu hindern, es sich zurückzuholen. Eilig überflog sie den Titel, begann zu kichern und warf es achtlos auf den Schreibtisch.
»Du bist ein unverbesserlicher Romantiker, Andi. Wenn du wieder in unserem Jahrhundert bist, dann ruf mich an.«
Sie zwinkerte ihm zu und ließ die Tür ins Schloss fallen. Andreas lehnte sich zurück und seufzte. Es schien wirklich niemanden zu geben, der ihn und seine Sicht auf die Welt verstand. Wie oft hatte er versucht, mit Kollegen oder Bekannten über seine Liebe zu alten Büchern zu sprechen, nur um auf leere Blicke oder ein flüchtiges Lächeln zu stoßen. Einmal hatte er sich dazu hinreißen lassen, einem Freund von der Magie zu erzählen, die er empfand, wenn er die vergilbten Seiten berührte – doch sein Gegenüber hatte nur gelacht und gefragt, ob er nicht lieber einen E-Reader ausprobieren wolle.
Yvonne, die junge Sekretärin, war nur auf ein kurzes Abenteuer aus. Zugegeben, sie hatte ihre Reize, sonst hätte sich Andreas nicht schon einmal darauf eingelassen. Aber tief in seinem Innern sehnte er sich nach etwas anderem.
Aber gab es in der heutigen Zeit, die so kurzlebig und aufregend ist, noch irgendwo eine Frau, die einen Sinn für Romantik hatte? Eine schien es ja tatsächlich zu geben. Er dachte an die Zeilen in dem Büchlein und ihre Verfasserin. Marie… Das klang einfach und trotzdem schön, wie eine zarte Melodie, die leise in ihm widerhallte. Die Worte der Widmung ließen ihn eine Frau erahnen, die feinfühlig und nachdenklich war, jemand, der Tränen nicht für Schwäche hielt, sondern für ein Zeugnis wahrer Empfindungen. Jemand, der es verstand, in wenigen Zeilen eine Welt voller Bedeutung zu erschaffen. Er versuchte, sie sich vorzustellen. Welche Farbe mochte ihr Haar wohl haben? Welche Farbe ihre Augen?
Marie…, die schöne Unbekannte.
Am Abend hätte sich Andreas ein heißes Bad und danach ein Glas Cognac vor dem Fernseher gegönnt. Er beschloss, früh ins Bett zu gehen und noch ein wenig in seinem neuen alten Buch zu schmökern. Doch die Mühen des Tages forderten schon bald ihren Tribut, und so schlief er über den aufgeschlagenen Seiten ein. In seinem Traum sah er die feinen, unterstrichenen Zeilen aus der Widmung, die sich zu Bildern formten: eine Hand, die sanft eine Träne von einer Wange wischte, und die Flügel, die in Claudius’ Worten beschrieben waren, schienen ihn mit einem leisen Flattern zu umhüllen. Die Traumbilder waren so lebendig, dass sie ihn in eine Welt zogen, die ihm seltsam vertraut vorkam und doch voller Geheimnisse war. Im Traum erschien ihm eine Frau…
Sie stand vor ihm. Ihr Haupt war gesenkt. Um ihn herum befand sich sonst nur gähnende, blauschwarze Leere. Die Luft fühlte sich kühl und schwer an, als ob sie seine Bewegungen dämpfte, und ein leises, widerhallendes Echo schien von irgendwoher zu kommen, obwohl keine Wände sichtbar waren. Es war, als würde diese Leere ihn langsam umarmen, unheimlich und doch tröstlich zugleich. Nur diese Frau, die vor ihm stand, in einem langen Seidenkleid und einer… Ja, sie hatte eine Waage in der Hand. Als sie ihren Kopf hob, sah er, dass ihre Augen verbunden waren.
»Andreas?«, fragte sie, und ihre Stimme hallte von unsichtbaren Wänden zurück. »Andreas? Bist du es?«
»Ja…«, flüsterte er kaum hörbar und würgte an dem Kloß in seinem Hals.
Die Frau nahm ihre Augenbinde ab und lächelte ihn an. Andreas spürte, wie sich sein anfängliches Unbehagen in eine unerklärliche Wärme verwandelte. Es war, als würde ihr Lächeln ihn durchdringen und eine längst vergessene Hoffnung in ihm wecken. Sein Herz schlug schneller, und eine Mischung aus Ehrfurcht und Vertrautheit ließ ihn den Moment reglos genießen. Sein anfängliches Unbehagen verflüchtigte sich. Er blickte in ihre stahlblauen Augen. Ihr braunes Haar trug sie zu einem Zopf geflochten. Plötzlich streckte ihm die unbekannte Schönheit ihre Hand entgegen. Andreas sah drei Münzen auf ihrer Handfläche schimmern. Sie ließ sie in eine der Waagschalen fallen und sah ihn erwartungsvoll an.
