…und zu Hause wartet Eva!

Konrad hockte ungeduldig in dem schummrigen Kämmerchen und versuchte, den Schweiß seiner zitternden Hände mit einem Taschentuch abzuwischen, mit dem er im stetigen Wechsel auch die Stirn abtupfte. In dem dämmrigen Licht tanzten Schatten an den Wänden, verschwammen vor seinen müden Augen zu bizarren Mustern. Seit Wochen hatte er nicht mehr richtig geschlafen, sah die Welt wie durch einen verschleierten Spiegel.
Es war das erste Mal, dass er eine Wahrsagerin konsultierte, wobei er selbst diese Titulierung gewählt hatte. Eigentlich bezeichnete Madame Tabatha sich selbst als eine Hexe. Eine jener angeblich so weisen Frauen, denen man im Mittelalter mit höchst unangenehmen Methoden den Garaus gemacht hatte. Konrad hatte darüber gelesen, aus rein geschichtlichem Interesse natürlich. Er glaubte nämlich nicht an Sachen wie schwarze Magie oder dass man den Leibhaftigen in der Walpurgisnacht an einer viergabeligen Waldkreuzung mit den Hexen tanzen sehen konnte.
Hexen? Teufel? Absoluter Blödsinn!
Und dennoch fand sich Konrad in dem Domizil einer solch fadenscheinigen Person wieder, die angeblich die einzige zu sein schien, die ihm jetzt noch das Leben retten konnte. Ihm, der normalerweise übernatürlichen Mumpitz beiläufig lächelnd beiseite geschoben hatte, wann immer so etwas in seinem Bekanntenkreis zur Sprache gekommen war. Die Adresse hatte er von seiner Schwägerin Ingrid bekommen, mit der er sich immer über dieses Zeug gestritten hatte.
Ingrid hatte sich immer wunderbar in solche Diskussionen hineinsteigern können. Konrad hatte sich oft auch einen Spaß daraus gemacht, sie durch die eine oder andere Bemerkung anzustacheln. Ja, er konnte dabei einen ungeahnten Einfallsreichtum entwickeln, auch wenn er sonst ein sehr nüchterner und rationaler Mensch war. Einer, der die Welt durch die klare Linse der Logik betrachtete – zumindest bis vor einem Jahr.
»Natürlich glaube ich, dass es richtige Hexen gibt. Und zwar seit Frau Stadelmann unsere Vermieterin ist! Sie hat meine letzten Zweifel restlos beseitigt!«
Konrad hatte den Ärger in Ingrids Augen blitzen sehen können. Augen, die sich zu schmalen Schlitzen formten, während der Rest am Tisch sich halbtot lachte. Meistens versuchte er sie dann immer zu besänftigen, indem er die Diskussion auf einen ernsthaften Level brachte. Damit begann, vernünftige Argumente mit naturwissenschaftlichen Tatsachen zu untermauern und es immerhin schaffte, dass sich Ingrid zumindest als gleichberechtigte Gesprächspartnerin wieder akzeptiert fühlte und nicht mehr allzu böse auf ihn war.
Im Nachhinein hatte sich diese Taktik bezahlt gemacht, denn Ingrid war die einzige Person aus der Familie, die nach dieser leidigen Geschichte noch mit ihm redete. Die sich Zeit für ihn nahm und ihm zu glauben schien, wie leid ihm das alles jetzt tat. Als sie ihm den Tipp mit der Wahrsagerin … schlimmer noch … mit der Hexe gegeben hatte, war er es, der sich erst mal ziemlich verarscht fühlte. Doch sie schien das wirklich ernst gemeint zu haben, denn sie drängte ihn regelrecht, so als wolle sie ihm wirklich helfen. Auch wenn Konrad dem ganzen Theater nicht recht traute …
»So etwas ist doch Aberglaube … So etwas kann es doch nicht geben!«
»Doch! So etwas gibt es! Gehe am Jahrestag deines Fehltritts zu Madame Tabatha. Sie kann dir helfen. Aber nur an diesem einen Tag.«
Er hatte im Laufe des letzten Jahres um die zwölf Kilo abgenommen. Seine Anzüge hingen an ihm wie Segel an einem Schiff auf See, das verzweifelt auf eine Brise wartet. In der Firma hatte man schon angefangen, darüber zu tuscheln. Die völlig Naiven sprachen ihn auf sein Geheimrezept an, und ob diese Diät schwer durchzuhalten sei. Die ganz Gemeinen vermuteten, dass Konrad sich mit AIDS infiziert hatte und die Krankheit jetzt ausgebrochen sei. Ihre Blicke folgten ihm durch die Gänge, beobachteten, analysierten – er fühlte sich wie ein Präparat unter dem Mikroskop.
