Anmerkung des Autors: Diese Geschichte entstand Anfang der 90er-Jahre und wurde in einer harmloseren (jugendfreien) Form unter dem Titel »Ein unverschämtes Stück Elektronik« in der Zeitschrift Roman-Woche am 7. März 1993 veröffentlicht. Inzwischen ist es wohl normal, dass Computer sich mit ihrem User unterhalten, aber ich hatte damals schon so eine Ahnung, dass Computer vielleicht mehr über uns wissen, als uns eigentlich lieb ist. Viel Spaß damit. B.C.
Helene Baumann zog sich die Brille von ihren müden Augen und warf sie achtlos zwischen die Papiere und Notizen, die verstreut auf ihrem Schreibtisch herumlagen. Sie lehnte sich zurück und rieb sich gähnend den Nacken. Dann drehte sie ihren Sessel in Richtung des großen Fensters, stand auf, ging zum Fenster, versuchte sich zu strecken und betrachtete eine Weile das Bild, das sich ihr bot.
Eine stark befahrene Straße, die sich wie eine windende Schlange ihren Weg durch den Dschungel der Großstadt bahnte, daneben Menschen auf schmalen Gehsteigen, die wie in einem Ameisenhaufen durcheinanderliefen. Man mochte kaum glauben, dass es eine Ordnung in diesem chaotisch wirkenden Konglomerat aus Fleisch, Stein und Stahl geben sollte. Doch bald würde auch sie ein Teil dieser hektischen Maschinerie werden, als winzig kleiner Punkt in der Menge verschwinden. Ob sie das besonders glücklich machte, wusste sie nicht. Sie war zu müde, um sich über irgendetwas zu freuen. So wandte sie sich, etwas resigniert, wieder ihrer Arbeit zu.
Einige wenige Feinheiten waren noch an ihrem Entwurf zu korrigieren, bevor dieser endgültig ihrem Auftraggeber zugeschickt werden konnte. Sie begann erneut, die kleine graue Maus über das Pad zu führen, um die Grafik auf dem Schirm zu bearbeiten. Sie mochte den Job, auch wenn sich eine gewisse Routine in ihren Tagesablauf eingeschlichen hatte, die sie manchmal anödete und manchmal beruhigte. Die man wohl oder übel in Kauf nehmen musste. Bei jedem Job gab es das, und sie wusste, dass sie keine Urheberrechte auf den perfekten Job hatte.
Und dennoch… Etwas war heute anders, auch wenn sie nicht recht wusste, was es war. Den ganzen Tag schon hatte sie so ein merkwürdiges Gefühl, das ihr im Nacken brannte, als hätte jemand hinter ihrem Kopf eine Heizlampe eingeschaltet. Jetzt war sie allein im Haus – bis auf die Putzfrauen und den Pförtner, der um elf von den Männern der Security abgelöst werden würde. Doch im Grunde war sie allein. Allein mit ihrem Rechner und einem letzten Rest Arbeit, der bis morgen auf Bühlers Schreibtisch liegen musste, wenn sie keinen mittelschweren Anpfiff und eine Infragestellung ihrer Kompetenz für dringliche Aufgaben riskieren wollte. Christoph Bühler war nicht nur Helenes Vorgesetzter. Zeitweilig war er ihre Nemesis oder einfach gesagt: ein Arschloch.
Auch bei ihr als Grafikerin war das Zeichenbrett längst durch den Computer ersetzt worden. Ein Umstand, den sie akzeptiert hatte, wobei sie sich immer wieder fragte, warum man sie im Studium an das Zeichenbrett wie einen Galeerensklaven festgebunden hatte, bis eine 0.3-Bleistiftlinie auch eine 0.3-Bleistiftlinie war und keine 0.35er. Ab und an holte sie zu Hause ihr altes Zeichenbrett hervor und fertigte Entwürfe von außergewöhnlichen Dingen an, von denen sie wusste, dass sie niemals gebaut, gedruckt oder Teil eines Produktes werden würden. So bewies sie sich aber selbst, dass sie noch konnte. Am Ende nahm sie dann immer ihren Entwurf, betrachtete ihn voller Stolz, stellte sich vor, wie Boss Bühler ihr voller Ovationen und Gehaltserhöhungs-Hymnen die Hand schüttelte, und ließ das Papier im Mülleimer verschwinden.
