Die Nacht des Josephus

Im Berchtesgadener Land, nicht weit von der Grenze nach Salzburg, liegt ein kleines verträumtes Dorf namens Ammertal. Ganze zehn Häuser stehen zwischen hohen Bergmassiven eingeschlossen in einer kleinen Talsohle. Eine Kirche gibt es dort und ein Wirtshaus, das jedoch nur selten Gäste hat. Die Touristen halten sich mehr an die Ortschaften Anger, Aufham oder Reichenhall. Oder sie gehen direkt nach Berchtesgaden, wo es einen der schönsten Aussichtspunkte auf den Watzmann gibt.
Ammertal wird von den meisten gemieden. Warum weiß niemand so recht. Es sollen dort schon unheimliche Dinge geschehen sein, von denen man nicht weiß, ob man sie tatsächlich glauben soll. Aber ein seltsamer Ort ist Ammertal allemal und auch seine Bewohner, die Fremden gegenüber eher misstrauisch sind, ganz im Gegensatz zu der übrigen Landbevölkerung, die von Sommergästen und Wintersporturlaubern abhängig ist. Früher stand dort, wo heute Ammertal liegt, ein Kloster, von dem man sagt, es sei von den Berchtesgadenern niedergebrannt worden. Warum weiß niemand so recht und es fragt auch niemand danach; denn das ist schon vierhundert Jahre her.
Ursula und Günther Weiding sollten auf dramatische Art Bekanntschaft mit Ammertal machen. Sie hatten sich von Stuttgart für einige Wochen mit ihrem Wagen auf den Weg gemacht, um den südlichen Teil Deutschlands zu erkunden. So kamen sie gegen Ende ihres Urlaubs, auf der Rückfahrt von einem Tagesausflug nach Salzburg, auch ins Berchtesgadener Land und so auch an Ammertal vorbei. Einem seltsamen Zufall gleichend, gab der Wagen, der eigentlich vor dem Urlaub genauestes inspiziert worden war, protzend und ruckartig seinen Geist auf. Mitten in der Nacht, auf einer wenig befahrenen Landstraße, nicht weit von besagtem Dorf.
»Verdammter Mist!« fluchte Günther Weiding und schlug wütend auf das Lenkrad seines Wagens. Erfolglos versuchte er den Motor zu starten, dem nichts als ein verzweifeltes Jaulen zu entlocken war.
»Jetzt reg dich doch nicht so auf!« fuhr ihn Ursula an, die neben ihm saß. »So wird es nie was. Vielleicht müssen wir nur ein bisschen warten.«
»Kann ich mir kaum vorstellen. Ich werde Hilfe holen!«
»Hier? In dieser gottverlassenen Gegend?«
Resigniert blinzelte Günther durch die angelaufenen Scheiben, auf denen Wassertropfen willkürliche Striche durch den milchigen Belag zogen. Schließlich stieg er aus dem Wagen, Ursel folgte ihm…
»Da oben ist was«, sagte Günther.
Ursel wendete sich um und sah die schattenhaften Umrisse eines Hauses, das auf einem Hügel thronte. Seitwärts wurde es von zwei kargen Baumgerippen verdeckt, um die sich wild wuchernde Sträucher postiert hatten.
»Ich werd‘s dort probieren«, sagte Günther, tappte los und wurde bald vom Schatten des Hügels verschluckt. Kurze Zeit später ging Licht im Haus an, und die Tür öffnete sich. Im Lichtkegel erkannte Ursel jetzt ihren Mann, der sich mit einer gedrungenen Gestalt unterhielt…
»Entschuldigen Sie die späte Störung, aber unser Wagen ist stehen geblieben.« Günther deutete hinter sich. »Könnte ich wohl bei Ihnen telefonieren?«
Der weißhaarige Alte im ockerfarbenen Umhang lächelte und winkte ihn zu sich hinein. Drinnen war es gemütlich und warm. Der Duft von verbranntem Petroleum durchzog den Flur. Rechter Hand führte eine Treppe zu den oberen Räumlichkeiten. Links ging es in eine Art Wohnzimmer. Im Kamin, den man durch den Türspalt sehen konnte, loderte Feuer. Bei jedem Schritt hörte man die Dielen mürrisch knarren, weshalb Günther vorsichtig ging. Aber irgendetwas stimmte nicht. Nur seine Schritte schienen dem Boden Geräusche zu entlocken. Er sah auf die nackten Füße des Hausherrn und erstarrte. Der Mann schwebte einige Zentimeter über dem Boden. Günther blieb wie angewurzelt stehen. Der Alte schwebte zur Treppe und dann die Stufen hinauf, ohne eine von ihnen zu berühren. Jetzt drehte er sich um und Günther, der in seinem Schreck jeder Bewegung unfähig war, starrte in die tiefen Höhlen eines Totenschädels. Die Gestalt streckte ihre Arme aus, um nach Günther zu greifen. Aus den Ärmeln des Umhangs schoben sich langsam Knochenhände eines verwesten Skeletts, an denen noch Reste verwesten Fleisches hingen. Jetzt schwebte die Gestalt auf Günther zu, der sich nicht von der Stelle rührte, als hätte das Mönchsskelett ihn in einen magischen Bann gezogen. Die knochigen Finger legten sich um Günthers Hals, der unmerklich den Kopf zurücklegte, so als wolle er dem Geist sein Vorhaben erleichtern. Die Totenfratze des Geistes kam näher und näher…
Ursula Weiding saß im Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Aus unerfindlichen Gründen bekam die sonst so resolute Geschäftsfrau Angst. Sicher sah die Umgebung nicht gerade einladend aus und jeder andere hätte vermutlich bei dem nebligen Dunst, der sich über die von Vollmondlicht durchfluteten Wiesen ausbreitete, ein flaues Gefühl als völlig normal betrachtet. Nicht so Ursula Weiding. Sie hatte gelernt, Gefühle wie Angst, Trauer oder seelischen Schmerz unter Kontrolle zu halten. Bei den Managerkursen, denen sie regelmäßig beiwohnte, lernte sie es, aber auch durch das autogene Training, das sie schon als junges Mädchen beherrscht hatte. Ihr ganzes Leben war auf Erfolgsstreben ausgerichtet.
Ihre Heirat mit dem Finanzberater Günther Weiding war neben einer gewissen Zuneigung auch eine Entscheidung, die durch vernunftbetonte Überlegungen gefällt worden war. Sie, die eine ganze Abteilung unter sich führte, lernte plötzlich in dieser unheimlichen Nacht eine andere Seite an sich kennen, die ihr überhaupt nicht gefiel.
War da nicht gerade etwas? Ein Tier vielleicht?
Hat nicht etwas geraschelt? Blödsinn!
Wenn es etwas gab, das sie ausgesprochen albern fand, dann waren es Grusel- oder Schauergeschichten.
Aber da war doch gerade etwas…
Sie verurteilte jeden, der sich in irgendeiner Form mit Esoterik, Okkultismus oder ähnlichem Hokuspokus…
Da ist doch jemand…
…befasste. Es konnten nur ausgesprochene Kindsköpfe an solche Geschichten glauben, die in der Boulevardpresse tagtäglich breitgetreten werden.
»Aaaaaahhhhh!«
Ursula Weiding drehte sich blitzschnell um und schlug sich in ihrem Schreck den Ellenbogen an der Fensterkurbel der Beifahrertür, als jemand die Fahrertür sehr rasch geöffnet hatte.
»Musst du mich so erschrecken, du Idiot.«
»Hab dich nicht so, Ursel«, sagte Günther Weiding und stieg in den Wagen.
»Ich habe dich gar nicht kommen sehen. Das heißt, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass…«
»Lass gut sein. In der Hütte war niemand.«
»Wie bitte? Ich hab doch gesehen, wie…«
»ES WAR ABSOLUT NIEMAND IN DEM HAUS!!«
»Hey… schon gut. Du brauchst nicht gleich auszuflippen.«
Günther Weidings Blick klebte an der Frontscheibe des Wagens. Er atmete schwer. Sehr schwer.