Keiner wusste die Wahrheit. Dass er sich seit fast einem Jahr von billigem Dosenfraß ernährte. Die meiste Zeit verbrachte er ohnehin im Büro. Er hasste das möblierte Zimmer, in das er sich eingemietet hatte. Hasste dieses fette, nach Schweiß stinkende Schwein von nebenan, der seine Frau regelmäßig verdrosch, wenn er heimkam und die Welt nicht so war, wie sie ihm passte.
Dem läuft die Frau nicht davon, hatte Konrad gedacht. »Wenn es nicht so verdammt traurig wäre, käme es einem fast lächerlich vor.« Konrad hatte ein einziges Mal Mist gebaut, hatte in einem Anfall von hirnrissiger Ehrlichkeit seinen Fehltritt zugegeben, weil ihn sein kleiner anständiger Mann im Ohr zur Wahrheit gemahnt hatte. Und jetzt sollte er sein ganzes Leben lang dafür bezahlen, während die Frau von diesem Mistschwein nebenan ihrem Alten noch den Hintern abwischte, nachdem er sie halbtot geprügelt hatte. Konrad hatte sie schreien hören, wenn das Mistschwein sie schlug und schlug und schlug …
Jetzt saß Konrad hier in dieser Gespensterkammer und stellte in einem Anfall von Selbsthass fest, dass er ein Idiot war, wieder einmal im Begriff, sich lächerlich zu machen. Auch wegen der Furcht, die in ihm wuchs. Furcht vor dem, was ihn hier erwartete.
Die düstere Atmosphäre des Raumes, die Kristallkugel vor ihm auf dem Tisch, die mit orientalischen Teppichen und Tüchern behangenen Wände und die kleine schwarze Statue, die einen gehörnten Mann mit einem Dreizack in der Hand darstellte, halfen ihm nicht gerade dabei, sich zu beruhigen. Er blinzelte mehrmals, versuchte, die Konturen schärfer zu sehen, doch die Schatten schienen ein Eigenleben zu entwickeln.
Dabei hätte ihm die ganze Szenerie früher vermutlich nur ein müdes Lächeln entlockt. Doch diese Art von rationaler Stärke war Konrad so fremd geworden wie alles andere in seinem Leben. So vieles hatte sich verändert, seit Eva und die Kinder nicht mehr da waren.
Irgendwo glomm ein Räucherstäbchen, das die Luft mit einem seltsam schweren Geruch schwängerte, der in Konrads Nase brannte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas Vergleichbares gerochen zu haben und fragte sich, ob dem Rauch womöglich eine Droge beigemischt worden war, um das Opfer der Hexe gläubig und gefügig zu machen. Um die Bereitschaft des Kunden sicherzustellen, einen Wucherpreis für ein klein wenig Hokuspokus zu bezahlen.
Plötzlich raschelte es hinter einem der Vorhänge. Der schemenhafte Schatten einer gedrungenen Gestalt wurde von fahlem Licht gegen das Tuch geworfen, das nun ein paar knochige Finger beiseite schoben. Konrad blinzelte angestrengt, versuchte, die Gestalt klar zu erkennen, doch der schwere Dunst im Raum ließ alles wie durch einen Schleier erscheinen.
Eine bucklige Alte mit einer von Falten zerfurchten Haut betrat den Raum. Ihr graues, schütteres Haar hatte sie straff nach hinten gekämmt und dort zu einem fasrigen Knoten gebunden. Wortlos schlurfte sie zu dem leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und ließ sich dort nieder. Jetzt erst bemerkte Konrad, dass die Alte über ihrem rechten Auge eine schwarze Kappe trug. Das Band, von dem sie gehalten wurde, hatte Konrad zuerst für das Band eines Haarnetzes gehalten.
Für einen flüchtigen Moment meinte er, unter der Kappe ein Aufblitzen zu sehen – wie das Glitzern einer Spiegelung. Doch der Eindruck verflog so schnell wie er gekommen war.
»Sie sind das erste Mal bei einer Dienerin des Alten Pfades?«, fragte sie mit heiser Stimme.
Konrad kannte diese Bezeichnung nicht, dachte sich aber, dass sie damit eine Zauberin, eine Hexe meinte.
