Dunkelkammer
Der Mann kam auf John zu und lächelte wohlwollend. »Ich darf Ihnen zu einer gelungenen Ausstellung gratulieren, Mr. Farmer!«, sagte Jeffrey Lobster, nickte jovial und verließ das Atelier. John machte rasch die Tür hinter ihm zu und atmete tief ein.
»Weißt du, wer das war?«, sagte er mit einer vor Freude anschwellenden Stimme. »Weißt du es, Melanie?« Sie nickte nur und strahlte ihn an.
»Ja! Glaubst du mir jetzt endlich, dass du Talent hast?«
»Er hat mich tatsächlich gelobt!«, rief er und wäre am liebsten auf die Straße gerannt, um es in die Welt hinauszuschreien.
Melanie fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Sie hatte ihm diesen Erfolg gewünscht, doch nicht einmal sie damit gerechnet, dass Johns Arbeiten so einschlagen würden.
»Du hast es geschafft!«, rief Melanie in ihrer herzerfrischenden Art, und sie hatte vollkommen recht. Nun gehörte er zu den seltenen Menschen, die es nicht nur geschafft hatten, ihre Leidenschaft zu ihrem Beruf zu machen, sondern zu denen, die das Wunder vollbracht und erfolgreich geworden waren.
Nach einer Reihe unbedeutender Auftragsarbeiten hatte John beschlossen, seine erste Ausstellung selbst zu finanzieren. Das Publikum hatte seine Arbeit begeistert aufgenommen, und einer großen Karriere stand nun nichts mehr im Wege, denn wenn Jeffrey Lobster, der Papst der Galeristen, bis zum Schluss einer Ausstellung blieb und dann seinem Gastgeber versicherte, er habe Talent, dann würde genau das und nichts anderes im Kulturreport des Tudor-News stehen.
»Lass uns nach Hause fahren«, schlug John vor und lief ins Hinterzimmer der Galerie, wo ihre Mäntel hingen und sich die Hauptschalter der Lichtanlage befanden. Auf dem Nachhauseweg in Johns alten Chevy Nova, den er zwei Querstraßen weiter geparkt hatte, weil er doch etwas zu schäbig wirkte, lehnte sich Melanie an Johns Schulter und kam das erste Mal an diesem Tag wirklich zur Ruhe. Sie war bestimmt noch aufgeregter als John gewesen, hatte jedoch bis jetzt so gut als möglich vor der kritischen Menge verbergen müssen.
Überhaupt hatte sie in den letzten Wochen intensivst an den Vorbereitungen mitgearbeitet. Einen professionellen Agenten, der sich üblicherweise um die organisatorischen Dinge kümmerte, hatte sich John nicht leisten können, also hatte sie diese Aufgabe übernommen. Während John Tag und Nacht in seiner Dunkelkammer verbracht hatte, um den Aufnahmen den letzten Schliff zu geben, war sein Erfolg zu einem Großteil ihr Verdienst gewesen. Sie ließ ihn jedoch den Helden des Abends sein. Immerhin war er der Mann, den sie mehr liebte als alles andere und den sie eines Tages heiraten wollte.
Zu Hause schälten sich John und Melanie aus ihren verschwitzten Kleidern. Sie verschwand im Badezimmer, während John es sich in dem Lehnsessel seines Großvaters im Wohnzimmer bequem gemacht hatte. Er konnte es immer noch nicht fassen. Seine Ausstellung hatte eingeschlagen, seinem Traum von einer Künstlerkarriere stand nichts mehr im Wege. Es war, als läge ihm die Welt zu Füßen. Jetzt brauchte er nicht mehr irgendwelchen Auftragsarbeiten hinterherzujagen. Brauchte sich nicht mehr an vorgegebene Themen zu halten. Jetzt konnte er bestimmen, was seine Fotos darstellen sollten. Und die Verlage würden sie ihm nur so aus der Hand reißen. John hörte auf, seine Träume zu zensieren, und malte sich aus, was ihm das Leben in Zukunft bieten würde. Er suchte auch nach neuen Ideen, nach Motiven, mit denen er das ganze große Geld verdienen würde.
Doch noch bevor John Farmer in dem Lehnsessel seines Großvaters einnickte, offerierte ihm eine dunkle Stimme aus dem hintersten Winkel seines Innern einen Einfall, dessen Umsetzung er wenige Wochen später bereuen, ja aus seinem tiefsten Innern verabscheuen sollte.
Mel kam aus dem Bad mit nichts als einem Handtuch um ihren zierlichen, schlanken Körper geschlungen. Sie stand im Türrahmen und blickte lächelnd zu John, der sie wohlwollend betrachtete. Kurz darauf schliefen sie das erste Mal seit Monaten miteinander.
*
»Grabsteine? Findest du das nicht ein wenig zu morbide für eine Ausstellung oder einen Fotokalender?«, fragte sie ihn, während er schmunzelnd an einem Stück Brot nagte.
»Warum? Wenn andere Fotografen Atomkraftwerke fotografieren oder mit Bildern aus kambodschanischen Kriegslagern die Leute aufrütteln wollen, dann ist das o.k., aber wenn ich mit Schwarz-Weiß-Fotos die handwerkliche Kunst eines Steinmetz hervorhebe, dann ist das morbide.«
»Es geht dir doch nicht nur um die Steine, oder?«
»Sicher nicht. Es geht genauso um Fragen wie beispielsweise …«
»Tod?«
»Sicher! Aber man muss es doch nicht gleich von der morbiden Seite sehen. Grabsteine vermitteln uns nicht allein ein schauriges Gefühl. Sie vermitteln uns, wie kurz ein Menschenleben sein kann. Sie vermitteln uns andererseits einen Ort der Ruhe und des Friedens. Bist du schon mal auf einem Friedhof spazieren gegangen?«
»Nein. Du?«
John lächelte.
»Ja, ich bin schon mal auf einem Friedhof spazieren gegangen, und es war sehr beruhigend. Dort herrscht eine friedliche Stille, die …«
»Hör zu, John Farmer. Geh und mach deine Fotos, von mir aus. Es ist dein Job und du triffst die Wahl deiner Motive. Nur solltest du dich informieren, ob das rechtlich überhaupt möglich ist. Ich meine … Du kannst nicht irgendwelche Grabsteine von Leuten fotografieren und sie dann veröffentlichen. Wenn ein Mann den Grabstein seines Vaters auf einem deiner Kalender findet, kann er dich vielleicht verklagen. Du solltest dich also absichern.«
»Ja … Ja … Ich werde erst mal einige Fotos machen. Ich muss zunächst wissen, wie sie auf Papier herauskommen. Zunächst ist das Ganze ja noch eine Idee. Um den komplizierten Teil kümmere ich mich später.«
*
Die folgenden Sonntage verbrachte er auf den nahegelegenen Friedhöfen und fotografierte, was das Zeug hielt. Melanie nahm sich meist ein Buch mit und begleitete ihn. Während er auf Motivjagd ging, saß sie in einen Roman vertieft auf einer der Bänke und musste letzten Endes zugeben, dass Friedhöfe tatsächlich eine besondere Ruhe ausstrahlten. Bis auf einen …
»Ich mag diesen Ort nicht«, hatte sie gesagt und im Wagen auf John gewartet. Doch auch dort hatte sie ihre Gänsehaut nicht abschütteln können. Und so hielt sie die Arme verschränkt und bibberte. Es war ein kalter Oktobernachmittag.