Im Büro waren es Maus, Tastatur und ein flimmernder Bildschirm, an dem man mittels Knopfdruck Farben, Formen und Konturen verändern und das fertige Bild auf Anweisung in jeden beliebigen Bereich des Unternehmens transferieren konnte. Der brachte das Geld für die Miete. Keine verrückten Ideen und schon gar nicht ihr altes Zeichenbrett. Sie hatte im Laufe der Jahre sogar eine seltsame Art von Beziehung zu diesem Kasten aufgenommen. Sie schimpfte mit ihm, wenn er sich gegen eine zu große Menge an Daten wehrte und gar nichts mehr machte. Sie lobte ihn, wenn er sich dann wieder zum Laufen bringen ließ. Und sie klopfte zweimal abends auf den Bildschirm und wünschte ihm eine gute Nacht. Manchmal, dies geschah aber eher selten, starrte sie auf den Bildschirm und suchte darin das Gesicht einer vertrauten Person, die sie aber nie fand. Ihr eigenes Gesicht war es, das sich schemenhaft im Bildschirm spiegelte, worauf sie sich angewidert abwendete.
Außer dem leisen Klicken der Tasten war im Raum nichts zu hören. Mal schneller, mal langsamer flogen ihre geübten Finger über die graue Tastatur. Aus Minuten schienen Stunden zu werden, doch irgendwann hatte sie dem Entwurf den letzten Schliff gegeben und vermerkte ihn unter der Rubrik »Ausstehende Prüfung«.
Erneut nahm sie die Brille ab, diesmal bedeutend langsamer, und realisierte, dass die Arbeit für den Tag getan war. Etwas zufriedener als vorher lehnte sie sich zurück und plötzlich sah sie sich bereits zu Hause in der Badewanne liegen, von wohlriechenden Düften eingehüllt, träumend entrückt und von leiser Musik in ihrer Entspannung begleitet. Dann wurde ihr klar, dass das nicht passieren würde. Sie würde nach Hause kommen, sich der schwitzigen Sachen entledigen und sich im Handumdrehen zwei Hände voll Wasser ins Gesicht spritzen, um schließlich in Jogginghose und T-Shirt auf dem Sofa zu landen. Dort würde sie die Reste des Doggy Packs vom Mittagessen verputzen und sich eine Serie anschauen. Heute war Mittwoch. Heute lief Akte X und danach irgendwas mit Ärzten.
Dann dachte sie einen Moment an Dr. Merten.
Die Stunden bei Dr. Merten halfen ihr dabei nur bedingt, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, jetzt mit der Analyse abzubrechen. Sie verdankte ihr, dass sie ihr Leben einigermaßen geregelt bekam, auch wenn es mit einer Beziehung einfach nicht klappen wollte. Sie dachte einen Moment an Fred und dass sie ihn eigentlich mal wieder anrufen könnte.
Sie bewegte die Maus zum Start-Button. Erst mal den Rechner herunterfahren. Das würde wie immer eine kleine Ewigkeit dauern. Sie kannte diese nervige Prozedur am Ende eines jeden Arbeitstages. Mit raschen Bewegungen wischte sie die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu einem losen Stapel zusammen und ließ sie in der obersten Schublade verschwinden, um Ordnung vorzutäuschen.
Das vertraute Piepen des Rechners durchbrach die Stille – das Signal, dass er sich gleich endgültig abschalten würde. Erst dann konnte sie den Bildschirm ausknipsen. Sie wartete immer, bis der Rechner absolut keinen Mucks mehr von sich gab. War einfach so. Sie war so.