»Ja.«
»Ich sehe es«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln, das ihre gelben Zähne entblößte. »Ich sehe mehr, als die meisten Menschen wahrhaben wollen«, sagte sie und nahm mit ihren knochigen Spinnenfingern die Karten. Sie deckte die erste Karte auf und legte sie vor Konrad auf den Tisch. Darauf erkannte er eine Figur, die kopfüber an einem Galgen hing.
»Der Gehängte!«, stellte die Alte fest und legte die Karten beiseite. »Sie werden ein Opfer bringen müssen.«
Konrad reagierte prompt, ließ das Taschentuch verschwinden und fingerte nach der Brieftasche in seiner Gesäßtasche. Seine Bereitschaft, einen hohen Preis zu zahlen, war ganz plötzlich immens geworden.
»Ja … Natürlich. Was kostet diese Sitzung?«
Die Alte winkte mit einem gurrenden Laut und abwehrendem Streich ihrer Rechten ab.
»So einfach wird es nicht sein, mein Lieber. Verletzte Frauenherzen sind nicht leicht zu betören. Wird wohl mehr kosten, als nur ein bisschen Geld. Der wahre Preis hat einen inneren Wert.«
Konrad glotzte verständnislos in die grinsende Fratze der Alten und fragte sich, ob sie als Nächstes seine Seele verlangte. Auf alle Fälle schien sie ihr Geld wert zu sein, sonst hätte sie wohl kaum erraten, dass es um eine Frau, um seine Frau, ging. Oder meinte sie etwa ihr eigenes Herz, das Konrad betören sollte? Er fühlte sich konfus und verglich sich mit Faust, der sich im Begriff befand, einen tödlichen Vertrag mit Mephisto abzuschließen.
Wieder meinte er, unter der Augenklappe ein Glitzern wahrzunehmen – wie das Funkeln eines geschliffenen Kristalls.
»Was wollen Sie von mir?«
»Oh, gar nichts … Ich will nur ihr Bestes, mein Lieber … Nur ihr Bestes. Woll‘n mal sehen«, krächzte sie und nahm die Augenklappe ab.
»Erschrecken Sie nicht«, sagte die Alte grinsend und konnte den schauerlichen Effekt kaum abschwächen, denn dort, wo früher einmal ein Auge gewesen sein mochte, war ein milchiges Ei zum Vorschein gekommen, auf das Konrad nun voller Entsetzen starrte.
»Die Folge eines dummen Unfalls vor ungefähr hundert Jahren«, sagte die Alte und stieß ein kehliges Lachen aus. »Ja, ja … manchmal brennt einem die Wahrheit die Augen aus. Es war bei einer Seance am Hofe des Zaren … Ich hab es in dieser Nacht wohl ein bisschen übertrieben«, krächzte die Alte und legte ihre dünnen Spinnenfinger auf die Kristallkugel.
Eine spannungsgeladene Stille schwoll im Raum an. Konrad zitterte wie Espenlaub. Er starrte unablässig auf das glibberige Ei in der Augenhöhle der Hexe, das, während sie sich auf die Kugel konzentrierte, beinahe zu leuchten schien. Ihr anderes, normales Auge war grau, schien aber intakt.
Der schwere Duft des Räucherstäbchens wurde intensiver, füllte seine Lungen, machte seinen Kopf schwer. Die orientalischen Teppiche an den Wänden begannen sich zu bewegen, ihre Muster flossen ineinander wie Tinte im Wasser.
»Ich sehe eine Frau …«, sagte die Hexe, »eine schöne Frau. Sie stand Ihnen sehr nahe, aber jetzt ist sie sehr weit weg. Sie … traf vor einiger Zeit eine Entscheidung, die Sie sehr verletzt hat. Hmm … Sie haben diese Frau ebenfalls verletzt. Es gab Streit. Sehr viel Streit …«
Und je mehr sie erkannte, je länger sie ihm aus Konrads Vergangenheit erzählte, desto schwerer fiel es ihm, seine Tränen zurückzuhalten. Er kramte das Taschentuch wieder hervor und wischte sich seine Trauer von den Wangen.
»Ich sehe Tod!«, sagte die Alte. Konrad erschrak wieder und starrte fassungslos in das milchige Etwas, das tatsächlich einmal ein Auge gewesen sein mochte, und an dessen Anblick er sich einfach nicht gewöhnen konnte.
»Aber nicht den Tod eines Menschen. Der Tod einer Liebe … Wann hat Ihre Frau Sie verlassen?«
»Vor genau einem Jahr«, sagte Konrad und ließ den Kopf sinken.