Der Moodland-Friedhof bei Dragon Hill war schon seit Jahren nicht mehr für Bestattungen verwendet worden. Sträucher wucherten wild an den Mauern, auf die Wege und um die verwilderten Grabsteine. Doch gerade das war es, was John gesucht hatte. Was ihn zwei Stunden an diesen Ort fesselte, der seltsamerweise auf alle Leute, auch auf die aus der näheren Umgebung, eine abstoßende Wirkung hatte. Dort sollten seltsame Dinge geschehen, erzählte man sich. Dinge, deren Ursache man lieber nicht erforschte. Dinge, die man einfach sein lässt, wie sie sind, und nicht großartig nach dem Wie und Warum fragt. Kurz, der Moodland-Friedhof war niemandem geheuer. John scherte sich einen Dreck um diese ganzen Geschichten. Im Gegenteil. Ihn hatten diese Geschichten eher angezogen.
Nachdem er den vierten Film voll und fast jeden Grabstein doppelt und dreifach abgelichtet hatte, fuhren sie nach Hause. Melanie bat John, sich zu beeilen, und freute sich nur noch auf ein heißes Bad.
»In Zukunft kannst du deine Friedhöfe alleine abklappern«, zischte sie mehr als beleidigt, worauf John ihr seine Spezialmassage versprach, sobald sie aus der Wanne kommen würde …
… aus der allerdings nichts wurde, denn als Melanie eine Stunde später ihrem Bad entstieg, stand John in seiner Dunkelkammer und entwickelte die Filme, die er verknipst hatte. Negative zu entwickeln war eine knifflige Angelegenheit, die einige Zeit in Anspruch nahm. Natürlich vergaß er sein Versprechen, und natürlich hatte dies Melanie gewusst. Also machte sie es sich vor dem Fernseher bequem und lackierte ihre Fußnägel. Sie genoss die Ruhe und Entspannung nach diesem Bad und hatte eigentlich beschlossen, mit dem zu Bett gehen nicht auf John zu warten. Doch dann kam er leichenblaß ins Wohnzimmer gestürmt …
»Melanie!«
Er atmete schnell. Ja, keuchte regelrecht.
»Ich muss … muss dir etwas zeigen!«
»Nicht jetzt, John. Ich glaub dir, dass deine Fotos gut sind!«
»Lass die Fotos, Mel. Es ist etwas anderes. Ich …«
Er erzählte ihr aufgeregt, was er erlebt hatte, und was ihm glauben machte, er habe den Verstand verloren. Nur wenige Minuten zuvor war er in der Dunkelkammer gestanden und hatte ein Bild belichtet, das natürlich einen Grabstein dargestellt hatte. Doch im Entwicklerbad erschienen zu Johns Überraschung die Konturen eines menschlichen Gesichtes. Er hatte wie gebannt auf das Bild gestarrt, es aus der Wanne genommen, im Stoppbad und Fixierer gegen weitere Lichteinflüsse gesichert und einer entsetzlichen Abnormität, im wahrsten Sinne des Wortes, ins Gesicht gestarrt.
John hatte seine Augen zugekniffen, mehrere Male hintereinander. Doch es gab nichts zu rütteln. Das Bild zeigte das Porträt einer Frau. Zitternd schaltete er den Belichter an und … erkannte im Negativbild, das auf den Belichtertisch geworfen wurde, einen Grabstein. Einen Grabstein, den er fotografiert hatte. Ja, verdammt, er hatte ihn fotografiert, und die Erinnerung daran war so entsetzlich real, dass er immer wieder auf das entwickelte Foto schaute, um sich von seiner geistigen Gesundheit zu überzeugen. Auf dem Negativ ein Grabstein, auf dem Foto eine Frau. Eine Frau, nicht älter als dreißig, bieder gekleidet. John ordnete sie ihrer Kleidung nach in die Jahrhundertwende ein.
Das kann nicht sein, dachte er und suchte verzweifelt nach einer Erklärung.
Vielleicht war das Papier schon einmal versehentlich belichtet worden. John klebte das nasse Bild an die Fliesen über dem Arbeitstisch und machte einen weiteren Abzug. Währenddessen jagten Gedanken sich wie Fuchs und Hase in seinem Kopf.
Vielleicht ist das Papier tatsächlich schon belichtet verkauft worden … Habe ich versehentlich ein falsches Negativ entwickelt? Vielleicht bin ich verrückt. Vielleicht ist ab morgen jeden Tag Weihnachten … Da ist eine Frau drauf. Vielleicht ist es ein …
Der zweite Abzug nahm im Entwicklerbad Konturen an. Striche und Flecken wurden rasch zu Linien. Unterbelichtet, dachte John, und fand, dass der Grabstein, den das Bild zeigte, etwas zu weit links geraten sei. Immerhin war die Welt jetzt wieder normal, die Gesetze der Physik galten wieder. Er hatte einen Grabstein fotografiert und das Foto eines Grabsteins entwickelt. Und dennoch begann sein Herz wieder laut und schnell zu schlagen, als er das Foto der Frau an den Kacheln kleben sah. Es zeigte …
einen Geist?
… eine Frau. Da war eine Frau, und nichts und niemand in der Welt konnte das bestreiten.
»John, Du spinnst!«
»Aber wenn ich es Dir sage. Komm mit nach unten und schau Dir das Bild an!«
»John, ich bin einigermaßen entspannt. Wenn Du mich verarschen oder mir Angst machen willst, dann gnade Dir Gott!«
Sie stand auf und folgte John in den Keller.
*
»Was siehst du auf diesem Bild?«, fragte John seine Freundin. Dann klappte ihm die Kinnlade runter und er hätte am liebsten laut geschrien.
»Da ist gar nichts … Das heißt, irgendwas verschwommenes. Da ist was beim Entwickeln schiefgegangen«, sagte Melanie und sah John verständnislos an. Der starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild.
»Alles o.k., John?«
Bestimmt waren ihm seine Grabsteine zu Kopf gestiegen, dachte sie. Gerade noch hatte er sie in panischer Aufregung in seine Dunkelkammer geschleift, hatte ihr eine abstruse Geschichte über ein Frauenporträt erzählt und zeigte ihr jetzt ein Bild, auf dem nicht mal ein Grabstein zu sehen war. Überarbeitet! lautete ihre Diagnose.
»Wenn man so lange in der Dunkelkammer steht, kann man sich schon mal einbilden, Dinge auf Abzügen zu erkennen, die gar nicht da sind. Ein heißes Bad würde dir auch gut tun, Schatz.«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Da war … Da war …«
»Da war vermutlich ein Schatten, der wie eine Frau ausgesehen hat. In anderen Lichtverhältnissen sieht man dann plötzlich …«
»Verdammt, da war eine Frau auf diesem Bild!« Er kratzte zitternd das Foto von den Kacheln, um es von nahem zu betrachten.
»John … Jetzt leg das Bild weg, komm mit nach oben. Jetzt werde ich dir eine Massage verabreichen. Ich glaub, du hast es nötig.«
»Und ich sage dir, das …«
»Mein Gott, John! Jetzt ist das Bild aber leer und fertig. Eine optische Täuschung, ein Trugschluss, was weiß denn ich? Komm jetzt ins Bett, kuscheln …« Plötzlich tat er ihr leid. »Mach morgen weiter.«
Aber kann man sich denn so irren? dachte er und konnte es immer noch nicht fassen.