»Du weißt, dass du noch einmal zurück musst!«
»Wohin?«
»Es ist dein Schicksal, Andreas. Denk an die drei Münzen…«, hallte es von unsichtbaren Wänden wieder, während die Gestalt sich langsam von ihm entfernte.
»Warte!«, rief er und versuchte, ihr zu folgen. Doch je mehr er sich bemühte, desto schwerer wurde es, von der Stelle zu kommen.
»Denk an die drei Münzen, Andreas…«
»Nein! Geh nicht! NEIN!«, schrie er im selben Moment, in dem er schweißgebadet aus seinen Laken fuhr und sich aufrecht im Bett sitzend wiederfand. Sein Atem war flach, und sein Herz trommelte wild das Blut durch die Adern an seinem Hals. Die Nachttischlampe brannte noch. Das Buch lag aufgeschlagen neben ihm. Ein Traum, fuhr es ihm wie ein Schnellzug durch den Kopf. Das war Gott sei Dank nur ein Traum. Doch warum fühlte er sich so real, so durchdringend? Andreas konnte das Flattern der Flügel beinahe noch spüren, die sanfte Kühle der Waagschale auf seiner Haut. Es war, als hätte der Traum nicht nur seine Gedanken, sondern auch seine Seele berührt und ihm etwas sagen wollen, das er noch nicht vollständig begriff.
Er erinnerte sich daran, wie er gerannt war und dennoch nicht von der Stelle gekommen war. Aber diese Frau. Da war diese Frau…
… die er auch am nächsten Tag im Büro nicht vergessen konnte. Die Frau mit den drei Münzen, die sie in eine Waagschale fallen gelassen hatte.
»Ich muss noch einmal zurück…«, murmelte er und fragte sich, was diese Anweisung wohl zu bedeuten hatte. Drei Münzen? Das konnten die drei Mark sein, die er für das Buch bezahlt hatte. Es lag in der Schublade seines Schreibtisches, während Andreas ungeduldig auf die Mittagspause wartete, in der er es hervorholen würde, um es sich dann auf einer Bank im nahegelegenen Stadtpark bequem zu machen.
Während er zwei Stunden später in dem Gedichtband blätterte, machte es ihm der Traum unmöglich, sich auf die Zeilen zu konzentrieren. In Gedanken versunken las er noch einmal die Widmung der unbekannten Marie. Plötzlich begann er, kindisch zu grinsen. Das wäre eine Frau für mich, dachte er. Aber sie war ja so unerreichbar wie der Mond, und anscheinend liebte sie einen anderen. Jedoch ließ der Text Probleme vermuten. Vielleicht gab es diese Liebe ja gar nicht mehr. Was wäre, wenn…?
Was, wenn der Traum ihm klarzumachen versuchte, dass er noch einmal zu dem Buchantiquariat zurückgehen sollte? Nein, diese Idee war wirklich zu verrückt. Aber vielleicht verrückt genug, um sie in die Tat umzusetzen. Andreas spürte einen Tropfen auf seiner Nase. Einen zweiten auf seinem Arm. Er machte sich auf den Weg ins Büro, denn es begann zu regnen.
Während Andreas zurück ins Büro hastete, saßen zwei alte Freundinnen, Sabine und Marie, schweigend am Tisch eines Cafés, nicht weit vom Stadtpark. Sabine spielte mit der Borte des Deckchens, auf dem die Vase mit der weißen Seidenrose stand. Marie schaute mit aufgestütztem Kopf aus dem Fenster, an das leise Regentropfen prasselten.
»Und er hat sich nicht mehr gemeldet?«
Marie schreckte aus ihren Fantasien hoch, während Sabine sie fragend ansah. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie Stefano auf einem Spaziergang begegnete, sein Blick voller Reue, seine Stimme zögernd, aber ehrlich. Doch die vertrauten Bilder wichen jäh der Realität, als Sabines Frage sie ins Hier und Jetzt riss.
»Was?«
»Ob Stefano sich bei dir gemeldet hat?«
Marie verzog ihre Miene zu einem abfälligen Lächeln, bevor sie den Kopf schüttelte.
»Und du dich auch nicht?«, fragte Sabine weiter.