»Und wie sollen wir jetzt hier wegkommen?«
»Darüber denke ich gerade nach.«
Einer unbewussten Eingebung folgend drehte Günther an dem Schlüssel. So als bestünde ja doch die Möglichkeit, dass der Wagen…
»Er springt an!« rief Ursula. »Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr.«
»Vielleicht ein Wackelkontakt?«
Günther sah seine Frau mit einem merkwürdigen Blick an, der viel sagte und doch auch nichts. Sie interpretierte etwas wie…
Als ob du etwas von Autos verstehst!
Und wieder überkam sie dieses merkwürdige Gefühl. Plötzlich hatte sie Angst, aber… nein, das gab es doch nicht. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Mann. Er schien irgendwie verändert. Die Art wie er den Gang einlegte, wie er die Handbremse löste und anfuhr. Das war doch nicht… So ein Blödsinn, dachte Ursula. Wie kann man sich nur von so einer Umgebung beeinflussen lassen? Wie beeinflussbar ist doch der menschliche Verstand!
»Hast du eigentlich den Brief an Flister abgeschickt, bevor wir losgefahren sind?«
Na also. Er ist wieder ganz der Alte. Fragt mich nach einem wichtigen Geschäftsbrief…
»Habe ich. Die Durchschläge habe ich abgelegt«, sagte Ursula Weiding und fühlte sich erleichtert. Sie steckte sich noch eine Zigarette an und lehnte sich entspannt zurück. Bald würden sie wieder im Hotel sein, sich ins Bett legen und diese Episode vergessen.
Am nächsten Morgen saßen sie beide am Frühstückstisch und kicherten sich gegenseitig an. Ursula versuchte ihn immer wieder mit einem verführerischen Augenaufschlag an die Stunden der vergangenen Nacht zu erinnern. Sie hatte so etwas in den ganzen vier Jahren ihrer Ehe nicht erlebt. Sicher hatte sie in diversen Frauenzeitschriften über multiple Orgasmen gelesen, doch waren das für sie eben solche Lügenmärchen wie Geistergeschichten. Dass sie selbst so etwas erleben würde, hätte sie niemals vermutet. In der letzten Nacht hatte sie es erlebt und erinnerte sich daran mit einem wohligen Schauer, der ihren Körper durchlief. Niemals hätte sie gedacht, dass Günther – geschweige denn sie selbst – zu solch lustvoll-exotischen Erlebnissen fähig wären. Sie hätte so gern darüber gesprochen, überwand aber nur zögernd ihre Hemmungen…
»Ähmm… Günther?« sagte sie und kicherte kopfschüttelnd.
»Was ist denn?«
»Was war eigentlich gestern Nacht mit dir los? Ich meine… So habe ich dich ja noch nie erlebt.«
»Was meinst du?«
»Es war…«
»Was?«
»Na ja… Es war noch nie so mit uns. Du weißt schon.«
»Es hat zwischen uns noch nie so gut im Bett geklappt, meinst du.«
»Hmm… ja.«
»Der alte Günther ist eben immer noch für eine Überraschung gut, mein Mäuschen.«
»Günther…«, sagte sie erstaunt und musste wieder kichern. Er hatte sie noch nie Mäuschen genannt. »Machst du jetzt auf Macho, oder was?«
Er warf die Serviette auf den Teller und nahm sich eine Zigarette aus Ursels Packung.
»Du rauchst wieder?«
»Ja. Stört es dich?«
»Nein… Das nicht. Es ist nur, weil es dich bei mir immer stört.«
»Du übertreibst, Schätzchen.« Ursula sagte nichts. Sie starrte ihn nur fassungslos an.
Das war doch nicht ihr Mann. Das war irgendjemand, aber nicht Günther, der vernünftige Geschäftsmann. Der verständnisvolle Ehemann, das war…
»Ich habe beschlossen, dass wir heute schon zurückfahren. Die Sache mit Flister geht mir nicht aus dem Kopf. Da stimmt irgendetwas nicht.«
»Entschuldige, aber da habe ich doch auch noch ein Wörtchen mitzureden.«
»Was? Du bist doch sonst diejenige, die ihren Beruf vor alles andere setzt. Ich habe ein Geschäft abzuschließen, das eine Menge Geld bringen kann, wenn man es geschickt anstellt. Ich hab das Gefühl, dass etwas schieflaufen könnte. Alles, um was ich dich bitte, ist ein klein wenig Verständnis.«
»Gut, wenn es für dich so wichtig ist…«
Sie fuhren nach Hause nach Stuttgart. Ursula Weiding hatte die Fahrt genutzt, um nachzudenken. Irgendetwas stimmte nicht. Es war, als kannte sie ihren Mann nicht wieder. Er saß nur da und starrte stur auf die Straße. Nicht einmal das Radio hatte er eingeschaltet. Woher kam die plötzliche Veränderung? Was war geschehen? Hatte es vielleicht mit dem Haus zu tun, in dem Günther verschwunden war und das angeblich leer stand? War diese plötzliche Veränderung in Günthers Wesen in dieser kurzen Zeitspanne vonstatten gegangen? Sicher war sein Job für ihn wichtig, aber niemals so, dass er einen Urlaub vorzeitig abgebrochen hätte, noch dazu aus solch trivialen Gründen. Sie hatte das Gefühl, als verheimlichte er ihr irgendetwas. Aber vielleicht täuschte sie sich auch bloß.
Zwei Wochen waren ins Land gegangen, in denen die Weidings ihr formales Alltagsleben wieder aufgenommen hatten. Zwei Wochen, in denen Ursula ihren Mann jedoch kaum zu Gesicht bekommen hatte. Er ging früher als sonst ins Büro und kam oft erst spät in der Nacht nach Hause. Und immer, wenn sie ihn darauf ansprechen wollte, wich er ihr aus, wechselte das Thema oder ging wortlos ins Bett. Er benahm sich entweder kühl und distanziert oder mit einer provozierenden Äußerung, die Ursula an Clint-Eastwood-Filme erinnerte, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Eines Abends kam Günther vergnügt nach Hause, schenkte sich einen Cognac ein und ließ sich auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder. Er sah Ursula an und sagte…
»Ich habe Neuigkeiten, mein Schatz.«
»So?«
»Teichmann hat mir heute einen Posten im Aufsichtsrat und die Teilhaberschaft angeboten.«
»Was? Aber du bist doch erst…«
»Zwei Jahre in der Firma. Aber durch einen geschickten Schachzug konnte ich meine Chancen erheblich verbessern.«
»Und der wäre?«
»Du weißt doch noch die Sache mit Schmidtgall, der bei dem Abschluss mit Flister Mist gebaut hat und versucht hat, es zu vertuschen.«
»Ja… Als du noch zu mir gesagt hast, dass das jedem hätte passieren können. Du wolltest ihm aus der Sache raushelfen.«
»Nun ja… Das stimmt schon. Aber ich habe die Sache eigentlich noch mal überdacht.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja… Ich habe diesen Vertrag, bei dem es schließlich um fünf Millionen ging, gerettet.«
»Aber Schmidtgall? Ich meine, er ist schließlich seit acht Jahren bei Teichmann. Und er war für den Posten im Aufsichtsrat vorgesehen.«
»Er war lange genug dabei. Er hatte nun mal keinen Biss mehr. So ein Fehler darf einem nicht unterlaufen. Nicht wenn es um so viel Geld geht.«
»Was meinst du mit war?«
»Ich sah mich leider gezwungen, Teichmann über den Vorfall zu informieren.«
»Was? Dann wurde Schmidtgall wegen dir…«
»Gefeuert… Ja. Na und? Er war selber schuld.«
»Aber wenn das bekannt wird. Und Teichmann wird dafür sorgen, dass es bekannt wird, dann wird ihn kein Unternehmen mehr einstellen. Mein Gott, Schmidtgall hat vier Kinder!«
»Oohhh. Das tut mir aber leid…« Günther zog Ursulas Bestürzung ins Lächerliche. »Er ist auch daran selber schuld. Man sollte sich schon überlegen, was man tut, wenn man vier Bälger in die Welt setzt!«
»Günther… Was ist nur los mit dir?«
»Was soll mit mir los sein, Schätzchen. Weißt du eigentlich, dass du heute Abend wieder sexy aussiehst?«
»Lass das, Günther.«
Er stellte das Glas auf den Tisch, erhob sich und ging langsam auf Ursula zu.