»Warum hat sie Sie verlassen?«
»Es war wegen … Ich hatte ein Verhältnis … Mit einer Kollegin.«
»Ich sehe aber keine andere Frau in Ihrem Leben?«, fragte sie, als wolle sie ihn prüfen.
»Es war eine belanglose Geschichte. Es passierte nur einmal … Nur ein einziges Mal.«
Der schwere Duft des Räucherstäbchens schien jetzt überall zu sein. Die Konturen des Raumes begannen zu verschwimmen, die Muster der Teppiche tanzten vor seinen Augen.
»Nichts ist belanglos, was die Liebe betrifft«, sagte die Alte und setzte ihre Augenklappe wieder auf.
»Ich weiß es ja … Es hätte nicht passieren dürfen. Niemals hätte es das. Ich bereue es ja. Und ich hab es meiner Frau gesagt, weil ich so ein schlechtes Gewissen hatte.«
»Und jetzt möchten Sie sie zurückgewinnen?«
»Ja, wenn das ginge … Wenn es eine Möglichkeit gäbe. Einen Trank, ein Amulett oder irgendetwas, was sie mir zurückbringen würde?«
»So einfach ist das nicht, mein Lieber. Es sei denn, Sie brächten ein Opfer, das …«
»Jedes! Jedes Opfer wäre mir recht, wenn es Eva nur zu mir zurückbringt!«
»Sie werden noch einmal in der Zeit zurückgehen müssen. Sie werden noch einmal vor die Wahl gestellt sein. Und dann wird sich zeigen, ob es eine zweite Chance geben wird.«
Er hörte ihre Worte wie das weit entfernte Dröhnen eines Nebelhorns. Die Wände des Raumes schienen zu atmen, sich zu dehnen und wieder zusammenzuziehen. Der Geruch des Räucherstäbchens wurde übermächtig, füllte seine Lungen wie dickflüssiger Honig.
Die Konturen des Raumes begannen zu zerfließen. Der orientalische Teppich an der Wand formte neue Strukturen, wurde zu den vertrauten Umrissen seines Büros. Das gedämpfte Licht der Kristallkugel verwandelte sich unmerklich in das grelle Neonlicht der Bürobeleuchtung.
War es Einbildung, oder konnte er in dem verblassenden Gesicht der Alten für einen Moment Claudias Züge erkennen?
Dann war die Verwandlung vollzogen. Dort, wo vor Sekunden noch die Hexe gesessen hatte, saß Claudia, seine ehemalige Sekretärin, und lächelte ihn an. Es war der Nachmittag des Vorfalls. Der alles entscheidende Nachmittag. Er hatte sie nur gefragt, wie es geht. Im Hinterkopf der Wunsch, dass sich jemand auch nach ihm erkundigte. Sie hatten sich nur unterhalten. Über belangloses Zeug. Er wusste nicht, wie lange, aber es schien eine kleine Ewigkeit gewesen zu sein. Dann nahm das Gespräch eine unerwartete Wendung …
»Ich dachte nicht, dass Sie das interessieren würde«, sagte sie leise. »All die Monate … unsere kleinen Gespräche in der Kaffeepause, die Blicke …« Sie lächelte, fast schüchtern. »Ich habe gesehen, wie Sie sich verändert haben. Wie Sie morgens immer häufiger mit dieser Müdigkeit kamen, dieser Resignation.«
»Sie haben das bemerkt?«, fragte Konrad, und es tat gut, dass sie es bemerkt hatte.
Sie stand auf und trat näher, aber nicht verführerisch, sondern zögernd. »Man merkt, wenn jemand … einsam ist. Auch wenn er verheiratet ist. Vielleicht gerade dann.«
Ihre Verletzlichkeit war echt – die einer Frau, die sich nach echtem Kontakt sehnte. Gleichzeitig sah sie ihre Chance: Ein Mann wie Konrad – verlässlich, anständig, erfolgreich – könnte ihr die Sicherheit geben, nach der sie sich sehnte.
»Wir müssen nichts überstürzen«, sagte sie. »Aber ich bin da. Für Sie. Nicht als Sekretärin …«
Sie machte eine Pause und senkte den Kopf.