Zu seinen Füßen hatte sich eine kleine Pfütze gebildet, die jedoch weder er noch Melanie bemerkten. Eine Pfütze, die sich aus einem Rinnsal gebildet hatte, das unter dem Arbeitstisch hervorfloss. Das Foto war leer, ebenso wie die Wanne, die vorhin noch mit Entwickler gefüllt war. Seltsamerweise fiel ihnen das auch nicht auf. Mel konzentrierte sich auf John, und der versuchte verzweifelt, sein Erlebnis zu begreifen. Was half es jetzt noch, sich der Tatsache zu wehren, dass er ein leeres Bild in seinen Fingern hielt? Was half es, sich jetzt mit Melanie darüber zu streiten, ob es vielleicht doch ein Frauenporträt gewesen war? Dass es hierbei vielleicht nicht mit rechten Dingen zuging? Dass es vielleicht …
Aber was sollte der Humbug. Leeres Foto blieb nun einmal leeres Foto. Egal, wie man es drehte und wendete.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Vielleicht war es doch nur ein …«
Geist???
»… blöder Trugschluss.«
Natürlich konnte John nicht einschlafen. Natürlich trieben sich wilde Gedanken gegenseitig durch sein Bewusstsein. Und natürlich folgten auf wilde Gedanken noch wildere Schlussfolgerungen.
Und wenn es doch ein Geist war? Scheiße, Mann. Mach dich nicht selber fertig!
Warum? Es gibt doch diesen alten Aberglauben bei den Indianern. Dass wenn man sie fotografierte, man ihnen gleichzeitig ein Stück ihrer Seele nahm. Oder vielleicht sogar die ganze Seele?
So ein Blödsinn. Wegen solchen geistigen Anpassungsschwierigkeiten hatte man die Indianer niedergemetzelt, ihre Frauen vergewaltigt und den Rest in Reservate gesperrt. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. Leute, die an Geister glaubten, hat man verbrannt oder in Irrenanstalten gesteckt. Es gehört sich nun mal nicht, dass ein primitives Volk mit primitiven Vorstellungen irgendwelche Gebietsansprüche stellt. Es gehört sich auch nicht, dass man an Gespenster glaubt.
Jetzt kommst du, Realistenarschloch, und zweifelst die erfolgreiche Ausrottung jeglichen Irrglaubens an. Oh ja. Es ist ja Mode geworden, wieder an Geister zu glauben. Sie nennen das jetzt New Age, nicht wahr? Klar. Man nimmt einen alten Schuh und poliert ihn auf. Keiner auf dem Opernball wird merken, dass die Schuhe, die du trägst, die dein Großvater schon vollgeschwitzt hat …
Sag mal, John. Schnappst du jetzt vollends über?
Und wenn es nun doch ein Geist war? Ich meine …
Hol den Krankenwagen, Mel! Es ist soweit. Der Erfolg hat das Distanzschräubchen zum schizophrenen Formenkreis zu weit herausgedreht.
Es muss eine Erklärung dafür geben.
Ja, Schizophrenie.
Es muss eine vernünftige, rationale Erklärung geben. Ich bin doch nicht plemplem.
Bist du da ganz sicher?
»Der Grabstein!«, rief John und schnellte aus den Laken, wie ein Stier aus einem Rodeokäfig.
Er rannte in den Keller, während Mel ihr Schnarchen für einen Moment unterbrochen hatte, sich auf die andere Seite wälzte und weiterschlief. In ihrer Drehung hatte sie etwas wie …
»John, du bist ein Trottel«
… gemurmelt, aber nicht einmal wahrgenommen.
*
Keiner von beiden hatte ahnen können, selbst wenn John einen Anflug von Vermutungen bis jetzt mehr oder weniger erfolgreich abgewehrt hatte, was sich zwischen Johns Entdeckung und Mels Rat, er solle sich jetzt erst mal ausschlafen, in der Dunkelkammer bei schummrigem Rotlicht abgespielt hatte. Das Porträt hatte an den Kacheln geklebt, zwanzig Zentimeter über der Wanne mit dem Entwickler, als sich die Oberfläche des Fotos plötzlich zu wölben begann. Nicht wie ein nasses Foto, das trocknet und sich einfach so vom Untergrund löst. Es war, als hätte ein betrunkener Heiliger aus Jux seine Hand über das Foto gehalten und ihm Leben eingehaucht. Leben, das jetzt versuchte, sich aus seinem klebrigen Gefängnis zu befreien. Die oberste Schicht des Glanzpapiers löste sich. Zwei kleine Arme drückten von innen dagegen; als wollten sie ein Fenster aufstoßen. Tatsächlich suchte die Kreatur das Tor zu einer anderen Welt, einen Ausgang, der ihr endlich die Möglichkeit geben sollte, sich zu befreien. Aus dem Abzug stachen zwei unmenschliche Arme, als kämen sie direkt aus der Wand. Den Armen folgte ein schmieriger Körper, zwischen dessen Schultern ein zerdrückter, matschiger Kopf saß, an dem dünne Haare klebten. Das Wesen stützte sich mit den Armen ab und schob sich nach Luft schnappend aus dem Bild. Die Kreatur von der Größe einer Barbiepuppe wand sich aus dem Foto, wie eine Echse, die aus einem Ei schlüpft. Ja, es war eine Geburt, die sich in Johns Dunkelkammer vollzog, während er Mel draußen abstruse Geschichten über ein Porträt einer Frau erzählte, das einfach so aus dem Nichts aufgetaucht war.
Die Kreatur schaffte die letzten Windungen und klatschte auf Johns Arbeitsplatte. Sie landete mit der rechten Hand im Entwicklerbad. Etwas Flüssigkeit spritzte heraus. Sie rollte sich ab und verweilte einen Augenblick. Ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich rasch. Sie ruhte sich aus, zuckte jedoch plötzlich nervös, als ihre rechte Hand plötzlich zu wachsen begann. Seltsame Laute gab sie von sich, dieses Wesen, diese klebrige, klitschnasse Ausgeburt eines Entwicklungsfehlers. Und ihre Hand wuchs. Sie starrte darauf mit kleinen, weit geöffneten Glubschaugen. Ein Fötus, der eine für ihn grundlegende Entdeckung machte. Nämlich, dass sein Lebenselixier sich in der Wanne rechts von ihr befand.
Sie musste sich beeilen, denn die Hand reichte inzwischen bis zu ihren verschrumpelten Füßen. Keuchend schleppte sie sich zu der Wanne und kletterte hinein. Sofort begann sie zu saufen, was das Zeug hielt. Sie musste sich beeilen; so viel wusste sie, obwohl sie instinktiv handelte, wie ein Kalb, das genau weiß, wo die Zitzen bei der Mutter zu suchen sind. Sie schluckte ohne Luft zu holen und wuchs. Wuchs sehr schnell, und mit der Zeit zeichneten sich die Konturen ihres Körpers deutlicher ab. Ihr Körper passte sich der Hand und die Hand dem Körper an. Schließlich hockte sie auf dem Arbeitstisch in Johns Dunkelkammer, hielt die Entwicklerwanne in beiden Händen und leckte sie schmatzend aus, bis es keinen Tropfen mehr zu lecken gab.
Schließlich hatte sie die Wanne wieder dorthin gestellt, wo sie gestanden hatte, und war von der Arbeitsplatte gesprungen. Mit einem klatschenden Geräusch landete sie immer noch triefend nass auf dem Boden und ging instinktiv in die Hocke. Schritte kamen näher. Sie hörte Stimmen. Die Stimme eines Mannes und die einer Frau. Die Tür sprang auf, als sie gerade unter die Arbeitsplatte gekrochen war.