»Was hast du vor?« fragte sie mit einem Zittern in ihrer Stimme.
»Jetzt reg dich doch mal ab. Ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Wir haben schon lange nicht mehr…«
Er brach den Satz mit einem Augenzwinkern ab. Ein Zwinkern, das Ursula Angst machte. So wie damals im Wagen, auf dieser verfluchten Landstraße.
»Um nichts in der Welt würde ich jetzt mit dir ins Bett gehen, Günther.«
Er sagte nichts. Lächelte nur und kam näher. Bedrohlich näher.
Sie spürte ihren Herzschlag, wie er in der Schlagader ihres Halses pochte. Das Zittern erfasste ihren ganzen Körper und sie wich jeden Schritt zurück, den Günther näher kam. Er löste seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf an seinem Hemd.
»Lass das, Günther. Ich warne dich!«
Er lächelte nur und kam immer noch auf sie zu. Das Fatale an Ursulas Situation war, dass sie jetzt die Arbeitsplatte der Einbauküche im Rücken hatte und so keine Möglichkeit hatte, weiter zurückzuweichen. Günther lächelte nicht mehr. Jetzt begann er hämisch zu grinsen, wobei Ursel merkwürdige Gedanken durch den Kopf schossen. Hatte sie nun vor diesem Grinsen Angst, vor dem gierigen Blitzen in seinen aufgerissenen Augen oder vor der Tatsache, dass er sich den Gürtel aufschnallte?
»Günther, ich… ich warne dich. Lass den Blödsinn… Ich habe eine verfluchte Angst vor dir…«
Und diese verzweifelte Angst ließ sie mit ihrer Hand die Arbeitsplatte abtasten, ohne den Blick von ihrem Mann zu nehmen, der keine drei Schritte mehr entfernt war und immer noch dieses gehässige Grinsen im Gesicht hatte, wobei er sich jetzt noch zusätzlich mit der Zunge über die Lippen fuhr.
Plötzlich spürte sie unter der Hand den Holzblock, in dem die Küchenmesser steckten. Sie tastete nach einem der größeren Messergriffe, packte zu und zog es hastig heraus, so dass der ganze Block umkippte.
»ZURÜCK! Geh weg, verdammt noch mal…«, schrie sie und hielt das Messer über ihren Kopf erhoben, bereit zuzustechen. Oder doch nicht? Immerhin stand da der Mann, mit dem sie seit vier Jahren glücklich verheiratet war. Der jedoch seit ein paar Wochen all seine schlechten Charaktereigenschaften aus seinem tiefsten Innern gezerrt hatte.
»Das wagst du nicht…« murmelte er angriffslustig. Wenigstens hatte er dieses dämliche Grinsen abgelegt, dachte Ursel.
»An deiner Stelle würde ich es nicht darauf ankommen lassen.«
Beide standen sich für einige Sekunden wie erstarrt gegenüber und fixierten sich wie Jäger und Beute; wobei im Moment keiner von ihnen wusste, wer der Jäger und wer der Gejagte war. Dann schnellte seine rechte Hand blitzschnell nach vorn und packte ihre Kehle…
*
Bettina Sobanski zog sich den Bademantel über und rieb sich trocken, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie seufzte, nahm ihre Armbanduhr – es war Viertel nach zehn – und nachdem sie einen Fluch über die Unverfrorenheit mancher Menschen, die nichts Besseres zu tun hatten, als mitten in der Nacht bei anderen Leuten anzurufen, ausgesprochen hatte, ging sie zum Apparat.
»Sobanski!«
»Betty… Bist du wach? Ich bin‘s, Ursula.«
»Mein Gott, was ist los? Du bist ja vollkommen aufgelöst. Und wo bist du denn?«
»In einer Telefonzelle. Es ist was Schlimmes passiert. Kann ich… Kann ich vorbeikommen?«
»Natürlich. Soll ich dich abholen?« fragte Betty, sah in den Spiegel gegenüber und hielt es im selben Moment, in Anbetracht ihres klitschnassen Zustandes, für ziemlich dämlich, ihrer besten Freundin eine solche Frage zu stellen.
»Nein… Nein. Ich komme selber. Ich bin in fünf Minuten bei dir.«
»Ist gut. Ich werde…« Es klackte im Hörer. »…einen Kaffee aufsetzen«, flüsterte sie den Satz zu Ende und stellte fest, wie sich sämtliche Haare an ihrem Körper in Sekundenschnelle aufgestellt hatten. Noch nie hatte sie Ursula in so einem konfusen Zustand erlebt. Betty überlegte und kam zu dem zwangsläufigen Schluss: Etwas…
»… Furchtbares ist passiert. Günther, er… er… Er hat…« stammelte Ursula Weiding und stolperte in Bettinas Wohnzimmer.
»Jetzt setz dich erst mal hin. Ich bringe dir einen Kaffee und dann reden wir. Zieh deine Jacke aus und mach‘s dir bequem. Fühl dich ganz wie… Nein, lieber nicht.«
Bettina verschwand in der Küche und begann mit Geschirr herumzuklappern. Wenig später saß Ursel zusammengekauert auf Bettinas Sofa und klammerte sich an ein zerknautschtes Tempotaschentuch.
Betty klapperte nervös mit dem Geschirr und war froh, als sie ohne etwas zu verschütten die Tassen mit dampfendem Kaffee abgestellt hatte. Sie setzte sich und registrierte erst jetzt Ursels blaugrün-geschwollenes Auge.
»Das sehe ich jetzt erst. Mein Gott, Ursel. Wie ist denn das passiert?«
»Es war Günther. Er hat… Er wollte mich vergewaltigen. Ich hatte ein Messer und hab ihm an der Hand verletzt. Da hat er zugeschlagen. Ich hab ihm zwischen… mit dem Knie zwischen die Beine getreten und bin dann abgehauen, solange er noch am Boden lag.«
Zuerst saß Bettina mit offenem Mund da und brachte keinen Ton heraus, bis schließlich das Telefon klingelte.
Ursel zuckte zusammen.
»Warte«, sagte Bettina und ging zum Apparat. Diesmal ohne über die Unverfrorenheit mancher Leute nachzudenken, denn sie konnte sich denken, wer da anrief…
»Sobanski… Günther? Warum… Nein, Ursel war nicht hier. Nein, sie hat sich auch nicht gemeldet. Hey, Vorsicht mit deinem Tonfall… Idiot!«
Bettina legte auf und sah verängstigt zu Ursel.
»Das war Günther«, sagte sie und merkte, dass sie es sagte, um überhaupt etwas zu sagen, um diese unerträgliche Stille endlich zu unterbrechen. Im Nachhinein kam ihr die Bemerkung ziemlich bescheuert vor.
Ursel sah sie an und begann stoßweise zu lachen, so als wolle sie es zurückhalten. Dann begannen sie beide zu lachen. Sie lachten und hielten sich die schmerzenden Bäuche und Ursel dachte noch, wie schön es wäre, wenn Günther sie jetzt so sehen könnte. Er würde sich wahrscheinlich vor Wut wie Rumpelstilzchen in der Luft zerreißen. Doch dieser Gedanke verwandelte Ursulas Lachen stoßweise in jämmerliches Heulen und Bettina setzte sich direkt neben sie und nahm sie in den Arm.