»Sabsi, ich laufe Stefano nicht ewig hinterher. Außerdem glaube ich, dass der Grund für seinen ewigen Rückzug weniger mit mir zu tun hat.«
Sabine horchte auf. »Wie meinst du das?«
»Ich denke, dass es da eine andere gibt!«
Sabine schluckte und starrte Marie mit großen Augen an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ach, ich weiß nicht. Es ist nur ein Gefühl… aber ist ja auch egal.«
»Nein, ist es nicht!«
Marie zog die Brauen zusammen und schaute verwundert zu Sabine, die stammelnd zu erzählen begann.
»Ich glaube, ich muss dir was beichten, Marie. Ich habe…« Sie schluckte wieder. »Du weißt doch, damals, als Stefano und du den großen Streit hattet, da kam er abends zu mir.«
»Bitte was?«
»Hör zu…«, wehrte Sabine beschwichtigend ab. »… Ich dachte, ich könnte euch helfen, wenn ich mit Stefano rede. Also ließ ich ihn herein. Alles, was er über eure Beziehung erzählte, klang so hoffnungslos… Wir tranken Wein, und dann… ist es schließlich passiert… Seit diesem Abend war er öfter da.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«
»Marie, glaub mir, ich dachte, er hätte es dir gesagt und so klare Verhältnisse geschaffen. Schließlich hat er ja auch die ganzen Sachen von dir weggebracht.«
»Er hat… was?«
»Ja, die Bilder, die Bücher, all die Sachen, die du ihm geschenkt hast.«
»Die Bücher auch?«
»Ja. Er hat sie letzte Woche dem alten Trödler verkauft…«
Marie nahm wortlos ihre Tasche und kramte einen Geldschein aus der Börse, den sie auf den Tisch legte. Während sie aufstand, zog ein Sturm von Gefühlen durch sie hindurch – Wut, Enttäuschung, aber auch eine unbändige Entschlossenheit, sich nicht erneut verletzen zu lassen. Ohne Sabine eines Blickes zu würdigen, ging sie schnellen Schrittes zur Tür hinaus, ihre Finger fest um den Trageriemen der Tasche gekrallt, als wäre diese der einzige Anker in ihrem Chaos.
»Jetzt warte doch, Marie…«
Weder der flehende Blick von Sabine noch ihr Rufen konnten Marie dazu bewegen, sich umzudrehen.
*
»Und Sie wissen nicht, wie der Mann hieß, der Ihnen das Buch verkauft hat, Herr Grasser?«, sagte Andreas, der nach Feierabend noch einmal in das Buchantiquariat gegangen war.
Der Händler schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Martens. Ich weiß nur noch, dass es ein südländischer Typ war, gut gekleidet und groß. Er hatte es ziemlich eilig.« Grasser zeigte auf eine schmutzige Obstkiste. »Er brachte diese Kiste und konnte es kaum erwarten, wieder zu gehen.«
Andreas schaute resigniert auf die verstaubten Bücher und grübelte nach.
»Ich möchte die ganze Kiste kaufen!« hörte er sich plötzlich sagen.
»So wie sie dasteht? Die Bücher müssten erst mal ein wenig sauber gemacht werden. Ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit…«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Herr Grasser, darum kümmere ich mich schon.«
Eine schlanke junge Dame in dunkelblauem Kostüm betrat den Laden, ihre Bewegungen anmutig und zielgerichtet. Ihr Blick wanderte aufmerksam durch den Raum, während eine dezente Perlenkette an ihrem Hals im Licht schimmerte. Als Andreas die Kiste hinaustragen wollte, hielt sie ihm mit einem freundlichen Lächeln die Tür auf. Sie hielt ihm die Tür auf, und Andreas bedankte sich mit einem kurzen Lächeln. Erst als die Tür sich wieder geschlossen hatte, dämmerte es Marie, was ihr an dem adretten jungen Mann aufgefallen war. Aufgeregt stürzte sie aus dem Laden.
»Halt! Warten Sie…«
Andreas, der die Straße schon halb überquert hatte, drehte sich verwundert um und lief zurück.
»Wo wollen Sie mit der Kiste hin?«, fragte Marie mit zitternder Stimme.
»Wieso? Ich habe sie gerade gekauft!«
»Aber die gehören mir! Hören Sie, es war ein Versehen. Die Bücher sollten nie verkauft werden. Kann ich…« Sie kramte nach der Geldbörse in ihrer Handtasche. »Kann ich sie zurückkaufen? Ich weiß nicht, was Sie dafür bezahlt haben, aber ich zahle Ihnen das Doppelte… Nein, das Dreifache. Es sind Erinnerungsstücke!«
Andreas stellte die Kiste ab und lächelte.