»Man verstummt mit der Zeit«, fuhr sie fort, während sie sich auf die Kante seines Schreibtisches setzte. Diesmal nicht aufreizend, sondern nachdenklich. »Erst sind es nur die kleinen Dinge – dass man morgens nicht mehr ›Guten Morgen‹ sagt. Dann werden die Gespräche kürzer, oberflächlicher. Und irgendwann sitzt man abends allein zu Hause und fragt sich, wann man aufgehört hat, wirklich zu leben.«
Sie sah ihn an, direkt und ehrlich. »Ich habe gesehen, wie Sie in den letzten Monaten immer stiller wurden. Wie Sie länger im Büro blieben, nur um nicht nach Hause zu müssen. Man erkennt diese Zeichen, wenn man sie selbst kennt.«
Ihre Hand berührte sanft seinen Arm. Eine beiläufige Geste, die mehr von Verständnis sprach als von Verführung. »Wir könnten uns gegenseitig wieder lebendig fühlen lassen. Nichts Großes, nichts Dramatisches. Einfach … zwei Menschen, die sich verstehen.«
Langsam ließ sie ihre Finger über seinen Arm gleiten. »Wissen Sie, was das Schlimmste an der Einsamkeit ist? Nicht das Alleinsein. Es ist dieses Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Als wäre man unsichtbar.«
Sie rutschte näher. »Aber Sie haben mich gesehen. All die kleinen Momente – wenn ich Ihnen morgens den Kaffee brachte, wenn wir über die unfähigen Kollegen lästerten …« Sie lachte leise. »Sie haben sogar bemerkt, dass ich letzte Woche beim Friseur war. Ihre Frau … bemerkt sie noch solche Dinge?«
Konrad spürte, wie ihr Duft ihn einhüllte. Nicht aufdringlich, aber vertraut. Wie oft hatte er diesen Duft in den letzten Monaten wahrgenommen, wenn sie sich über Akten beugten, wenn ihre Schultern sich zufällig berührten.
»Nur einmal«, flüsterte sie. »Nur einmal möchte ich wieder spüren, dass ich … wichtig bin.«
Sie ließ ihre Hand auf seiner Schulter ruhen, spürte die Spannung in seinen Muskeln. Ihre Finger begannen sachte, kreisende Bewegungen.
Konrad schluckte. Die sanften Berührungen waren gefährlicher als jeder offene Verführungsversuch. Sie sprachen von Vertrautheit, von stillem Einverständnis.
»Wissen Sie noch, letzte Woche?«, Ihre Stimme wurde weicher. »Als Sie so spät noch im Büro waren. Sie saßen hier, mit diesem verlorenen Blick. Ich habe uns Kaffee geholt, und wir haben einfach … geredet. Über nichts Besonderes. Aber es fühlte sich richtig an.«
Sie rutschte näher, ihre Wärme deutlich spürbar. »Es muss nicht kompliziert sein. Manchmal braucht man nur jemanden, der einen wirklich sieht. Der einen versteht. Manchmal denke ich«, ihre Stimme wurde noch leiser, »dass wir uns ähnlicher sind, als Sie glauben. Beide gefangen in Erwartungen. Sie der erfolgreiche Geschäftsmann, ich die attraktive Sekretärin …« Sie lächelte selbstironisch. »Wann haben Sie das letzte Mal etwas nur für sich getan? Etwas, das Sie wirklich wollten?«
Ihre Hand wanderte zu seinem Nacken, streichelte sanft die verspannten Muskeln. Konrad schloss unwillkürlich die Augen. Es fühlte sich zu gut an, zu richtig.
»Ich sehe doch, wie du mich manchmal ansiehst«, hauchte sie. »Wenn du denkst, ich merke es nicht. Mit dieser Sehnsucht … dieser Einsamkeit.« Sie beugte sich vor, ihr Atem streifte sein Ohr. »Du musst dich nicht schuldig fühlen, weil du etwas fühlst. Weil du etwas brauchst …«
Ihre Lippen streiften sein Ohr, als sie weitersprach. »Wir könnten uns beide etwas Gutes tun. Etwas, das nur uns gehört.«
Sie ließ sich auf seinen Schoß gleiten, aber nicht aufreizend wie eine billige Verführerin, sondern mit einer natürlichen Vertrautheit, als hätten sie das schon hundert Mal getan. Als wäre es der natürliche nächste Schritt in diesem langsamen Tanz, den sie seit Monaten aufführten.
»Ich weiß doch, dass du davon geträumt hast«, flüsterte sie, ihre Stimme warm und einladend. »So wie ich davon geträumt habe. Von deinen Händen …« Sie nahm seine Hand, führte sie zu ihrer Taille. »Von deinen Lippen …«
Konrad atmete schwer. Ihr Duft, ihre Wärme, die sanfte Intimität ihrer Berührungen – alles fühlte sich so richtig an. So unausweichlich.
