Erwachen
Es war Nacht. Kaltes Mondlicht durchflutete die Straßen. Die unheimliche Stille der schmalen Gassen wurde von einem leisen Pfeifen des Windes und dem knarrenden Schaukeln einer Wirtshausreklame untermalt.
Timou ging stadteinwärts. In Gedanken versunken, die Hände tief in den Taschen seiner Cordhose vergraben, achtete er nicht auf den Clochard, der sich in Zeitungspapier gehüllt eine besonders dunkle Nische zwischen den Häusern als Schlafplatz gewählt hatte. Auch der Fremde, der ihm entgegenkam und schließlich wortlos an ihm vorbeilief, kümmerte Timou nicht.
Scheiß Touristen, dachte er. Wohl wissend, dass die Einheimischen nach zehn Uhr kaum mehr auf den Straßen anzutreffen waren.
Timou ging seinen Weg nach Hause durch die mit Kopfstein gepflasterten Gassen von Saint Bastie. Das Restaurant, in dem er als Küchenhilfe arbeitete, hatte bereits vor einer Stunde geschlossen. Jetzt war die Küche gereinigt und auch so, dass es Chef Antoine sauber genug war. Diesmal sogar ohne großes Geschrei und ohne Beleidigungen. Es war manchmal nicht leicht, das letzte Glied in der Kette zu sein.
Wachträumend bog er in die Rue de Balzac ein, ein besonders enges Gässlein, und schmunzelte unbewusst über diesen hochtrabenden Namen.
Dann blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Die zischend lodernde Flamme des Streichholzes warf einen schwachen Schein auf die Mülleimer am Straßenrand. Plötzlich sprang eine schwarze Katze hinter den Tonnen hervor, starrte ihn mit weiß funkelnden Augen an und verschwand fauchend im Dunkel.
Seit dieser Begegnung beschlich ihn das Gefühl, dass ihm jemand folgte. Über die Straße legte sich ein nebliger Schleier. Etwas raschelte in der Luft. Timou wandte sich blitzschnell um, strauchelte, rutschte aus und setzte sich hart auf das Pflaster.
Er wollte sich aufrappeln, doch plötzlich sah er etwas über sich schweben. Eine Gestalt mit weit ausgebreiteten Flügeln. Eine Kreatur von faszinierender Abscheulichkeit, die sich plötzlich auf ihn stürzte und ihn packte. Die messerscharfen Zähne des Monsters drangen tief in seinen Hals und er spürte, wie das Blut pumpend aus seinem Körper wich. Seine Brust hob sich ein letztes Mal, sein Herz verstummte. Dann wurde alles schwarz.
*
Timou erwachte in völliger Dunkelheit.
Sein Verstand war wie leergefegt. Die Erinnerungen an die letzten Stunden lagen hinter einem dichten Nebel – ein Schutzmechanismus seiner Psyche vor dem Unbegreiflichen, was mit ihm geschehen war.
Er versuchte mit seinen zittrigen Händen die Umgebung zu ertasten und stieß mit seinen Handflächen gegen eine knisternde Wand, die nachgab, wenn er stärker dagegen drückte. Hinter dieser Wand schien nichts zu sein. Timou schaffte es jedoch nicht, seine Arme ganz auszustrecken. Auch seine Hände fühlten sich taub und seltsam an.
Die Luft in diesem Kerker war stickig und schal. Er schnappte einige Male nach Luft und merkte, dass das Atmen ihm schwerer fiel, je mehr er sich anstrengte. Also versuchte er sich zu beruhigen und zu rekapitulieren, was geschehen war. Dann sah er das Monster vor seinem geistigen Auge, wie es ihn packte und biss, und jetzt brach er in Panik aus.
Mit Händen und Beinen schlug er gegen die seltsame Mauer und plötzlich entstanden Risse in der Wand, durch die brennendes Licht in seine Augen fiel. Er zerfetzte die Schale, die ihn umgab, und plötzlich war es, als handle es sich um billiges Butterbrotpapier. Panisch trat, schlug und kratzte er sich durch sein Gefängnis in die Freiheit. Er fand sich in einem sterilen, weiß gekachelten Raum wieder. Glasvitrinen und Schränke standen an den Wänden. Als er vom Tisch herunterrutschte, erkannte er die Fetzen des Leichensacks.
Sie haben mich für tot gehalten. Kein Wunder – sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, sein Körper war kalt geworden. Schwankend richtete er sich auf, torkelte zur Tür und verließ das Zimmer. Im Gang hallten seine Schritte wider. Bei jedem Schritt hielt er sich an den Türrahmen fest. Am Ende des Korridors stand eine Tür einen Spalt offen. Drinnen telefonierte jemand aufgebracht mit lauter Stimme:
»Was heißt hier, nicht zu viel Aufhebens? Wir haben hier eine Leiche! Was? Auf gar keinen Fall. Und wir haben dieses Ding, was auch immer das ist… Ja, auch tot… Ja, erschossen!«
Das Monster, dachte Timou schwach. Sie haben es erwischt. Er konnte sich nicht an Schüsse erinnern. Er versuchte, die Tür aufzustoßen, doch ihm wurde wieder schwarz vor Augen. Für einen Moment sank er auf den Boden und spürte, wie seine Kräfte nur langsam wiederkamen. Dann ein scheppernder Knall, der Timou aufschrecken ließ. Er sah eine Krankenschwester den Gang entlangrennen. Sie hatte ein Tablett fallen lassen. Pillen kullerten über den Boden. Die Tür sprang auf, ein Arzt erblickte ihn, schlug eine Hand vor den Mund und rannte davon. Natürlich, dachte Timou benommen. Sie denken, ich bin tot. Sie halten mich für einen verdammten Zombie.