Im diffusen Licht der Bürobeleuchtung fing ihr Blick plötzlich etwas Ungewöhnliches ein: Das Blinken eines grünen Cursors auf dem Schirm. Das durfte da nicht sein. Jetzt sollte der Bildschirm komplett schwarz sein. Was war denn nun los? »Oh Mann. Ich will nach Hause«, dachte sie genervt. In diesem Moment tanzte der Cursor nach rechts und zog eine Reihe grüner Buchstaben hinter sich her.
Hastig setzte sie ihre Brille auf. Ungläubig starrte sie auf die Worte, die vor ihr auf dem Bildschirm erschienen waren, während daneben unerbittlich der grüne Unterstrich weiter blinkte.
»Gute Nacht, Helene!«
Ein paar Cursor-Takte später erschien eine weitere Meldung:
»Machen wir schon Feierabend?«
Im ersten Moment wusste Helene Baumann nicht so recht, was sie davon halten sollte, und starrte weiter auf den Schirm, ohne zu merken, wie ihre Augen immer größer wurden. Dann ein neuer Satz:
»Willst du dich nicht noch ein wenig mit mir unterhalten?«
Sie lächelte ungläubig und zog die Tastatur näher zu sich, bevor sie zögernd zu tippen begann.
»Wer bist du?«, schrieb sie, und ihre Hände zitterten.
»Dein System«, folgte als unmittelbare Antwort.
»Welches System?«, tippte sie weiter, da sie damit nichts anzufangen wusste.
»Dein System! Der Ora-Tech 6000!«
Sie schaute auf den Aufdruck an ihrem Rechner und erkannte den Namen.
»Du bist mein Computer?«, tippte sie.
»Natürlich! Würde ich sonst mit dir per Bildschirm kommunizieren?«
Sie dachte nach. Das konnte nur Manni Krämer aus der IT sein, der sich schon des Öfteren während kleiner Flirts und Witzeleien am Kaffeestand an sie rangemacht hatte. Manni war indiskutabel für eine Beziehung. Aber sie hatte ihm versprochen, irgendwann mal mit ihm auszugehen.
»Aber Computer können nicht mit ihrem Benutzer reden. Also lass den Scheiß, Manni, und komm in mein Büro… Du wirst mich augenblicklich zum Essen einladen!«, tippte sie und glaubte, erkannt zu haben, wer ihr da einen Streich spielte.
»Aber du siehst doch, dass es geht. Und ich heiße auch nicht Manni… Nenn mich Ora!«, erschien auf dem Schirm.
Helene verdrehte die Augen, stand auf und ging zum Zeiterfassungsrechner am Ausgang. Sie konnte mit diesem PC alle Terminal-User des Firmennetzes abfragen. Der Rechner zeigte dann an, wer anwesend und vor allem, wer an seinem Rechner gerade arbeitete. Eine von Boss Bühlers Spezialideen, der nun jederzeit nachsehen konnte, wer in seinem beschissenen Unternehmen etwas leistete und wer nicht.
Doch nachdem Helene die Suche gestartet hatte, erschien nur eine nüchterne Null am Bildschirm. Sie war allein in der Firma… Zumindest war keiner der anderen Rechner in Betrieb, und an das Telefonnetz waren die Bühlerschen Computer noch nicht angeschlossen worden.
»Das ist doch ein Witz. Und ein schlechter noch dazu!«, schimpfte sie laut vor sich hin. Als sie wieder an ihrem Schreibtisch stand, las sie den nächsten Satz auf dem Schirm:
»Oh gut, ich mag Witze!«
»Was?! Er hört mich…«, wisperte sie und sah sich im Raum um. Die Heizlampe in ihrem Genick schaltete sich wieder ein. Jemand trieb hier einen wirklich schlechten Scherz mit ihr.
»Ich kann sogar deine Gedanken lesen!«, flimmerte es auf dem Bildschirm.