»Sie sind Marie!«
»Was? Aber woher wissen Sie…«
»Ich habe die Kiste vorsorglich gekauft, damit die Bücher beisammen bleiben. Sie gehört Ihnen. Ich will nichts dafür.«
Das hatte gewirkt. Marie, vor Überraschung sprachlos, strich sich mit den Fingern durchs Haar.
»Also, ich hab ja alles erwartet, aber das…?«
»Ich glaube, dieses hier dürfte Ihnen besonders am Herzen liegen.«
Er zog den Gedichtband aus der Innentasche seines Jacketts und hielt ihn ihr hin. Während er es tat, spürte er ein seltsames Kribbeln in den Fingern – ein unbestimmtes Gefühl von Erwartung und Nervosität. In seinen Gedanken malte er sich aus, wie dieser einfache Akt der Rückgabe vielleicht der Beginn eines neuen Kapitels in seinem Leben sein könnte. Sie nahm das Buch wortlos und strich mit ihren schlanken Fingern darüber.
»Jetzt verstehe ich…«, murmelte sie lächelnd. »Sie haben die Widmung gelesen.«
»Hören Sie, ich… ich möchte nicht aufdringlich sein. Das mit den Büchern habe ich gern getan«, stammelte Andreas verlegen. »Ich würde Sie gern näher kennenlernen. Wie wäre es, wenn wir vielleicht irgendwann eine Tasse Kaffee zusammen trinken?«
»Tut mir leid, aber… ich möchte das nicht. Ich… möchte jetzt lieber nach Hause gehen.«
»Aber…«
»Hören Sie! Das mit den Büchern war wirklich reizend, aber ich bin wirklich nicht in der Verfassung, um neue Bekanntschaften zu machen. Bitte, haben Sie dafür Verständnis«, sagte sie und ließ ihn wie einen begossenen Pudel stehen. Eilig trug sie die Kiste zu ihrem Wagen und lud sie in den Kofferraum. Verärgert sah Andreas dem davonbrausenden Renault nach.
Das war das letzte Mal, dass ich auf meine dämlichen Träume gehört habe, dachte Andreas. Der Gedanke an die Frau mit der Waage blitzte kurz auf: ihre verbundenen Augen, die flüsternden Wände, die drängenden Münzen. Die Erinnerung ließ ihn frösteln. Ich muss verrückt gewesen sein. Komplett verrückt!
Als er dann schließlich den Streifenpolizisten an seinem Wagen erblickte, war Andreas bereit, seinem Ärger freien Lauf zu lassen. Der Beamte – nein, die Beamtin – hatte gerade den Strafzettel geschrieben und war dabei, ihn unter einen der Scheibenwischer zu klemmen. Ihr zu einem Zopf geflochtenes braunes Haar passte zu ihrer Uniform. Andreas stapfte auf sie zu, doch noch bevor er den Mund öffnen konnte, hob sie den Kopf.
»Ach… Sie sind wohl der Besitzer dieses Wagens?«, fragte sie knapp und nahm den Strafzettel wieder von der Windschutzscheibe.
»Ja, genau, aber ich bin erst vor fünf Minuten hier angekommen!«, erwiderte Andreas gereizt.
»Fünf Minuten? Das ist ja fast Rekord«, sagte sie trocken, blickte ihn dann aber doch mit stahlblauen Augen direkt an. Andreas blieb das Herz stehen. Diese Augen… Es war, als hätten sie eine Brücke in eine vergessene Erinnerung geschlagen. Ein flüchtiger Moment in einem Traum, das Flackern eines unbestimmten Gefühls von Nähe und Schicksal. Er spürte eine Gänsehaut aufsteigen, während sein Verstand verzweifelt nach einer Erklärung suchte.
»Sehen Sie die Parkuhr dort drüben?« Ihre Stimme holte ihn zurück in die Realität.
Andreas nickte.
»Dreißig Pfennig hätten gereicht, um das hier zu vermeiden. Drei kleine Münzen. Jetzt sind es zehn Mark.« Sie hielt ihm den Strafzettel hin, als wäre damit alles erledigt.
»Kennen wir uns?« fragte Andreas kleinlaut.
Die Polizistin zog eine Braue hoch.
»Was soll das jetzt?«
»Entschuldigung. Das klingt jetzt verrückt, aber… ich habe von Ihnen geträumt.« Seine Stimme zitterte leicht, eine Mischung aus Unsicherheit und einem seltsamen Funken Hoffnung. Er wusste, dass das, was er sagte, absurd klang, aber etwas in ihm drängte ihn, diesen Moment festzuhalten, bevor er wieder entglitt.