Mehrere Tage vergingen. Ursula Weiding nutzte die Zeit, um sich zurückzuziehen. Sie ging weder zur Arbeit noch machte sie sonst einen Schritt vor die Tür. Bei Bettina fühlte sie sich wohl, oder zumindest in Sicherheit. Günther hatte sich nicht mehr gemeldet, was nicht zu bedeuten hatte, dass Ursulas Angst, er könne ihr nachstellen, nachgelassen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach wusste er sogar, wo sie war. Zu wem hätte sie sonst gehen sollen, außer zu Bettina? Sie war ihre beste Freundin und so ziemlich der einzige Ansprechpartner in der Stadt. Ansonsten gab es für Ursel und Günther nur gemeinsame Bekannte.
Ob sie es riskieren könnte, nach Hause zu gehen und noch ein paar Sachen zu holen, dachte sie. Aber warum? Im Grunde hatte sie alles, was sie brauchte. Nein, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann zog es sie zu Günther. Sie wollte wissen, was er machte. Sie hatte auch keine Angst vor ihm, sondern nur vor dem, was aus ihm geworden war. Vor diesem schrecklichen Teil seiner Persönlichkeit, den sie in den letzten vier Jahren nie zu Gesicht bekommen hatte. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund hegte sie die Vermutung, dass etwas hinter der Veränderung ihres Mannes steckte, das ganz und gar nichts mit ihrem Mann zu tun hatte. Konnte sich ein Mensch tatsächlich von heut auf morgen so verändern?
Die Haustürklingel riss sie aus ihren Gedanken. Wer konnte das sein? Da… Es klingelte wieder. Ein energisches Klingeln, so als…
Konnte das Günther sein? Es war später Nachmittag. Gleich müsste Bettina nach Hause kommen. Hatte sie vielleicht den Schlüssel vergessen? Es klingelte schon wieder. Etwas stimmte nicht.
Ursel erhob sich und ging langsam zur Tür. Sehr langsam. So langsam, dass der vermeintliche Besucher noch dreimal auf den Klingelknopf drückte. Die Sache war ihr nicht geheuer. Trotzdem ging sie weiter. Wenn es Günther war, so musste sie sich ihm stellen, dachte sie und stand schließlich vor der verschlossenen Tür, die unglücklicherweise keinen Türspion hatte. Keine Kette, die man vorlegen konnte. Sie war nicht einmal abgeschlossen. Sie lag nur eingerastet im Schloss.
Ursula Weiding legte ihre zitternde Hand auf die Klinke und lehnte sich ein Stück vor. Jetzt klopfte es. Sie drückte die Klinke herunter und zog die Tür langsam auf. Vorsichtig lehnte sie sich weiter vor, um einen Blick durch den Türspalt zu werfen. Keiner hatte versucht, die Tür aufzudrücken oder durch einen Tritt aufzustoßen. Ursels Verwirrung wurde größer, als sie den Priester erblickte, der sofort den Blickkontakt zu ihr suchte.
»Frau Weiding? Frau Ursula Weiding?«
»Ja, was…«
»Mein Name ist Lorsch. Pfarrer Lorsch. Ich komme aus Ammertal. Das liegt im…«
»Ich weiß, wo das liegt. Was wollen Sie?«
»Kann ich Sie bitte unter vier Augen sprechen? Es ist sehr wichtig.«
»Ich… Natürlich«, sagte Ursula und ließ den Pfarrer herein. Er nickte freundlich, lächelte und ging an ihr vorbei. Sie deutete auf das Wohnzimmer und Lorsch verstand die Geste. Er ging hinein, setzte sich und faltete die Hände.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, danke… Ich glaube, ich bin selbst viel zu aufgeregt, um etwas zu mir nehmen zu können.«
Ursula setzte sich auf den Platz, wo sie vor einigen Minuten noch sinniert hatte. Jetzt starrte sie gebannt auf den hochgewachsenen Mann in der Priestertracht, der offensichtlich nach den richtigen Worten suchte.
»Woher wussten Sie eigentlich, wo ich zu finden bin? Ich meine… Das ist nicht meine Wohnung, sondern die Wohnung von Bettina Sobanski. Ich wohne für einige Tage hier.«
»Darf ich fragen, warum Sie zur Zeit nicht bei sich zu Hause wohnen?«
»Nun, das ist eher eine private Angelegenheit. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir jetzt sagen würden, was Sie von mir wollen.«
»Es ist eine delikate Angelegenheit. Es geht vermutlich um denselben Grund, aus dem Sie hier wohnen. Ich denke, dass es mit Ihrem Mann zu tun hat.«
Ursula staunte nicht schlecht, verstand aber nicht, worauf der Priester hinauswollte. Durch ihren misstrauischen Blick verstand Lorsch sofort und fuhr in seinen Erklärungen fort…
»Ich habe etwa zwei Wochen gebraucht, um Sie zu finden. Über verschiedene Auskünfte auf Fremdenverkehrsämtern und in diversen Pensionen kam ich schließlich auf Ihre Spur. Gestern rief ich bei Ihnen zu Hause an. Es war schon sehr spät und Ihr Mann war sehr ungehalten. Ich versuchte mich nach Ihnen zu erkundigen, ohne den Anschein erwecken zu wollen, dass Sie etwas vor Ihrem Mann geheim halten wollen. Deshalb gab ich mich als einen alten Schulfreund aus, der ein Klassentreffen arrangieren möchte. Ihr Mann sagte mir, dass Sie nur hier zu finden sein könnten, auch wenn Ihre Freundin das Gegenteil behauptete. Nun gut…«
Er stockte und kratzte sich am Hinterkopf.
»Ist es richtig, dass Sie vor zwei Wochen Ihren Urlaub im Berchtesgadener Land beendet haben?«
»Das stimmt, aber…«
»Haben Sie gegen Ende Ihres Urlaubs das Städtchen Ammertal besucht?«
»Wir sind durchgefahren.«
»Frau Weiding, ist Ihnen oder Ihrem Mann irgendetwas Merkwürdiges passiert?«
»Warum? Nein, nicht dass ich…« Ursula schluckte das letzte Wort und erinnerte sich an die Nacht, in der sie zum ersten Mal diese seltsame Angst überkommen hatte.
»Erinnern Sie sich an etwas?« fragte Lorsch energisch.
»Ja… Ich meine… Ich weiß nicht, ob das etwas zu bedeuten hat.«
»Was ist es, Frau Weiding?«
»Unser Wagen. Unser Wagen ist stehen geblieben. Es war Nacht… Wir waren etwa zwei Kilometer von Ammertal entfernt.«
»War dort ein altes verlassenes Haus, Frau Weiding?«
»Ja! Günther war dort… Er wollte Hilfe holen.«
»Kam er Ihnen verändert vor? Ich meine, als er wiederkam. Hatte sich irgendetwas in seiner Persönlichkeit verändert, das Ihnen vielleicht Angst gemacht hat?«
»Ja! Aber ich hielt dieses seltsame Gefühl für Einbildung. Ich hatte schon Angst, als ich im Wagen saß. Alleine, als Günther in diesem Haus verschwunden war. Ich hatte jemanden gesehen. Da bin ich mir sicher, aber als Günther wiederkam, versicherte er mir, dass niemand in dem Haus gewesen sei.«
Lorsch nickte und atmete schwer. Dann hielt er sich die Handflächen vor das Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare. Ursula erschien es, als hätte sich ein Alptraum von ihm in ein reales Objekt verwandelt. Sie spürte wieder die Angst. Aber sie spürte auch, dass Lorsch dieselbe Angst hatte.