*
John knipste das Licht in der Dunkelkammer an und kramte aus einer Schublade einen Spiegel hervor. Dann suchte er das Negativ, bis er sich besann, dass das blöde Ding ja noch im Belichter steckte. Er zog es heraus und schob es wieder hinein, weil er sich zu spät daran erinnerte, was er eigentlich wollte.
Schizophren, wie?
Er knipste das große Licht aus und den Belichter ein. Vier Sekunden. Überbelichtet? Scheißegal! Ab damit in den Entwickler … Aber … Die Wanne war leer. Was in aller Welt …? Hatte Mel das Bad in den Ausguss geschüttet? Nun gut. Dann musste eben neues her. Er nahm den Plastikbehälter und den Messbecher aus dem Regal. Ein Teil Entwickler und neun Teile Wasser.
Was hat Mel eigentlich hier anzufassen? Was, bitte schön? Und was soll das eigentlich? Den Entwickler schüttet sie weg und den Fixierer lässt sie stehen?
Was ist das überhaupt für eine Sauerei hier?
John stieß mit den Füßen gegen irgendetwas unter dem Tisch. Er kümmerte sich nicht darum. Es gab erst mal Wichtigeres.
Rein damit!
Als handle es sich um die neueste wissenschaftliche Entdeckung, starrte John auf den Abzug. Es kam langsam. Striche, Konturen, Flächen, fertig. Ein schöner Grabstein. Jetzt das Stoppbad. Zehn Sekunden reichen völlig. Der Fixierer. Eigentlich müsste es zwei Minuten drin bleiben.
Egal, ich kann so viele Abzüge machen, wie ich will. Es geht nicht um das Bild. Es geht um den Namen, der auf dem Grabstein steht. Ich will wissen, wer das ist, der da verscharrt ist. John knipste das Licht wieder an und stellte sich mit dem Foto unter die Lampe. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er ja bereits einen fertigen Abzug besaß.
»Trottel!«, flüsterte er und besah sich das Bild genauer.
Dann packte etwas sein rechtes Fußgelenk.
*
Mel wurde durch ein lautes Geräusch geweckt. Sie schreckte hoch und tastete instinktiv nach John. Irgendjemand hatte geschrien. Dann fuhr sie herum. Da war es wieder. Jetzt ein lautes Gepolter. John war nicht hier, also musste er unten sein.
Mel stieg aus dem Bett und zog sich den Morgenmantel über. Vermutlich war er wieder in der Dunkelkammer. Wie so oft. Es war nicht das erste Mal, dass er sich nachts aus dem Bett geschlichen hatte, um zu arbeiten. Mel kannte das schon.
»Er ist ein besessenes Arschloch, das sich nicht im Geringsten um andere schert. Es sei denn, sie heißen Jeffrey Lobster«, fluchte sie, öffnete die Tür und stieß den längsten, schrillsten und lautesten Schrei ihres Lebens aus.
Vor ihr stand eine Kreatur. Klitschnass, als wäre sie gerade aus einem Gelatinefass gestiegen. Sie hatte Johns Fußfessel mit schleimigen, langen Fingern umklammert und hatte ihn offensichtlich hinter sich hergezogen. Er bewegte sich nicht. Er schien nicht mal mehr zu atmen.
Mel verschluckte den letzten krächzenden Schnalzer ihres Wahnsinnsschreis und starrte mit offenen Augen und Mund auf die glibberige Gestalt. Jeder Muskel ihres zierlichen Körpers war angespannt. Mehrere Sekunden verstrichen. Die Gestalt stand ebenfalls wie angegossen da. Sie wird doch hoffentlich stehen bleiben, dachte Mel. Sie wird doch nicht hierher kommen. Vielleicht sieht sie mich gar nicht? Vielleicht hat John, dieser Mega-Trottel, sie angegriffen. Es ist bestimmt eine Art Tier.
Die Gestalt machte einen Schritt auf Mel zu. Es hörte sich an, als trüge sie mit Wasser gefüllte Gummistiefel. Dann hielt sie wieder inne.
Plötzlich ließ die Gestalt von John ab. Johns Bein schlug hart auf den Boden. Dann machte sie einen Satz nach oben und klebte an der Decke des Zimmers.
Mel stolperte Rückwärts und kippte aufs Bett, wo sie fassungslos auf das Wesen starrte. Es war eine Frau. Das erkannte sie jetzt.
Das Wesen krabbelte wie eine Spinne auf allen vieren die Decke entlang, hielt vor dem Lüftungsschacht inne und blickte sich noch einmal um. Ein entsetzliches Zischen hallte durchs Zimmer, das dem Fauchen einer Katze nahekam, der man gerade versucht Entwurmungspaste ins Maul zu spritzen. Dann riss dieses Ding den Deckel des Lüftungsschachtes wie den Verschluss einer Cola-Dose auf und zwängte sich durch die rechteckige Öffnung.
Mel gaffte die Öffnung noch eine ganze Weile an, folgte mit den Augen der Schleimspur an der Decke, bis zu der Pfütze auf dem Veloursteppich vor der Schlafzimmertür. Dann schreckte sie aus ihrer kataleptischen Starre und stürzte zu John, der immer noch regungslos am Boden lag. Sie packte seine Schultern und rüttelte ihn so vorsichtig, wie sie in ihrer Panik konnte.
Nachdem er nicht reagierte, drehte sie seinen Oberkörper auf den Rücken und begann mit den schlimmsten Erwartungen fürchterlich zu weinen.
»John … Bitte … Johnny … wach doch auf … Bitteeeee!«
Die Tränen schossen ihr erst richtig aus den Augen, als John seinen Kopf einige Male wild hin und herwarf, als würde er mit etwas Unsichtbarem kämpfen.
»Nein … Nicht … Was …«
Die Erleichterung darüber, dass John doch nicht in die ewige Dunkelkammer eingekehrt war, führte Mel an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Sie warf sich auf den Mann, den sie gerade noch als den größten Trottel des Jahrtausends bezeichnet hatte, und drückte ihn an sich. Er lebte. Und das war das Einzige, was im Moment für sie zählte; denn sie liebte diesen Scheißkerl mehr als alles andere auf der Welt.
»Wo ist es?!«, schreckte John hoch und streifte sich Mels Arme von den Schultern, als seien es Tentakel eines Ungeheuers. Er sprang auf, drehte sich um seine eigene Achse und schrie …
»Wo ist das Ding? Mel, was ist hier … los?«
Mel wischte sich die Tränen von den Wangen und zeigte mit einem zitternden Finger auf den Lüftungsschacht. John folgte ebenfalls der Spur schwarz-wässrigen Schleims bis zu der Pfütze und brachte kein Wort heraus.
»John, was war das?«, schluchzte Mel verzweifelt. Sie hatte sich ein Kleenex aus dem Morgenmantel gewurschtelt und schnäuzte wie ein Elefant. John setzte sich. Mit seinem schmerzenden Rücken an den Türrahmen lehnend, suchte er nach Worten für etwas, das er nicht erklären konnte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, als lägen Bleigewichte darauf. Er rieb sich mit den Handballen die Augen wach.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es war diese Frau.«
»Was?«
»Diese verdammte Frau von dem Foto! Die ich dir zeigen wollte.«
Mel stieß einen ironischen Lacher in ihr Schluchzen. Verständnislos blickte sie zu John und feuchtete sich die Lippen an.
»Ich habe dir gesagt, dass das eine Scheißidee ist, Grabsteine zu fotografieren. Da hast du den Salat!«
»Mel, ich bitte dich …«
»Eine SCHEIßIDEE!!!« schrie sie panisch.