»Lass es uns langsam angehen«, hauchte sie. »Heute Abend … wenn alle anderen weg sind. Nur du und ich …«
Plötzlich sah er in ihren Augen ein seltsames Glitzern – und für einen Moment war es nicht mehr Claudia, die auf seinem Schoß saß. Im Spiegel hinter ihr sah er sein eigenes Gesicht, gezeichnet von Einsamkeit und Verlangen. Und er sah Eva, wie sie zu Hause auf ihn wartete. Eva, die trotz aller Streitereien sein Anker war. Eva, die Mutter seiner Kinder.
»Nein!« Seine Stimme war heiser. »Nein, Claudia. Ich kann das nicht.«
»Aber du willst es«, flüsterte sie, ihre Lippen nur Millimeter von seinen entfernt. »Ich spüre es …«
Er schob sie sanft von sich. »Ja, ich will es. Gott weiß, ich will es. Aber manchmal ist das, was wir wollen, nicht das, was wir brauchen.«
Als er in ihre Augen sah, erschrak er. Das warme Braun war einem milchigen Weiß gewichen, und ihr verführerisches Lächeln wurde zu einem zahnlosen Grinsen.
»Du willst nicht?« Die Stimme war nicht mehr Claudias …
Der Raum begann sich zu drehen, Claudias Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Der vertraute Bürogeruch nach Kaffee und Papier wich dem schweren Dunst des Räucherstäbchens. Die Neonröhren an der Decke verschmolzen zu tanzenden Schatten.
»Nein … nein, ich will nicht!«
Seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren.
»Ich liebe meine Frau!«
Die Worte hallten durch den Raum wie ein Bekenntnis, wie ein Schwur. Die Konturen um ihn herum wirbelten schneller und schneller, bis alles in einer wirbelnden Dunkelheit versank. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinem rechten Auge, so intensiv, dass ihm schwarz vor Augen wurde.
Als die Welt aufhörte, sich zu drehen, saß er wieder in dem schummrigen Zimmer der Hexe. Aber etwas war anders. Neue Erinnerungen strömten auf ihn ein, überlagerten die alten, formten eine neue Wahrheit …
Ihm gegenüber saß die Hexe. Sie sah jünger aus … Seltsame Erinnerungen stiegen in ihm auf. Dinge, die er vergessen zu haben schien. Es war, als hätte er tatsächlich Nein zu Claudia Schuhmann gesagt. Er wusste aber auch, dass seine Sekretärin eine Woche später überstürzt gekündigt und mit einem Macho aus der Finanzbuchhaltung durchgebrannt war. Nachdem, was vorgefallen war, wollte sie nicht mehr, konnte sie nicht mehr als Konrads Assistentin arbeiten.
Es war, als habe er sich bei seiner Schwiegermutter für die Gewitterziege entschuldigt, als habe er seiner Schwägerin beigepflichtet, als diese gesagt hatte, dass man mit übernatürlichen Dingen nicht allzu fahrlässig umgehen dürfe, nur weil man sie nicht versteht. Es war, als erinnere er sich zum ersten Mal an all diese Dinge, doch diese waren wirklich geschehen. Dessen wurde er sich sicherer, je länger er in dem Kämmerchen saß.
Er saß da und starrte auf den Tisch. Dann sah er auf. Tabatha sah ihn mit zwei rehbraunen Augen an. Sie waren wunderschön.
»Wenn Sie jemand mit wirklich gesunden Nieren kennen, würde ich mich freuen, wenn ich dieser Person behilflich sein könnte«, sagte Tabatha, erhob sich und verließ langsam den Raum.
Er nahm die Augenklappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, und zog sie sich über das milchige Ei in seiner rechten Augenhöhle. Sein zweites Auge war grau. Und das war schon immer so gewesen. Soweit er sich daran erinnern konnte.
Er hatte seinen Preis bezahlt und machte sich auf den Heimweg.
Mit jedem Schritt wuchs in ihm die Gewissheit, dass Eva und den Kindern die Sache mit seinem Auge gar nichts ausmachen würde, weil es doch schon immer so gewesen war. Weswegen er Tabatha besucht hatte, wusste er gar nicht mehr. Aber er würde zu spät zum Essen kommen.
Er ging schneller. Er musste sich beeilen, weil er wusste, dass Eva und die Kinder zu Hause auf ihn warteten.

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