»Was ist mit Ihnen? Was hat das alles zu bedeuten?«
»Hat sich Ihr Mann in den letzten Wochen verändert?«
»Als ob Sie das nicht wüssten… Er hat sich nicht mehr um unsere Beziehung gekümmert. Er hat aus Profitgier dafür gesorgt, dass ein Familienvater seinen Job verliert, und er wollte mich vergewaltigen. Das sind Seiten, die ich von meinem Mann nicht kenne… Klären Sie mich auf, Herr Pfarrer.«
»Dazu muss ich weiter ausholen. Vor etwa vierhundert Jahren stand dort, wo Ammertal liegt, ein Kloster. Dort lebte ein Mann namens Josephus. Er hatte sich mit Alchimie befasst, verstand die Sterne zu deuten, hatte sich aber auch in der schwarzen Magie versucht. Angeblich hatte er es geschafft, den Teufel heraufzubeschwören, sich Dämonen zu unterwerfen und weitere unschöne Dinge zu vollbringen. Der Abt des Klosters verzichtete auf die Benachrichtigung der Inquisition, unter der Bedingung, dass Josephus ohne Umschweife das Kloster verlassen sollte. Der Abt wollte ihn für tot erklären und meldete, dass Bruder Josephus bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Die anderen Mönche stellten sich jedoch gegen die Entscheidung des Abtes und verbrannten Josephus bei lebendigem Leibe. In seinem Todeskampf legte Josephus einen Fluch auf das Kloster, das seltsamerweise kurze Zeit später von Bürgern aus den umliegenden Ortschaften niedergebrannt wurde. Ein halbes Jahrhundert später wurde Ammertal, das sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Wort Jammertal ableitet, gegründet.
In späteren Schriften wird von einem Einsiedler berichtet, der nicht weit vom Ort in einer einsamen Hütte gehaust haben soll. Ein Mönch, dessen Name nicht bekannt war. Als es darum ging, die Steuern der Einwohner einzutreiben, kam man auch zur Hütte des Einsiedlers, doch nie war dort jemand anzutreffen. Sie stand leer. Schließlich waren der Bürgermeister und zwei der Stadträte in die Hütte gegangen und hatten sie durchsucht, um die Identität des Mönches herauszubekommen. Nichts. Aber alle drei fand man einige Wochen später unabhängig voneinander mit samt ihren Familien tot auf. Die Leute behaupteten, der Teufelsjünger Josephus habe sie in den Tod getrieben. Es entstand ein Mythos, der sich bis in unsere Tage gehalten hat.«
»Und jetzt behaupten Sie, mein Mann wäre von dem Geist eines Mönchs besessen?« sagte Ursel forsch und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
»Ich fürchte, es ist so.«
»Herr Pfarrer, das scheint mir doch ein wenig sehr weit hergeholt.«
»Sehen Sie… Es ist mir egal, was Sie glauben. Ich kenne die Wahrheit. Und ich weiß, dass wenn wir es nicht in kürzester Zeit schaffen, Ihren Mann nach Ammertal zu bringen, dann stirbt er. Das Böse hat von ihm Besitz ergriffen und es versucht nicht nur seine nächste Umgebung zu zerstören, sondern auch den Körper, den es sich als Werkzeug gewählt hat. Sie sind die Einzige, die ihn dazu bringen kann, noch einmal in das Haus des Josephus zu gehen. Dort kann ich Ihren Mann von dem Geist befreien.«
Ursula schüttelte den Kopf.
»Das klingt alles nach einem zweitklassigen Horrorfilm, Herr Pfarrer. Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, dass mein Mann besessen sein könnte?«
»Ich merkte, dass etwas nicht stimmte, als sich an einem Sonntag zum Gottesdienst mehr als fünf Menschen in unserer Kirche aufhielten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist im Grunde ganz einfach, Frau Weiding. Normalerweise besteht meine Aufgabe in Ammertal darin, mich ruhig zu verhalten. Die Gottesdienste führe ich meist alleine durch. Ammertal ist ein verfluchter Ort. Die Menschen, die dort leben, sind meist arme Seelen, die in einem früheren Leben Böses getan haben und nun ihre Schuld abzahlen.«
»Wollen Sie damit sagen, Ammertal sei so etwas wie die Hölle oder das Fegefeuer?«
»Ammertal ist ein Ort der Sühne. Es gibt ein Gasthaus, aber keine Touristen. Es gibt eine Kirche, aber keine gläubigen Christen, es gibt Menschen dort, aber kein Zusammenleben. Die Leute meiden ihre Umgebung und werden von ihrer Umgebung gemieden. Beherrscht wird dieser Ort von dem Bösen, aber das Böse ist dort gefangen, wie in einem Käfig.«
»Und das Böse ist dieser Josephus?«
»Er ist ein Teil des Bösen, der die Macht hat, sich einen Körper anzueignen und diesen zu beherrschen. Alles Böse findet sich dann in diesem Körper vereint. Eine Stadt ist in der Lage, das Böse auf einem großen Raum zu verteilen und unter Kontrolle zu halten. Aber ein einzelner Mensch kann das nicht. Ich bitte Sie, Frau Weiding. Sie müssen Ihren Mann nach Ammertal bringen, sonst wird er sterben und dann wird Josephus sich einen neuen Körper suchen, mit dem er sein blutiges Werk fortsetzt.«
»Blutiges Werk?«
»Bis jetzt hat Ihr Mann sich noch nicht an einem anderen Menschen vergriffen, aber seine Skrupel schwinden von Tag zu Tag.«
»Woher wissen Sie das alles eigentlich? Ich meine…«
»1978 brachte ein Mann seine Familie und schließlich sich selbst um. Zwei Monate später tat der Polizeibeamte, der den Fall untersucht hatte, dasselbe. Es dauerte fast ein Jahr, bis Pfarrer Martin, mein Vorgänger in Ammertal, Josephus ausfindig gemacht und zurückgebracht hatte. In Gestalt eines jungen Mädchens, das dem Tode nur knapp entging.«
Lorsch beugte sich vor und nahm Ursulas Hand.
»Ich bitte Sie, Frau Weiding. Helfen Sie mir und vor allem Ihrem Mann.«
Ursula atmete schwer und zog wie benommen ihre Hand zurück.
»Ich werde es versuchen«, sagte sie wie benommen und schluckte. »Aber selbst wenn ich es will… Wie soll ich Günther nach Ammertal bringen? Was soll ich ihm erzählen, damit er mir folgt?«
»Sie sagen es doch bereits! Was gäbe es denn für einen Grund, das zu tun? Es müsste wichtiger sein als seine momentanen Interessen.«
»Und die wären?«
»Denken Sie daran, Frau Weiding. Ihr Mann ist im Moment nicht er selbst. Er ist ein Werkzeug des Bösen. Er benutzt seinen Namen und seine Erinnerungen, aber es ist nicht Ihr Mann, der den Körper beherrscht, sondern…«
»Josephus, der ruhelose Geist…«, spottete sie.