»Mel!«
»Siehst du denn nicht, was du angerichtet hast?«, sagte sie und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Lüftungsschacht.
»Ich weiß doch auch nicht, wie das passieren konnte. Außerdem warst du doch immer diejenige, die behauptete, dass es so etwas nicht gibt.«
»Du hast dieses Vieh in unser Haus geholt!«
»Und genau deshalb sollten wir überlegen, wie wir es wieder loswerden.«
John hatte vollkommen recht. Mel verkörperte die Ratio in ihrer Beziehung. John war der Tagträumer, der so ziemlich an alles glaubte, wenn es nur fantastisch und für ihn halbwegs akzeptabel gewesen wäre. Mel liebte das Klare, Fassbare, Offensichtliche. Alles, was sich mit gesundem Menschenverstand erfassen ließ. Jetzt dachte sie daran, auf der Stelle einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.
John stürmte davon und kam mit dem Schürhaken, den er sich vom Kamin geholt hatte, und einem Fleischermesser aus der Küche wieder, das er Mel in die Hand drückte.
Sie blickte ihn entsetzt an.
»Du hast mich gerade mit diesem Vieh hier oben alleine gelassen!«
»Jetzt übertreib mal nicht … Wir müssen diesem Ding hinterher!«
»Was!?! Hast du noch alle Tassen im Schrank?«, fuhr sie ihn an, und warf das Messer durch die offene Schlafzimmertür, wo es auf Johns Seite vom Bett landete und klappernd auf den Boden plumpste.
»Was soll das denn jetzt? Willst du dieses Monstrum frei in unserem Haus herumlaufen lassen?«, sagte er energisch.
Melanie verschränkte die Arme und stampfte einmal kräftig mit dem Fuß auf.
»Du kannst ihr ja hinterher rennen und dich abmurksen lassen! Ich habe keine Lust, mich mit so was anzulegen.«
»Scheiße …«, zischte John und warf den Schürhaken in eine Ecke. »Und was sollen wir jetzt machen? Sollen wir ihr vielleicht einen Mietvertrag anbieten?«
»Du bist doch der Genius im Haus! Du hast sie verdammt noch mal hergebracht, also schaff sie auch wieder raus!«
John stieß einen leisen Fluch aus und ging zum Lüftungsschacht, dessen Inneres dunkel und bedrohlich wirkte. Er lugte sehr vorsichtig hinein. Jeden Moment vermutete er, von dem schaurigen Monstrum angefallen zu werden. Er stellte sich vor, wie ihre schleimigen, tentakelartigen Arme aus dem Loch schnellten und ihn an der Gurgel packten …
»Was hast du vor?«, fragte Mel leise, und sie spürte das Blut in ihren Adern pochen.
»Was soll ich schon vorhaben. Ich sehe nach dem Rechten, wie sich das für den Herrn des Hauses gehört!«, murmelte John sarkastisch und stieß ein kurzes Lachen aus.
»Pass bloß auf … Mach keine Dummheiten. Vielleicht wäre es besser, wenn wir die Bullen holen!«
John verdrehte die Augen.
»Und was willst du denen erzählen? Entschuldigung, aber wir haben ein Monster im Haus. Es könnte sich aber auch um einen Außerirdischen oder einen Geist handeln, der aus einem Foto entschlüpft ist. Könnten Sie bitte vorbeischauen, bevor er uns auffrisst?!«
»Scheiße, John Farmer! Du bist ein unverbesserliches Arschloch! Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«
Plötzlich hörten sie Schläge über sich. John sprang erschrocken von der Öffnung weg! Ein lautes Poltern zog über ihnen hinweg, so als nehme jemand die Decke auseinander.
»Sie ist auf dem Dachboden!«, flüsterte Mel.
»Ich wusste gar nicht, dass es zwischen dem Lüftungsschacht und dem Dachboden eine Verbindungsluke gibt!«
»Bis jetzt gab es die auch nicht«, sagte Mel und eilte ins Schlafzimmer, um sich das Messer wiederzuholen, mit dem sie sich doch jetzt bedeutend wohler fühlte.
Es polterte wieder. Dann gab es einen lauten Knall und für einen Moment erzitterte der Boden unter ihren Füßen.
»Ich glaube, das war der Schrank, den wir von deiner Mutter bekommen haben.«
»Oh nein …«
»Ich konnte das Ding sowieso nie leiden!«, sagte John und handelte sich einen Rippenstoß ein.
»O.k., John Farmer. Könntest du mir jetzt bitte sagen, was wir unternehmen werden? Ich bin nämlich kurz davor, durchzudrehen.«
»Wie immer, mein Schatz. Lass uns doch einfach raufgehen …«, sagte John und öffnete den Besenschrank, aus dem er den Haken für die Luke zum Dachboden herausnahm.
»Aber sonst geht’s noch, oder? Ich sage dir, was ich mache … Ich werde mich anziehen und verschwinden!«
John hakte die Zugstange in die Öse der Dachbodenluke und war im Begriff, sie herunterzuziehen, als Mel wieder aus dem Schlafzimmer gestürmt kam.
»Du wirst die verdammte Luke zulassen, John Farmer, oder trenne mich von Dir!«
John ließ von der Stange ab, die wie ein Glockenseil in der Luft baumelte.
Plötzlich schlug die Luke auf und rammte die Stange in den Boden, wo sie wenige Zentimeter von Johns Fuß entfernt stecken blieb. Er wich instinktiv zurück, und Mel schrie vor Schreck auf.
»Ich war das nicht!«, rief er. »Ich war das wirklich nicht«, stammelte er weiter, stolperte rückwärts und landete hart auf seinem Hosenboden. Aus der Öffnung an der Decke schnellte eine glibberige Hand und griff ins Leere. Mel stürzte nach vorn und packte die Stange, die sie nach oben zu stemmen versuchte.
»Jetzt hilf mir doch verdammt noch mal!«
John sprang auf und klammerte sich ebenfalls an die Stange, die schließlich nachgab. Mit einem Ruck schnellte die Luke nach oben und knallte lautstark in die Decke. Die Hand der Kreatur war verschwunden. John hangelte die Stange aus ihrer Verankerung, ließ das Schloss der Luke einschnappen und warf die Stange in eine Ecke des Flurs.
»Wir müssen den verdammten Lüftungsschacht zumachen. Dann kommt sie nicht raus!«
»Du hast recht!«
Sie stürmten ins Schlafzimmer und holten Decken, die sie in die Öffnung an der Wand stopften, bis nichts mehr hineinzustopfen ging. Auf dem Dachboden polterte es wieder und Mel stürzte die Treppe hinunter zu der alten Mahagonikommode, auf der das Telefon stand. Sie zog das Branchenbuch aus einer der Schubladen und blätterte aufgeregt darin herum.
»Was suchst du?«, sagte John und ließ sich auf dem oberen Treppenabsatz nieder.
»Es gibt für alles einen Notdienst! Für verlorene Schlüssel, für Ungeziefer und für was weiß ich noch was … Vielleicht gibt’s so was auch für unser kleines Problem!«
»So ein Blödsinn!«
»Auf jeden Fall besser als …« Mel brach den Satz abrupt ab und setzte das Lächeln eines Gewinners auf. »Sam Wescott – Spiritist, Hellseher, Parapsychologe! Schnelle Hilfe bei Poltergeisterscheinungen!«
»Verarsch mich nicht!«, sagte John, erhob sich genervt und trottete zu ihr. Ungläubig nahm er das Buch, und tatsächlich … Dort stand es schwarz auf weiß. Eine große Anzeige inmitten von weiteren Anzeigen von Spiritisten, Heilern und Astrologen.