Er rappelte sich hoch und schleppte sich weiter. Das Laufen fiel ihm zunehmend leichter, aber etwas war anders. Seine Bewegungen waren… anders. Er erreichte eine Tür, auf der das Symbol einer Treppe zu sehen war. Hinter sich hörte er eilige Schritte. Als er sich umwandte, sah er den Arzt, die Schwester und zwei Wachleute, die plötzlich ihre Pistolen zogen.
Scheiße, was… Dann ein Schuss! Eine Kugel schlug neben ihm in die Wand ein.
Timou stieß mit Wucht die Tür auf und flüchtete ins Treppenhaus. Die Bedrohung verlieh ihm scheinbar neue Kraft – mehr, als er je besessen hatte. Seine Beine trugen ihn plötzlich die Stufen hinauf, als wäre er federleicht. Dann erblickte er ein grün leuchtendes Schild: Notausgang. Er drückte die schwere Stahltür auf und fand sich auf einer Art Dachterrasse des Gebäudes wieder.
Er rannte in die Mitte der Fläche und erblickte plötzlich… das Monster. Es hatte sich breitbeinig aufgestellt, den Oberkörper leicht geduckt. Es stampfte einige Schritte auf Timou zu, wobei es bedrohlich seine verknorpelten Arme hob. Die Flügel, die sich zwischen den Armen und dem Rumpf des Ungeheuers aufspannten, erzeugten ein flatterndes Geräusch wie von Papier.
»Du lebst«, sagte es mit einer Stimme, die seltsam vertraut klang.
Timou wich zurück. »Was… wer bist Du? Was… willst Du?«
Das Monster verformte sein Gesicht zu einer Art Lächeln und deutete auf ein Fenster in der Gebäudewand. Was Timou dort sah, ließ sein Herz stillstehen. Dünne, knorpelige Arme. Häutige Flügel. Spitze Fangzähne. Schmale Augen. Er sah sein Spiegelbild und sah ein zweites Monster, dem ersten gegenüber stehen.
»Sieh dich an, mein Sohn.«
»Nein«, flüsterte Timou. Doch während er sein Spiegelbild betrachtete, flammten Erinnerungen auf. Bruchstücke einer anderen Wahrheit.
Er sah sich selbst durch die Straßen gleiten. Sah den Mann, den Touristen, der ihm zuvor begegnet war. Spürte die Erregung der Jagd, die Lust am Töten. Erinnerte sich, wie er sich auf den Ahnungslosen gestürzt, sich in dessen Kehle festgebissen hatte. Wie er das warme Blut trank und das Brechen seiner Knochen genoss.
»Das war ich nicht«, stammelte er und wich zurück.
»Doch«, zischte das Monster. »Du warst nicht das Opfer, mein Sohn. Du warst der Jäger.«
Die Wahrheit traf ihn wie ein Schlag. Sein Verstand wehrte sich dagegen, doch die Bilder drängten unaufhaltsam durch den schützenden Nebel seiner Amnesie. Er war nicht nur überfallen worden. Er hatte überfallen. Das Monster auf dem Dach war nicht sein Peiniger – es war sein Mentor.
»Nein… das kann nicht sein«, keuchte Timou und sank auf die Knie. »Ich bin kein Mörder. Ich würde niemals…«
Doch selbst während er protestierte, spürte er die Veränderung in sich. Den Hunger. Die Gier nach Blut, die wie ein lebendiges Wesen in seinem Bauch wuchs.
»Die Verwandlung hat begonnen, als ich dir mein Blut gab«, erklärte sein vermeintlicher Vater. »Du lagst im Todeskampf, als dein neues Leben erwachte. Sie fanden dich bei deinem ersten Opfer und hielten dich für tot. Aber du warst bereits etwas anderes geworden. Ich wusste, dass ihre Kugeln dir nichts anhaben können, als sie auf dich schossen.«
Und dann war alles wieder da… Er war gebissen worden, hatte danach das Blut des Vampirs getrunken und war selbst zur Bestie geworden, die jetzt ihr erstes Menschenblut trinken musste. Er erinnerte sich an den jungen Mann, dem er begegnet war. Den er dann verfolgt hatte, um seine Transformation abzuschließen. Dann die Schreie… Die Polizisten… die Schüsse. Und schließlich… sein Erwachen.
Timou betrachtete seine Hände mit den Krallen, roch den süßlichen Verwesungsgeruch, der ihn nun nicht mehr anwiderte, sondern hungrig machte. Die letzten Reste seiner menschlichen Moral bröckelten weg wie eine alte Fassade. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich wirklich stark. Zum ersten Mal hatte er Macht.
Die Angst vor dem, was er geworden war, wich einer dunklen Faszination. Er war kein hilfloses Opfer mehr, das sich in einer Küche erniedrigen lassen musste. Er war nun das Raubtier, das alle fürchteten.
»Was bin ich?«, fragte er, und in seiner Stimme schwang bereits eine neue, kältere Akzeptanz mit.
»Ist das von Belang? Du bist erwacht«, antwortete das Monster und breitete seine Schwingen aus.
»Und nun werden wir gemeinsam auf die Jagd gehen.«
Als der Arzt, die Krankenschwester und die beiden Wachleute endlich auf das Dach stürmten, sahen sie zwei Kreaturen, eine große und eine etwas kleinere, in der Nacht davonfliegen. Ihre schattenhaften Körper wurden vor der Silhouette des Mondes immer kleiner.
Die Flügelschläge der kleineren Kreatur erschienen anfangs noch unbeholfen und mühsam, wurden mit jedem Schlag gleichmäßiger. Nach und nach holte sie die größere ein, bis man schließlich zwei winzige Punkte in der fahlen Silhouette des Mondes verschwinden sah…
***