»Genau, auch wenn Sie es immer noch nicht ganz glauben können. Sprechen Sie ihn mit seinem Namen an. Sagen Sie ihm, dass Sie das Geheimnis kennen. Er wird Ihnen folgen, um Sie…«
»…unschädlich zu machen?«
»Ja… Aber bewahren Sie Ruhe. Ich werde da sein, um Sie zu beschützen. Sie und Ihren Mann.«
Ursel überlegte…
»In Ordnung, Herr Lorsch. Ich werde es versuchen!«
Lorsch nickte und lehnte sich scheinbar erleichtert zurück. Doch das Bild täuschte, denn alles hatte er Ursula nicht erzählt, und das konnte er auch nicht. Er durfte die Mission nicht in Gefahr bringen. Josephus musste zurück in seine Verbannung, selbst wenn es das Leben Günther Weidings kosten sollte. Er hatte es absichtlich nicht erwähnt, dass es in Wahrheit noch keiner überlebt hatte. Kein einziger hatte es geschafft, wenn Josephus zurück in die Verbannung ging. Angeblich sollte es möglich sein, den Exorzismus zu überleben. Aber geschafft hatte es bisher noch keiner…
*
Ursula Weiding umklammerte den Telefonhörer mit zitternden Fingern und hielt einen Moment inne. Sie konnte die Geschichte des Priesters immer noch nicht so recht glauben oder wollte es zumindest nicht. Aber das, was er gesagt hatte, obwohl es sich total verrückt anhörte, passte genau zu den Geschehnissen der letzten Wochen. Und obwohl Günther ihr nie weiter entfernt zu sein schien als jetzt, wusste sie, dass sie ihn liebte. Sie liebte ihn von ganzem Herzen. Und sie wusste, dass sie alles tun würde, um die alten Zeiten wieder herbeizuholen. Ursel wusste, was sie zu tun hatte.
Entschlossen legte sie den Hörer an ihr Ohr und wählte Günthers Nummer. Es läutete mehrere Male. War er vielleicht überhaupt nicht zu Hause? Es war kurz nach neun. Bettina hatte um sieben angerufen und gesagt, dass sie mit einem Kollegen noch etwas in der kleinen Bar um die Ecke trinken wollte. Der Priester war um halb acht gegangen. Von da an war sie allein mit ihren Gedanken gewesen, die natürlich Günther gegolten hatten.
Aber es war ja nicht Günther. Angeblich war es ja dieser verfluchte Teufel namens Josephus, der von ihrem Mann Besitz ergriffen hatte.
»Weiding?« meldete sich die fremd klingende Stimme von Günther.
»Hör zu, du Bastard. Ich weiß alles!«
»Ursula. Bist du es, Schätzchen?«
»Halt dein verdammtes Maul, Günth… Josephus!«
»Wie hast du mich genannt, du kleines Miststück?«
»Ich habe dich bei deinem Namen genannt. Und jetzt hör mir zu, du verfluchter Dämon. Lass meinen Mann in Ruhe, sonst…«
»Ja?«
»…sonst werde ich zu unfairen Mitteln greifen.«
»Du kannst mir keine Angst machen, Frau. Dein Mann ist hier bei uns sehr gut aufgehoben. Und er bleibt da, wo er ist. Er hat dich längst vergessen. Aber ich denke oft an dich. An unsere gemeinsame Nacht. Weißt du das noch? Du hast dich wirklich angestrengt in dieser Nacht. Für deinen Mann hättest du das nie getan…«
»Hör auf!«
»Gib es doch zu, du kleines Flittchen. Dein Mann hat dich doch seit Jahren nicht mehr gereizt…«
»Halt endlich deinen Mund!« schrie Ursula und konnte nur schwer die Tränen zurückhalten. »Hör zu! Ich fahre nach Ammertal und dann brenne ich deine verdammte Hütte nieder und werde die Asche mit Salz und Weihwasser bestreuen. Wie gefällt dir das?«
»Glaubst du etwa an diese Ammenmärchen von Geister- und Teufelsaustreibungen? Ich hatte dich eigentlich vernünftiger eingeschätzt.«
»Ich glaube an dich, du Bastard. Und dieser Glaube kann dich vernichten und das weißt du! Wir sehen uns in Ammertal, dann kannst du zeigen, was du draufhast!« sagte sie und legte auf, noch ehe Josephus etwas dazu sagen konnte. Eine seltsame Selbstsicherheit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie wusste plötzlich, dass der Priester nicht gelogen hatte. Woher sie dieses Wissen nahm und woher diese unheimliche Kraft, die sie spürte, ihr zuströmte, wusste sie nicht. Sie ging ins Schlafzimmer und nahm sich Bettinas Reisetasche, in die sie Kleidung für einige Tage stopfte. Bettina würde nichts dagegen haben, selbst wenn ihr Ursula nicht sagen würde, wohin die Reise ging. Sie wusste, dass sie sich durch niemanden verunsichern lassen durfte. Schließlich stellte sie die gepackte Tasche in den Flur und legte sich aufs Sofa, wo sie einschlummerte. Es war die erste Nacht, die sie seit den letzten zwei Wochen ruhig schlafen sollte.
*
Auf dem Weg nach Ammertal – sie hatte sich kurzerhand entschlossen, den Zug zu nehmen –, hatte Ursula Weiding Zeit, über die Geschehnisse der letzten Wochen noch einmal gründlich nachzudenken. Sie wusste, dass das, was der Priester behauptete, der Wahrheit entsprach, obwohl es sich zuerst nach einem schlechten Gruselfilm angehört hatte. Doch die Veränderung im Wesen ihres Mannes konnte nur auf einen übernatürlichen Einfluss zurückzuführen sein, denn über Nacht konnte sich ein Mensch nicht einfach von Grund auf in seinem Charakter wandeln. Ursulas letzte Zweifel waren beseitigt gewesen, als sie mit ihm am Telefon gesprochen hatte. Es war Günthers Stimme, doch ein anderer hatte ihm die Worte in den Mund gelegt, so wie ein Schauspieler, der eine für das Publikum unzumutbare Stimme hat, nachsynchronisiert wird und es letzten Endes dem Dialogregisseur überlassen bleibt, welche Worte der Schauspieler sprechen soll. In Günthers Fall handelte es sich nicht nur um eine makabere Synchronisation, sondern um eine Übernahme der Stimme, des Körpers, des Handelns und des Denkens.
Josephus musste sich des gesamten Inhaltes von Günthers Erinnerungsschatz bedienen und sein böses Spiel auf Günthers Leben aufbauen. So klar ihr die Zusammenhänge jetzt erschienen, so sehr wunderte sich Ursula Weiding jedoch über sich selbst. Sie, die vernunftbetonte Geschäftsfrau, war auf dem Weg in ein kleines Dorf, um einem Exorzismus beizuwohnen.
Der Zug fuhr nun durch ländlichere Gefilde und Ursula dachte an die Tage vor der bewussten Nacht. Es war ein wunderschöner Urlaub gewesen. Frei von all dem täglichen Stress in der Agentur. Günther war zärtlich und liebevoll gewesen, hatte Späße gemacht und sie hatte sich ein bisschen aufs Neue in ihn verliebt. Sie dachte an den Tagesausflug nach Salzburg mit dem Besuch im Tomaselli, dem ältesten Café der Stadt. Dort wurde man noch mit Gnä‘ Frau angesprochen und der Kellner verbeugte sich knapp zur Begrüßung.
Auf dem Predigtstuhl in vierzehnhundert Metern Höhe hatten sie eine Schneeballschlacht gemacht, wo es doch unten im Tal vor Hitze kaum auszuhalten gewesen war. Die Fotos vor der Wallfahrtskapelle Maria Gern…
Verflucht, warum mussten wir auch über dieses verdammte Nest fahren. Warum musste ausgerechnet bei dieser beschissenen Hütte diese Mistkarre stehen bleiben, dachte sie und begann den Kummer der letzten Wochen mit Sturzbächen von Tränen wegzuwischen. Sie war heilfroh, allein in diesem Abteil zu sitzen. Wenn jemand da gewesen wäre, hätte sie es sicher nicht geschafft, sich so gehen zu lassen. Sie wühlte hastig ein Päckchen Tempotaschentücher aus der Tasche und drückte sich eines vor Nase und Augen. Ihr war klar, dass sie jetzt stark sein musste. Sie musste durchhalten, denn diese Nacht würde nicht so friedlich verlaufen wie die letzte.
In dieser Nacht würde sie Josephus gegenübertreten. Sicher würde der Priester bei ihr sein, aber es ging um Günther und sie wusste, dass sie ganz auf sich allein gestellt sein würde. Irgendwann später lief der Zug in Berchtesgaden ein. Dort bestieg sie das nächstbeste Taxi und machte sich auf den Weg zu der kleinen Kirche in Ammertal, wo…
…Pfarrer Lorsch in seinem Zimmer vor dem kleinen Altar kniete und zu Gott betete.