»Also ich weiß nicht …«, murmelte er.
Dann setzte das Poltern wieder ein. Die Schläge wurden lauter und an einer Stelle rieselte der Putz von der Decke.
»Aber ich!« Mel riss das Buch aus seiner Hand und nahm das Telefon. »Wenn du unser Haus von diesem Vieh auseinandernehmen lassen willst, bitte. Aber ohne mich …«
*
»Guten Abend, Lady. Mein Name ist Wescott. Ich hoffe, Sie stecken in paranormalen Schwierigkeiten, sonst wäre ich gezwungen, Sie wegen Nötigung anzuzeigen!«, sagte der kleine Mann mit den grauen Locken und der roten Fliege, die zu seinem violetten Anzug passte, wie Punkte auf ein gestreiftes Hemd.
Er stand im Eingang, die Farmers ihm gegenüber, als ein lauter Knall die Stille des Abends zerriss und das Lächeln von Wescotts Gesicht wischte.
»Was war das?«
»Oh, das waren die New York Lakers, die auf unserem Dachboden Football spielen. Ein kleines Mitternachtstraining!«, erklärte John und leerte sein Whiskeyglas.
»Was?«
»So ein Quatsch!«, schimpfte Mel. »Entschuldigen Sie meinen Mann. Er ist ein wenig durcheinander!«
»Was bin ich?!«
»Schschscht«, fuhr ihn Mel an. »Kommen Sie doch rein, Mr. Wescott. Das, was Sie gerade gehört haben, war das Wesen, wegen dem wir Sie bei nachtschlafender Zeit aus dem Bett geholt haben. Es ist sonst wirklich nicht unsere Art, aber … wir haben selbst einen mächtigen Schrecken bekommen.«
»Ja … Und wenn Sie uns nicht von diesem Mistvieh befreien können, werde ich Sie anzeigen. Wegen Betruges!«, setzte John hinzu und setzte ein noch dämlicheres Grinsen auf.
»Gleich zu Anfang …«, betonte Wescott und hob den Zeigefinger. »Ich gebe keine Garantien für Erfolg. Ich werde mir der Sache annehmen, aber versprechen kann ich gar nichts!«
»Jetzt beruhigt euch beide mal …«, versuchte Mel zu schlichten. »Vielleicht ist unser Problem gar nicht so groß. Schauen Sie sich die Sache an und …«
BUMM! BABUMMBUMM.
Weitere Donnerschläge vom Dachboden.
Wescott wurde etwas blass.
»Wollen Sie sich nicht erst mal hinsetzen und etwas trinken?«
»Ich weiß nicht so genau …«, sagte er und starrte an die Decke.
John Farmer stand inmitten des Wohnzimmers und hielt die Arme erhoben, so als dirigiere er ein unsichtbares Orchester, das nur aus Pauken bestand. Mel kam herein und reichte Wescott ein Glas Wasser, nebenbei bat sie John, sich nicht wie ein Trottel aufzuführen.
»Wie lange haben Sie dieses … Problem denn eigentlich schon?«, fragte Wescott, nachdem er die Hälfte seines Glases geleert hatte.
»Oh, erst seit ein paar Stunden. Wir haben uns im Grunde auch schon daran gewöhnt. Sie ist als Untermieterin ganz o.k. Sie riecht vielleicht ein wenig streng, aber sonst …«
»Sie?«, fragte Wescott. John laberte weiter ins Leere.
»… und sie wirkt auf den ersten Blick ein wenig ungepflegt …«
»ES ist eine SIE?«
»Ja, Mr. Wescott, Sir … Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine weibliche Kreatur!«, sagte Mel.
»… und diese Schleimspuren. Bis wir die aus dem guten Teppich hatten. Ich sage Ihnen …«
»Mein Gott, John. Halt endlich deine Klappe!«, schrie Mel.
John starrte sie entgeistert an. »Ist ja gut!«
»Sie haben diese Kreatur also gesehen?!«, fragte Wescott ungläubig weiter.
»Zwangsläufig«, sagte John und ließ sich auf dem Sessel nieder. »Sie hat mich in der Dunkelkammer im Keller angefallen, mich überwältigt und mich dann zum Schlafzimmer geschleift.«
Wescott sah John noch ungläubiger an. Auch Mel sah ihn an, als habe er einen plötzlichen Ausschlag bekommen.
»Aus welchem Grund auch immer!«, verteidigte er sich. »Dann ist sie meiner Frau über den Weg gelaufen und hat sich derart erschrocken, dass sie auf den Dachboden geflüchtet ist. Worüber ich mir übrigens meine Gedanken machen würde, Melli-Babe!«
»Sehr witzig, John. Mr. Wescott ist hier, um uns zu helfen, und du machst dämliche Witze.«
»Also ich weiß nicht …«, sagte Wescott. »Das hört sich alles sehr … sehr … na eben ziemlich abgefahren an. Finden Sie nicht?«
Mel und John starrten jetzt auf Wescott, der in dem Sofa zu versinken schien.
»Na hören Sie mal …«, wetterte Mel. »Glauben Sie, wir hätten Sie angerufen, wenn wir ’ne Spinne auf dem Dachboden entdeckt hätten?«
»Nein, natürlich nicht … Aber sehen Sie, Poltergeister sind meist irreal, das heißt, man kann sie hören und bestenfalls fühlen, aber man kann sie nicht sehen!«
»Wer sagte was von einem Poltergeist? Wir wissen nicht, was das ist. Wir wissen nur, dass dieses Ding aussieht, als wäre es einem Horrorfilm entsprungen. Also tun Sie Ihren Job, o.k.!«, setzte John hinzu.
»Am besten du erzählst die Geschichte von Anfang an«, schlug Mel vor.
»Was meinst du?«
»Na das Foto und deine beschissene Idee, Grabsteine zu fotografieren.«
»Sie haben Grabsteine fotografiert?«, fragte Wescott.
»Ja …«
Mit Widerwillen erzählte John die ganze Geschichte, angefangen bei seiner Idee mit den Grabsteinen, über das Gesicht der Frau auf dem Foto, bis hin zu den Attacken des Wesens, von dem keiner wusste, woher es gekommen war. Als er geendet hatte, herrschte einige Minuten betretenes Schweigen. Keiner hatte bemerkt, dass es seit geraumer Zeit nicht mehr gepoltert hatte. Wescott brach das Schweigen.
»Wie sieht sie denn aus?«
»Sie ist etwa 1,80 groß, dürr, hat stechende, hervorquellende Augen und ist am ganzen Körper von einer dicken Schleimschicht umgeben.«
Wescott blickte ungläubig zu Mel.
»Ich fürchte, er sagt die Wahrheit.«
Wescott starrte plötzlich zur Decke.
»Sind Sie sicher, dass sie da oben nicht raus kann?«
»Ganz sicher!«, beruhigte ihn Mel. »Wir haben alles abgedichtet.«
»Na, vielleicht sollten wir dann vielleicht eher die Feuerwehr holen.«
»Ich dachte, Sie sind Geisterjäger?!«, sagte John. In seinen Augen begann der ängstliche Mr. Wescott an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
»Ja … Aber das ist kein Geist. Jedenfalls keiner von der Sorte, wie sie mir bislang untergekommen sind. Sie sagten, es hätte ein Foto von einer Ihnen unbekannten Frau gegeben. Und jetzt ist es leer?«
»Ganz genau!«
Das Poltern setzte wieder ein. Mel und Wescott sprangen auf und starrten an die Decke.