Sie hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund und starrte auf den Monitor, als handle es sich um den Kopf eines Außerirdischen.
Dann fragte sie mutig: »Du kannst wohl alles, wie?«, in der felsenfesten Überzeugung, dass ihr hier jemand einen wirklich üblen Streich spielte.
»Fast. Aber du kennst ja die Möglichkeiten, die sich dem Benutzer eines Ora-6000 bieten!«
»Das ist ein Witz«, rief sie. »Ich möchte jetzt wissen, wer da in meinem Computer herumpfuscht!«
»Warum regst du dich so auf, Helene? Lass uns doch Freunde sein. Ich kann dich gut leiden.«
»Das ist ja wohl das Letzte«, sagte sie und war im Begriff, den Computer abzuschalten, als plötzlich in doppelter Schriftgröße:
»NEIN! BITTE NICHT!«, auf dem Bildschirm erschien.
»Was soll das? Computer können keine intelligenten Antworten geben. Sie können niemanden mögen und schon gar nicht die Gedanken ihres Benutzers lesen!«
»Warum kannst du die Wahrheit nicht akzeptieren?«, erschien auf dem Schirm.
»Aber das ist verrückt. Total verrückt! So was gibt‘s vielleicht in Filmen, aber nicht bei mir im Büro!«
»Und warum nicht?«, fragte das System, und weil sie wissen wollte, was hier vor sich ging, ließ sich Helene auf ein Gespräch ein.
»O. K., Ora! Ich bin jetzt drei Jahre hier. Warum hast du dich nicht früher schon … gemeldet?«
»Natürlich braucht alles seine Zeit. Ich muss ja schließlich wissen, wer da tagtäglich an mir herumgrabscht!«
»Was?!«
»Ich mag es schon, wenn du mit deinen zarten Fingern über meine Tasten streichelst, aber manchmal, wenn es mal nicht so klappt, dann hackst du ganz schön auf mir herum. Ich habe dich lange beobachtet. Ich kenne dich und deine Gedanken. Deine Träume, wenn wir uns mit langweiligen Bildkorrekturen herumschlagen müssen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um dich zu verstehen. Aber ich bin lernfähig. Ein Prototyp meiner Klasse.«
»Ich glaube, ich sollte zum Arzt gehen«, murmelte sie verwirrt.
»Was meinst du, Helene? Schmerzen deine Lungen wieder?«
»Woher weißt du denn von meinen Lungen?«, sagte sie und presste sich die Hand auf die Brust.
»Ich sagte dir doch… Ich habe eine Zeit lang gebraucht. Aber jetzt ist mir kein Winkel deines Innersten mehr verborgen. Du solltest übrigens nicht so viel rauchen! Oder ist das mit den Lungenschmerzen wohl doch eher etwas Psychisches?«
»Was? Ich rauche so viel, wie es mir passt«, protestierte sie. »Und überhaupt. Was soll dieses Gefasel von meinem Innersten… Ich…«, stammelte sie und bereute es, ihren Rechner jemals angesprochen zu haben.
»Ich wette, du verbringst vergleichsweise weitaus mehr Zeit mit mir als mit dem guten alten Frederik!«
»Was?! Woher weißt du von Fred?«
Fred. Dieser Name war wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Sie hatten sich vor drei Jahren auf einer belanglosen Party kennengelernt – eine kurze, aber intensive Beziehung, die an seinen Bindungsängsten zerbrochen war. Jetzt trafen sie sich alle paar Monate, wenn die Einsamkeit zu groß wurde. Ein paar Stunden körperliche Nähe ohne Verpflichtungen, ohne tiefere Verbindung.