Sie sah ihn einen Moment lang schweigend an. Dann schüttelte sie leicht den Kopf. »Das ist neu. Die meisten kommen mir mit allen möglichen Ausreden, aber ein Traum? Das habe ich noch nicht gehört.«
»Es ist wahr!«, beharrte Andreas. »Sie hatten eine Waage in der Hand und… na ja, es ist schwer zu erklären, aber dieser Moment hier fühlt sich an wie Schicksal.«
Einen Augenblick lang sagte sie nichts, doch dann löste sich ihre Haltung. Der harte Ausdruck in ihrem Gesicht wich einem nachdenklichen Blick. »Schicksal, sagen Sie?«, murmelte sie.
»Ja. Es… klingt verrückt, aber ich würde es bereuen, wenn ich jetzt einfach gehen würde, ohne Sie besser kennenzulernen.«
Sie zögerte, sah ihn abschätzend an. Andreas wurde schwindlig. Er musste sich am Kotflügel seines Wagens abstützen.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte die Polizistin und trat besorgt näher. Als sie nach seinem Arm griff, um ihn zu stützen, spürte er eine seltsame Vertrautheit in ihrer Berührung.
»Die Waage…,« murmelte er, »Sie hatten eine Waage in der Hand.«
Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Was?« Dann stockte sie und starrte ihn an.
»Ich heiße Andreas«, sagte er, während er ihre Hand ergriff. Ein Funken Hoffnung flackerte in seinem Inneren auf. »Danke, es geht schon wieder.« Sie ließ von ihm ab und trat einen Schritt zurück.
»Okay, Andreas«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Sind Sie sicher?«
»Ja, absolut. Ich hab nur schlecht geschlafen. Der Traum…«
»Ach ja… Der Traum!« Sie lächelte wieder, aber diesmal war es nicht nur amüsiert. Etwas in ihrem Blick hatte sich verändert.
»Sie glauben, ich hab sie nicht alle. Oder?«
»Vielleicht«, sagte sie leise, bevor sie hinzufügte: »Oder vielleicht kommt mir das alles einfach seltsam vertraut vor.«
Andreas runzelte die Stirn. »Vertraut? Wie meinen Sie das?«
Sie sah ihn an, diesmal länger, mit einem Ausdruck, den er nicht ganz deuten konnte. »Es ist verrückt, aber… ich habe genau diese Szene geträumt. Ich habe geträumt, wie ein Mann wie Sie hier vor mir steht, über Schicksal spricht und mich bittet, ihn kennenzulernen. Und genau wie jetzt habe ich ihn natürlich abgewiesen. Ich hatte eine Waage in der Hand und in einer der Schalen lagen drei Münzen.«
Andreas’ Herz begann schneller zu schlagen. »Und… wie endete der Traum?«
Sie schüttelte den Kopf und lachte leise, als wollte sie die Absurdität ihrer eigenen Worte abwehren. »Das weiß ich nicht. Ich bin vorher aufgewacht.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr.
»Ich heiße Ursula«, sagte sie und wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Ein seltsames Gefühl von Verwirrung und Nervosität stieg in ihr auf, begleitet von einem Hauch Wärme, als ob ihre Worte eine tiefere Wahrheit verrieten, die sie selbst noch nicht ganz verstand.
Andreas lächelte, doch es war Ursula, die den Bann durchbrach. Sie trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und richtete ihre Haltung.
»Also gut Andreas«, sagte Ursula schließlich und zog einen Stift aus ihrer Uniformtasche. Sie hielt den Strafzettel in der Hand, während sie etwas darauf schrieb. »Der Strafzettel bleibt. Regeln sind Regeln.«
Andreas nickte, nicht sicher, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte. »Natürlich. Regeln sind Regeln.«
Sie reichte ihm den Strafzettel, und er nahm ihn entgegen. Doch als er einen flüchtigen Blick darauf warf, stockte sein Atem. Neben den üblichen Angaben und der Bußgeldsumme stand eine Nummer – ihre Telefonnummer.
Andreas starrte erst den Zettel, dann Ursula an. »Das… Das ist jetzt kein Witz, oder?«
»Nur, wenn Sie es zu einem machen«, antwortete sie und drehte sich um, um weiterzugehen. Über ihre Schulter rief sie zurück: »Ich erwarte, dass Sie den Strafzettel bezahlen. Und warten Sie nicht so lange mit dem Anruf! Ich bin neugierig.«
Andreas blieb zurück, den Strafzettel in der Hand, einem klopfenden Herzen und einem Lächeln auf den Lippen.
***