»Eine Materialisation …«, flüsterte Wescott. »Eine leibhaftige Materialisation!«
»Was meinen Sie?«, fragte Mel.
»Ich meine, dass Ihr Mann die Seele einer verstorbenen Person in seiner Kamera gefangen hat, die durch das Entwickeln des Fotos einen Weg gefunden hat, sich aus ihrem Käfig zu befreien.«
»Das ist doch verrückt!«, rief Mel. Das Poltern verstummte wieder.
»Heute noch gibt es Stämme auf unserer Erde, die noch nie etwas von einer modernen technologischen Zivilisation mitbekommen haben. Als Forscher Menschen eines solchen Stammes fotografierten und ihnen später diese Fotos zeigten, da erschraken die Eingeborenen fürchterlich und liefen schreiend davon. Später fand man heraus, dass sie glaubten, die Wissenschaftler hätten mit dem Fotoapparat ein Stück ihrer Seele gestohlen. Denselben Irrglauben vertraten die Indianer, als sie das erste Mal eine Fotografie gesehen hatten und weigerten sich strikt, sich ablichten zu lassen. Vielleicht war es gar kein Irrglaube, sondern eine bittere Realität. Ferner gibt es zahllose Fotos aus den Zwanzigerjahren, auf denen geisterhafte Schatten zu sehen waren. Die meisten konnten als Betrügerei entlarvt werden. Aber einige wenige schienen tatsächlich echt zu sein. Vielleicht haben wir auf Ihrem Dachboden den ersten lebenden Beweis dafür, dass sich Seelen wieder materialisieren können.«
»Das hört sich zumindest ganz vernünftig an …«, sagte Mel.
»Vernünftig??!«, wetterte John. »Was bitte ist daran vernünftig? Ich meine, das mit den Indianern habe ich mir auch schon überlegt. Aber vernünftig ist hier gar nichts.«
»John, was redest du da?«, fragte Mel und sah ihn misstrauisch an.
»Nun, es ist genauso vernünftig, wie die Kreatur, die gerade ihren Dachboden auseinander nimmt!«, setzte Wescott hinzu und brachte die Angelegenheit wieder auf einen Punkt.
Es herrschte betretenes Schweigen, geschwängert von einer unheilvollen Ratlosigkeit. Diesmal brach Mel die Stille …
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich werde versuchen, etwas über diese Frau herauszufinden.«
»Wie bitte?«
»Sie sagten doch, Sie hatten ausnahmslos alle Grabsteine auf dem Friedhof fotografiert!«
»Das habe ich auch.«
»Ich brauche die Fotos, und zwar alle. Ich werde die Grabsteine kontrollieren, und der, der übrig bleibt, ist der Grabstein der Frau, die Ihnen das Leben schwer macht. Wir müssen wissen, warum ihre Seele keine Ruhe findet. Nur so können wir sie wieder dorthin schicken, wo sie hingehört …«
»In den Himmel!«, lästerte John.
»Oder in die Hölle!«, antwortete Wescott.
»Ja, aber die Mühe brauchen Sie sich nicht zu machen. Ich kenne Ihren Namen … Ellen Saint Grave.«
Wescott notierte ihn sich auf einem Zettel, den er in seine Hosentasche steckte. Dann verabschiedete er sich, mit dem Versprechen, so bald als möglich wiederzukommen.
»Der Name sagt mir irgendwas«, redete er gedankenverloren vor sich hin und ging.
Mel und John blieben zu Hause und kontrollierten die verschlossenen Zugänge zum Dachboden. Alles war unbeschädigt geblieben. Später kuschelten sie sich eng aneinander auf der Couch im Wohnzimmer und lauschten der gespenstischen Stille. Manchmal hörten sie ein leises Rascheln, manchmal einen dumpfen Schlag – im Grunde nichts, weswegen man sich hätte Sorgen machen müssen, doch das Wissen, dass sich im Haus eine Kreatur befand, die sich aus der Seele einer verstorbenen Frau und einem simplen Foto materialisiert haben sollte, brachte sie beide fast um den Verstand. Sie hatten Angst, doch wegzulaufen und diesem Monster das Haus zu überlassen, schien ihnen genauso unmöglich. Sie hofften, dass Wescott bald zurückkommen würde.
Stunden später polterte es wieder, und die Schläge wurden lauter. Es knallte auf dem Dachboden, und Mel schreckte aus einem leichten Dämmerschlaf. Dann hörten sie ein Scheppern, das von der Straße zu kommen schien. Plötzlich klopfte es laut an die Tür.
»Mr. Farmer! Ms. Rodgers!«
John stürzte zur Tür. Draußen stand Ed Weatherman von nebenan in seinem Bademantel und war kreidebleich.
»Entschuldigen Sie, Mr. Farmer, aber da sitzt irgendjemand auf Ihrem Dach und wirft mit Ziegelsteinen um sich!«
*
Sie rannten auf die Straße, als plötzlich ein Ziegel neben ihnen auf dem Asphalt zerplatzte.
»Scheiße!«, rief John.
Überall in der Nachbarschaft gingen die Lichter an, und die Leute rannten auf die Straße. Die Menschen starrten auf das Dach, in das ein großes Loch gerissen worden war. Auf dem Dachfirst stand eine schaurige Kreatur und riss weitere Dachziegel heraus, die sie in Richtung der Schaulustigen schleuderte. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Polizeiwagen und ein Löschzug der Feuerwehr vorfuhren. Dann kamen die Leute von der Presse. Mel und John wurden von allen Seiten mit Fragen bombardiert, auf die sie keine Antworten wussten. Sie hofften immer noch auf Wescott, der versprochen hatte, etwas über dieses Wesen herauszufinden.
Schließlich versuchten Feuerwehr und Polizeibeamte über den Dachboden auf das Dach zu gelangen, doch die Kreatur ließ keinen durch die Öffnung kommen. Man beriet sich … Man überlegte, wie man das Wesen vom Dach holen konnte, ohne es der Gefahr einer Verletzung auszusetzen. Knapp drei Stunden, nachdem Samuel Wescott den Ort des Geschehens verlassen hatte, fuhr er wieder vor und bremste mit quietschenden Reifen. Er eilte aus dem Fahrzeug zu Mel und John.
»Ellen Saint Grave!«
»Ja und, das wissen wir doch?!«, fragte John. Wescott schien außer sich.