Herr, gib mir die Kraft, das Böse aus diesem deinem Diener zu vertreiben. Gib mir die Kraft, meinen Glauben an dich und das Mysterium des heiligen Geistes zu bewahren, in welcher Gestalt das Böse uns entgegentreten mag. Dein sei Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Es war der erste Exorzismus, den sich der verhältnismäßig junge Priester stellen sollte, und er verbarg seine Angst hinter seiner Bibel, um die er beide Hände gefaltet hatte. Er hatte von den Ritualen, die einige seiner Vorgänger schon durchgeführt hatten, nur gehört. Niemals hatte er einen Exorzismus selbst durchgeführt. Im Film, ja im Film hatte er ihn gesehen, in dieser Verfilmung von Blattys Exorzist, den er sich als Theologiestudent angesehen hatte. Er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen, wie er und seine Freunde sich darüber lustig gemacht hatten. Wenn das Priesteramt so spannend wäre, würden sich viel mehr Leute in das Studium einschreiben. Einer, er glaubte, es war der junge Michael, hatte sogar behauptet, dass Reagan alias Linda Blair nicht vom Teufel, sondern von Vater Jonas besessen gewesen war, einem Dozent, den die Studenten seiner veralteten Lehrmethoden wegen den Schrecken der Abtei genannt hatten. Lorsch erinnerte sich, dass gerade dieser Priester ihn einmal beiseite genommen hatte…
Du lachst, aber der Leibhaftige existiert. In tausend Gestalten kann er dir begegnen und du wirst zittern um dein armseliges Leben und Gott wird deine letzte Zuflucht sein. Dein Lachen wird sich in tausend Tränen verwandeln und du wirst begreifen, mein Sohn, wie ernst es die Kirche mit ihrem Auftrag zu nehmen hat.
Damals war ihm noch ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, der sich jedoch schnell verflüchtigt hatte, nachdem der Schrecken der Abtei geendet hatte. Der konnte einem schon Angst machen, der alte Jonas. Aber wer konnte denn ahnen, dass es Lorsch einmal ernsthaft treffen könnte.
Wir sind doch hier nicht in Italien, wo alle zwei Wochen der Oberexorzist des Vatikans auszieht, um seine Standardaustreibungen vorzunehmen. Und wer hätte gedacht, dass es sein Bischof ernst meinte, als er ihn vor Ammertal gewarnt hatte.
Es ist ein verfluchter Ort, mein Sohn. Aber du wolltest eine kleine Gemeinde, weit ab vom Weltgeschehen…
Ja, das hatte sich Lorsch tatsächlich gewünscht. Er wollte alles, nur keine Schläger und Drogensüchtigen, die es auf den rechten Weg zu bringen galt. Nein, alle sind vor Gottes Augen gleich, doch bei diesen armen Menschen bekam man doch tagtäglich seine eigene Unfähigkeit vorgehalten. Und das wollte sich Lorsch nicht zumuten, wo er doch ohnehin nur sehr wenig Selbstvertrauen hatte. Jetzt bekam er die Strafe dafür, dachte er. Er wollte keinen Abschaum. Dafür bekam er den Teufel, den es zu bezwingen galt.
Er zweifelte noch ein bisschen, doch aus irgendeiner Ecke seines Bewusstseins hörte er eine Stimme… Das ist die Strafe, Priester. Du hast es nicht anders gewollt.
Dann zuckte er zusammen, als hätte ihm Jonas, der Schrecken der Abtei, eine Kopfnuss verabreicht, als es plötzlich an seiner Tür klopfte. Ursula Weiding und Pfarrer Lorsch standen sich einige Sekunden gegenüber, ohne dass einer von beiden irgendein Wort sagte. Im Grunde war dies auch nicht nötig, denn beide wussten, warum sie hier waren. Beide versuchten ihre Angst vor dem, was ihnen bevorstand, zu beherrschen. Und beide wussten, dass noch jemand fehlte. Jemand, der vermutlich erst sehr spät eintreffen würde. Jemand, der sich vorgenommen hatte, mit allen Mitteln um das zu kämpfen, was er sich angeeignet hatte.
»Frau Weiding. Ich freue mich. Bitte treten Sie ein«, sagte Lorsch und trat zwei Schritte zur Seite. Ursula Weiding ging in das karg eingerichtete Zimmer und stellte ihre Reisetasche auf den Boden, während Lorsch die Tür schloss.
»Darf ich Ihnen helfen, die Jacke…«
»Danke, es geht schon.«
Lorsch nahm ihren Mantel und hängte ihn an einen der freien Haken hinter der Tür. Ursula schaute sich im Zimmer um und faltete die Hände.
»Tja, da wären wir nun…«, sagte Lorsch. »Hatten Sie eine angenehme Fah…«
»Hören Sie, Pater. Ich möchte, dass wir gleich zur Sache kommen. Ich habe immer noch gewisse Zweifel, obwohl mir das, was Sie sagten, plausibel erscheint. Es wäre für mich wichtig zu erfahren, wie… was wir heute tun werden, wenn Günther oder das, was von ihm Besitz ergriffen hat, auftaucht.«
Lorsch zwang sich zu einem verzweifelten Lächeln und bat Ursula, Platz zu nehmen. Sie setzten sich. Lorsch suchte nach den richtigen Worten…
»Es ist auch für mich nicht leicht. Es wird der erste Exorzismus, den ich selbst durchführe. Ich habe Ihnen erklärt, dass Ihr Mann von einem Dämon besessen ist. Das Ritual soll den bösen Geist aus dem Körper Ihres Mannes vertreiben. Das wird über gemeinsame Gebete herbeigeführt. Wenn wir Ihren Mann dazu bringen, mit uns im Gebet einzustimmen und durch eine geweihte Hostie, die ich ihm in den Mund legen werde, den Segen der heiligen Kirche zu empfangen, dann wird der Geist aus seinem Körper weichen und an seinen Platz in dem Haus zurückkehren. Sie müssen versuchen, Ihren Mann zurückzuholen, das heißt, er müsste für eine kurze Zeit die Macht über seinen Körper zurückbekommen. Das geschieht, wenn Sie ihn mit seinem Namen ansprechen oder ihm einen Beweis Ihrer Liebe geben.«
»Einen Liebesbeweis?«
»Ja. Sehen Sie, Frau Weiding. Der Geist geht davon aus, dass Sie durch sein Verhalten die Liebe zu Ihrem Mann verloren haben. Das gibt ihm die Macht über Ihren Mann. Alle negativen Gefühle wie Hass, Abscheu oder Ekel sind der Nährboden für Josephus, auf dem er seine Existenz aufbauen kann. Die Liebe zu Ihrem Mann kann ihn letztlich nicht vertreiben, aber Ihr Mann kann Josephus selbst bezwingen. Die Vertreibung erfolgt durch das Ritual des Exorzismus.«
»Jetzt verstehe ich auch, warum es mit ihm immer schlimmer wurde. Weil meine Liebe und mein Vertrauen zu ihm von Tag zu Tag kleiner wurde.«
»So ist es, Frau Weiding.«
»Aber was könnte ich ihm für einen Liebesbeweis erbringen?«
»Das Einfachste wäre, es ihm zu sagen. Und das wird aller Wahrscheinlichkeit schwer genug, denn ich denke, dass sich Josephus allerlei Widerwärtigkeiten einfallen lässt, um Sie beide voneinander zu trennen…«
Die Stunden bis zum Abend vergingen nur langsam. Ursula Weiding hatte versucht zu schlafen, was ihr jedoch nur sehr schwer gelungen war. Pater Lorsch hatte ihr das Gästezimmer im Pfarrhaus vorbereitet. Es war klein und bescheiden eingerichtet, wie das ganze Haus. Ursula störte jedoch nicht die Ausstattung ihres Zimmers, sondern die Tatsache, dass sie sich hier von lauter Relikten der katholischen Kirche umgeben wiederfand. Auf dem Nachttisch lag eine Bibel, über dem Bett hing ein Kruzifix und auf der anderen Seite, über dem kleinen Holztisch, ein Marienbild. Rechts von ihr, neben dem Spiegel, der über der Miniatur eines Waschbeckens angebracht war, hing eine schlechte Reproduktion von Dürers betenden Händen und sie fühlte sich seltsam bedrückt zwischen all diesem Zeug, zu dem sie in ihrem Leben noch nie einen Bezug gehabt hatte. Als es draußen endlich dämmerte, spürte sie eine gewisse Erleichterung, endlich aus diesem Zimmer herauszukommen. Seltsam, dachte sie. Hätte sie nicht eigentlich Angst haben müssen oder zumindest Hände, die vor Aufregung zitterten?