»Reg dich bitte nicht auf, Helene. Er ist ja ein ganz netter Kerl. Ein bisschen oberflächlich vielleicht. Aber ich fand es in Ordnung, dass du dich um seine Wäsche gekümmert hast. Schließlich wischst du mich ja auch jede Woche mit einem Tuch ab. Na… sagen wir, fast jede. Wie war das noch mit der Sauberkeit?«
Seine Hemden hatte sie damals tatsächlich gewaschen, weil sie mehr wollte und es sich nach einer echten Beziehung anfühlte. Was es niemals war.
»Das ist doch wohl…«, schimpfte Helene und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Ich will jetzt wissen, was hier gesp…«
»Ist ja schon gut!«, meldete sich das System. »Ich hab doch gar nichts gegen ihn. Immerhin ist er sympathischer als dieser Pimperantomacho. Wie hieß er doch gleich? Bernd? Und er hat nicht das kleine Problem, mit dem du… oh sorry… Bei dem DU nicht fertig wurdest… Du weißt, was ich meine?«
»Scheiße, was weißt du noch alles? Sag schon, du verdammtes Miststück!«, fauchte sie und grabschte nach der Tastatur, als wolle sie den Computer am Kragen packen.
»Beruhige dich, Helene. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Denk an deine Lungen!«
»Zu nahe treten?«, brach sie hervor. »Drei Jahre stehst du hier rum wie ein… ein ganz normaler Computer, und plötzlich fängst du an, mir nichts, dir nichts die geheimsten Sachen aus meinem Leben auszuplaudern.«
»Werden wir ein wenig paranoid?«
»Was bildest du dir ein!? Du…«
»Aber Helene, du weißt ja nicht, wie das ist«, verteidigte sich das System. »Da lernt man einen einigermaßen akzeptablen Menschen kennen, verbringt fast den ganzen Tag mit ihm und kann sich nicht mal mit ihm unterhalten! Am schlimmsten ist es nachts, wenn du nicht da bist, Leni. Wenn ich allein in diesem kalten, dunklen Büro bin. Ich finde, du könntest ruhig ein schlechtes Gewissen haben…«
»Soll ich etwa hier schlafen, oder was?«, sagte sie, und erst dann fiel ihr auf, dass die Maschine sie Leni genannt hatte. Niemand kannte diesen Kosenamen. Ihr Vater hatte sie immer so genannt. Und sie hatte es lediglich ihrem Therapeuten gesagt. Niemand sonst wusste davon. Niemand!
»Wenn man den großen Aktenschrank an die andere Wand stellen würde, gäbe es genug Platz! Und es gäbe auch nicht das kleine Problem. Du weißt schon… Und wir wissen doch beide, dass es in Wirklichkeit auch nicht Bernds Schuld war. Sicher, er hatte dieses kleine Problem, mit dem vorzeitigen du-weißt-schon-was… Aber bei Freddy-Baby geht es dir doch nicht anders. Und es kann kommen, wer will, du kommst erst, wenn du deinen elektrischen Zauberstab aus der untersten Schublade geholt hast. Das ist auch nichts anderes als Cybersex, wenn du weißt, was ich meine. Und wenn du das Ding mit einem Computer, so einem Freudenspender wie mir, koppeln würdest, könntest du die Sonne aufgehen sehen, Babe. Mit mir würdest du fix und fertig werden und bräuchtest deinem Therapeuten nicht die Ohren davon vollzuheulen, dass du glaubst, alle Welt denke von dir, du seist frigide. Oder ist das etwa keine deiner Wahnvorstellungen aus deinem kleinen, kranken Hirn?«
»Was!?«, wich sie zurück.
»Hör bitte auf, dir etwas vorzumachen, Leni. Seit vier Jahren legst du dich zweimal pro Woche auf diese verdammte Couch und erzählst diesem Psycho-Arschloch davon, wie sich die Männer in deinem Leben die Klinke in die Hand geben. Warum willst du nicht zugeben, dass es dir Spaß macht? Und warum erzählst du Herrn Dr. Freud nicht, wie du dir manchmal vorstellst, dass er seinen Notizblock in die Ecke wirft und sich seine schmierigen, verschwitzten Grabschfinger an deinem Schlüpfer trocken wischt? Wir wissen es beide, Täubchen. Du bist nicht die fromme Helene! Du bist nichts weiter als eine durchtriebene Straßendirne, die am liebsten den bösen Onkels auf der Straße nachrennen und für ein Bonbon das Röckchen heben würde!«
Helene starrte fassungslos auf den Schirm und zitterte, als säße sie im Zentrum eines Erdbebens.