»Ihr Name ist Ellen Saint Grave, und sie war eine verurteilte Mörderin. Sie hatte ihren Liebhaber auf dem Gewissen, der sie geschwängert hatte und sie dann verstoßen, weil er nicht zu ihr und dem Kind stehen wollte. Er wollte auch nicht, dass die ganze Sache publik wird, weil er nämlich mit einer anderen verlobt war. Auf alle Fälle wurde er eines Morgens tot aufgefunden. Niemand konnte sich das Verbrechen erklären. Doch dann kam es zu einem dummen Zufall, als ein Reporter des Tudor Herold einen Bericht über Carl Delasamps, den damaligen Bürgermeister von Tudor – das war der Einzige, der übrigens je für einen Posten als Senator kandidiert hatte – schreiben sollte, da dieser verstorben war. Auf alle Fälle fiel diesem Reporter, sein Name war Gerald Fox, der einen Bericht über die Beerdigung des Bürgermeisters schreiben sollte und deshalb auch auf dem Friedhof war, eine junge Frau auf, die am Grab eines Mannes stand, über dessen seltsamen Tod er ebenfalls zwei Wochen zuvor berichtet hatte. Er fotografierte die Frau und recherchierte weiter und schließlich fand er die ganze Geschichte heraus. Ellen Saint Grave wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Beweisstück A der Anklage war ein Foto, auf dem sie am Grab ihres Liebhabers stand. Das sich übrigens eine Reihe weiter vorn befindet.«
»Und wie kam sie in meinen Fotoapparat?«
»Vermutlich hat ihre Seele nie Ruhe gefunden. Sie wollte Rache für ihr ungeborenes Kind, das sie verlor, während sie im Gefängnis auf ihren Prozess wartete.«
»Oder sie wollte ein neues Kind. Denk dran, Schatz. Sie wollte mit dir ins Schlafzimmer!« sagte Mel und schien das wirklich ernst zu meinen.
»Blödsinn!«
»So abwegig scheint mir der Gedanke nicht, Mr. Farmer«, sagte Wescott und starrte gebannt auf das Dach.
Die Kreatur hatte die Arme weit von sich gestreckt, sprungbereit wie ein Puma. Vor dem Haus hatten sich hinter den Absperrungen der Polizei unzählige Reporter und Schaulustige versammelt. Alle starrten sie gebannt auf das Wesen, in gespannter Erwartung, jeden Moment etwas Dramatisches erleben zu können. Einige der Polizisten hielten ihre Gewehre im Anschlag auf das Wesen gerichtet.
Unter den Schaulustigen hatten sich Vertreter aller möglichen und unmöglichen Gruppierungen versammelt. Manche klammerten sich zitternd an die Bibel in ihren Händen, weil sie die Ankunft des Teufels vor sich sahen. Andere warteten verzweifelt auf das Ufo, das jeden Moment heranschweben würde, um seinen vergessenen Kameraden abzuholen.
Koryphäen der hiesigen Esoterik-Szene waren gekommen und gaben Interviews, Statements und Erklärungen ab.
Einige meinten, es handle sich tatsächlich um einen Außerirdischen, womit auch bewiesen sei, dass die UFO-Sichtungen der letzten fünfzig Jahre eben keine Halluzinationen seien, sondern die Existenz einer Rasse bewiesen, die uns fortwährend beobachte. Dass die Regierung, die ja schon seit einer Ewigkeit mit dieser Macht in Kontakt stünde, endlich die Geheimakten freigeben solle, die sie bis heute unter Verschluss hielt.
Andere meinten, es handle sich bei dem Wesen eindeutig um einen Wolfmenschen. Eine Kreatur, die als Kleinkind ausgesetzt und von Tieren großgezogen worden war. Wiederum andere erklärten, die Kreatur sei ein kryptozoologisches Phänomen. Ein Wesen aus der Steinzeit, vielleicht sogar das fehlende Bindeglied zwischen Homo erectus und Homo sapiens.
Zu guter Letzt die Vertreter der Geistertheorie, die das Wesen als Manifestation einer verstorbenen Seele identifizierten. Unter ihnen kein Geringerer als Jeremiah Wescott. Die schleimige Substanz sei eindeutig Ektoplasma, eine Substanz, die es dem Menschen überhaupt erst ermögliche, einen Geist als solchen wahrzunehmen.
John und Mel standen abseits und betrachteten angeekelt das Schauspiel.
»Wir hätten sie doch erschalgen sollen!«, sagte Mel.
»Ja, aber du musstest ja diesen Hirni anrufen!«
Mel senkte schuldbewusst ihr Haupt.
Als sich das Wesen plötzlich bewegte, zuckten alle zusammen. Weitere Gewehre gingen in Anschlag. Dann sprang es mit entsetzlicher Leichtigkeit in hohem Bogen vom Dach, und die Mündungen der Gewehre folgten ihr.
Sämtliche Fotoapparate blitzten auf.
»Nein, nicht!«, schrie Wescott und stürzte nach vorn. »Das will sie doch nur!«
In einem Gewitter von Lichtblitzen stürzte das Wesen hinab und zerplatzte auf dem Asphalt wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon. Die Menge erstarrte.
Übrig blieb eine schleimige Pfütze, um die sich nach und nach Schaulustige und Reporter drängten.
Zwei Stunden später hatte sich der Tumult aufgelöst. Die Reporter waren verschwunden und nur ein paar ganz Hartgesottene, deren Neugier nicht verfliegen wollte, waren dageblieben. Wescott war verschwunden. Er hatte sich nicht einmal von Mel und John verabschiedet. John dachte bei sich, dass Wescott vermutlich schon zu Hause saß und die Story für sein neuestes Buch diktierte.
Sie sprachen nur wenig miteinander, während sie das Chaos in ihrem Haus aufräumten. Später im Bett legte John seinen Arm schützend um Mel und flüsterte …
»Ich glaube, ich vergesse die Sache mit Grabsteinfotos besser.«
John und Mel schliefen diese Nacht nicht in Ihrem Haus. Sie hatten sich im Tudors Inn ein Zimmer genommen und wollten erst am nächsten Tag wieder das Haus betreten, in dem eine Kreatur gewütet hatte, deren Existenz niemand erklären konnte.
Zur selben Zeit entdeckte ein junger Fotograf namens Lukas Boyd Hellenberger, Angestellter der Tudor News, das Bild einer Frau auf einem Foto, das er gerade in seiner Dunkelkammer entwickelt hatte. Er konnte sich nicht erklären, wie es dorthin gekommen war, denn eigentlich sollte dort das Foto eines Monsters sein, das er vor wenigen Stunden auf dem Dach eines Hauses fotografiert hatte. Er hatte sich einen großartigen Bonus seines Verlages erhofft, doch er musste feststellen, dass auf den meisten Fotos rein gar nichts zu sehen war. Auf einem der Bilder sah man eine Pfütze, das war aber auch alles.
Und so standen überall in der Stadt Fotografen in ihren Dunkelkammern. Manche professionell, andere Hobbyisten, alle mit dem selben Auftrag: die Kreatur vom Dach auf Fotopapier zu bannen. Jeder hatte sie gesehen, jeder hatte den Auslöser gedrückt. Jetzt tropften die Bilder langsam aus der Chemie, auf glattem Papier, in mattem Rotlicht.
Und einer nach dem anderen starrte auf dasselbe Unfassbare: Kein Dach. Kein Monster. Kein Sprung.
Stattdessen: das Bild einer Frau.
Sie war nicht scharf aufgenommen. Manche sahen nur ein Gesicht im Nebel, andere ein vollständiges Porträt. Die Pose variierte, das Lächeln überall gleich. Eine Fremde, und doch schien sie jeden Einzelnen von ihnen direkt anzusehen.
Sie war in jeder Dunkelkammer. Bei jedem Fotografen.Und war doch nie fotografiert worden.
Einige rissen das Papier von der Leine, andere ließen es einfach hängen und starrten es an, als würden sie hoffen, dass es sich von selbst erklärte.
Die meisten ließen das Foto einfach hängen, weil sie müde waren.
Und während sie schliefen bewegte sich in den Schatten der Räume etwas. Etwas Nasses, Kaltes. Etwas, das zu atmen begann.
Und während sich überall kleine Schleimpfützen auf Linoleum und Fliesen sammelten, kroch neues Leben aus den Bildern.
Dunkelkammer
Lesezeit wird berechnet…
Szenen wird erstellt…