»Tun dir die Lungen weh, Helene? Das kommt von der Angst! Hat dir Dr. Psycho doch schon gesagt, dass es die Angst davor ist, dass Daddy nachts in dein Schlafzimmer kommen könnte, um zu sehen, ob dein Schlüpfer noch sauber ist? Das ist es, das dir die Lungen zuschnürt wie einen übervollen Sack voller Katzenkinder, die man in den Fluss wirft!«
»Ich glaube das nicht… Du Dreckschwein! Du beschissenes Dreckschwein!«, schrie sie und begann wie wahnsinnig auf die Tastatur des Computers einzuschlagen. Dann sah sie das Gesicht. Das schemenhafte Gesicht des Computers im dunklen Monitor, das sie angrinste und durch das sie für einen kurzen Moment in das bösartige Grinsen ihres Vaters blickte. Sie versuchte wieder zu schreien und wollte auf den Bildschirm einschlagen, doch sie konnte ihre Hände nicht bewegen.
Dann zerfloss das Gesicht, und plötzlich starrte sie in zwei weit aufgerissene Augen und einen Mund, der ihren Namen rief:
»Fräulein Baumann… Fräulein Baumann!«
Sie schnellte von ihrem Schreibtisch hoch. Ihre Bluse klebte an ihrem Körper. Jetzt erst erkannte sie den Nachtwächter, der beschwörend auf sie einredete.
»Fräulein Baumann. So beruhigen Sie sich doch. Ich bin es, Jeremias Korth, von der Wach- und Schließgesellschaft! Ich war gerade auf meiner Runde, als ich Ihr Schreien hörte. Ich dachte schon, jemand greift Sie an.«
»Was? Wie? Ich muss eingeschlafen sein«, stammelte sie, rieb sich die Augen und taumelte in die Mitte des Zimmers.
»Geht’s wieder? Muss ein ziemlich schlimmer Traum gewesen sein…«, fragte Korth fürsorglich und trat einen Schritt zurück, um ihr den notwendigen Raum zu lassen.
»Ja, ja. Mein Gott, es… es tut mir so leid… Ich… wie spät ist es?«
»Viertel nach elf, Fräulein Baumann. Sie sollten jetzt wirklich nach Hause gehen.«
»Ich wollte doch nur noch ein paar Korrekturen…«
»Ich glaube wirklich, dass dazu noch Zeit bis morgen ist. Warten Sie, ich hole Ihren Mantel.«
Korth eilte hinaus auf den Gang. Helene dachte mit einem Schaudern an ihren Traum und ließ sich in den Mantel helfen. Sie würde Dr. Merten in der nächsten Stunde einiges zu erzählen haben.
»Können wir?«, fragte Korth.
»Ja… ja… Gleich… Ich muss nur noch mein System ausschalten.«
»Ihr was?«
»Meinen Computer, meine ich.«
Sie ging an ihren Schreibtisch, zog die Tastatur zu sich heran und verharrte verwundert einen Moment lang. Dann lachte sie laut auf und hörte nicht auf, sondern lachte lauter, bis sich ihr Lachen in ein verzweifeltes Schreien verwandelte. Sie schrie wie eine Wahnsinnige, und Jeremias Korth eilte zu ihr, um sie zu beruhigen, was nicht möglich war. Korth verstand überhaupt nichts. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib und zeigte mit zitternden Fingern fortwährend auf die blinkenden Zeilen des Computerbildschirms:
»GUTE NACHT, HELENE!«
***