Derweil zog sie sich in aller Ruhe ihre Jeans an und ging nach unten, wo Pater Lorsch schon auf sie wartete. Gemeinsam fuhren sie hinaus zur Hütte des Dämons. Auf der Fahrt erinnerte sie sich plötzlich wieder an jene Nacht, in der alles Übel angefangen hatte. Sie erkannte jede Kurve, jeden Hügel, obwohl es schon finster geworden war. Der Mond stand voll und groß am Nachthimmel und erleuchtete fahl die Wiesen, über die sich leichter Bodennebel ausgebreitet hatte. Ursula atmete schwer und ballte ihre Hände zu Fäusten.
War da nicht gerade etwas?
Dort hinter diesem Baum, der mit seinen Ästen gespenstische Schattenbilder auf die Wiese warf. Dürre Arme, die ihre knochigen Klauen in den Boden gruben. Huschte da nicht etwas hinter diesem Busch?
Stopp, dachte Ursula, du wirst schon wieder paranoid.
Dann tauchte die Hütte auf. Erst ganz klein, doch sie kam näher, Meter um Meter. Lorsch parkte den Wagen einem seltsamen Zufall gleichend genau an der Stelle, an der Ursulas und Günther Weidings Wagen vier Wochen zuvor seinen Geist aufgegeben hatte. Ursula und Lorsch stiegen aus. Beide starrten gebannt zu der Hütte und sahen sich dann fragend an, denn im Inneren der Hütte brannte Licht…
*
Sie waren bis zur Türschwelle gegangen und blieben dann im letzten Moment stehen. Die schwere Tür war lediglich angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen schob sich zwischen den Zargen und der Tür hindurch und warf einen schwachen Schein vor Ursula Weidings Füße.
»Ist er…«
»Er ist schon da«, unterbrach Lorsch flüsternd seine Begleiterin.
Er legte seine flache Hand auf die Tür und drückte vorsichtig auf, die sich knarrend nach innen auftat. Der Flur war durch den Schein einer Lampe erleuchtet. Es roch nach verbranntem Petroleum.
Sie traten langsam in den Flur, der zunächst einen gemütlichen Eindruck machte. Es war mollig warm. Ursula hätte sich am liebsten ihrer Jacke entledigt. Rechter Hand führte eine Treppe nach oben. Links schien eine Art Wohnzimmer zu liegen. Im Kamin, den man durch den Türspalt sehen konnte, loderte ein Feuer. Bei jedem ihrer Schritte hörten Ursula und Lorsch die Dielen mürrisch knarren.
»Tretet näher, verehrte Gäste. Es ist angerichtet…«, rief plötzlich eine Stimme aus dem Raum, der das Wohnzimmer zu sein schien. Ursula blickte zu Lorsch. Als er ihr zunickte, gingen sie hinein.
Vor dem Kamin stand ein Polstersessel mit hoher Lehne. Ursula bemerkte zwei Beine, die hinter ihm hervorlugten. Jemand saß darin…
»Günther?« fragte Ursula leise. Die Gestalt begann lauthals zu lachen. Lorsch zog zitternd ein Kruzifix hervor.
»Günther?«, sagte die Gestalt. »Wer ist Günther? Ach so, ja! Natürlich! Ursula, mein Goldschatz. Du bist es…«
Die Gestalt erhob sich. Ursula erkannte im flackernden Schein des Feuers ihren Mann. Er trug Jeans und ein verwaschenes Baumfällerhemd, das bis zum Bauchansatz aufgeknöpft war. Als sie sein Gesicht sah, erschrak sie. Seine Haare, die Günther sonst immer gepflegt hatte, hingen ihm in dicken Strähnen in sein blasses Gesicht. Er fuhr sich mit der Zunge über seine aufgesprungenen Lippen und fixierte die beiden Besucher mit blutunterlaufenen Augen, um die sich dicke Ringe gesetzt hatten.
»Und nun?« fragte er provokant.
»Das weißt du genau, Dämon«, sagte Lorsch mit einem leichten Vibrato in seiner Stimme.
»Leck du mich am Arsch, verfluchter Pfaffe. Zu dir komme ich später.« stieß er aus und trat langsam zu Ursula.
»Du weißt wohl nicht, dass man einer Dame den Vortritt lässt…«
»Du verdammter…«
»Pass auf, was du sagst, Pfaffe. Das ist nicht im Sinne deines sogenannten Herrn. Du musst mich mit Liebe bekehren. Hast du das vergessen?«
Lorsch, der einen Schritt auf Josephus zugegangen war, wich wieder zurück. Seine Finger umklammerten das Kruzifix in seiner Hand. Josephus warf einen kurzen Blick darauf und lächelte. Ursula stand wie angekleistert da und starrte auf den Geist, der in der Gestalt ihres Ehemannes näher kam.
»Du brauchst keine Angst zu haben, mein Sonnenschein. Ich würde dir doch niemals etwas tun. Es kann doch nicht angehen, dass ein Mann seiner Frau wehtut.«
»Du bist nicht mein Mann!«
»Aber Ursel…«
»Du wolltest mir wehtun!« sagte Ursula energisch, fast aufschreiend.
»Liebling, das ist eine völlig eindeutige Verkennung der Realität«, sagte er und seine Stimme kam ihr seltsam sanft vor, so als ob Günther wieder in seinem Körper steckte.
»Schatz, ich hätte dir doch niemals wehgetan. Und wenn es den…«
»Günther?«
»…Anschein hatte, dann tut es mir leid.«
»Günther, bist du das?«
»Aber Liebling, wer soll ich denn sonst sein?« sagte er und nahm ihre Hand. »Du weißt doch, mein Engel, ich hätte dir niemals wehtun können…«, fügte er hinzu und drückte ihre Hand.
»Günther, ich…«
»Niemals wollte ich dir wehtun…«, sagte er und drückte fester zu.
»Günther, nicht so fest, du tust mir weh…«
»Ich wollte dir nicht wehtun. Weißt du, was ich wollte?«
»Nein…« Ursula Weiding versuchte ihre Hand aus der Umklammerung zu ziehen. Ohne Erfolg.
»Ich wollte dich ficken! So, wie ich dich in der kleinen Pension gefickt habe!«
»Zurück, Ursula!« schrie Lorsch.
»Ich kann nicht…«
Josephus ließ sie nicht los, drückte aber auch nicht fester zu. Lorsch hätte Ursula Weiding sicher geholfen, wenn er sich von der Stelle hätte bewegen können. Aber seine Füße schienen mit Blei gefüllt und im Boden verankert zu sein.
»Es hat dir doch gefallen, du kleine Schlampe, oder?« zischte Josephus und fuhr sich abermals mit der Zunge über seine Lippen. »Es hat dir doch Spaß gemacht, wie ich dich hergenommen habe, du billige kleine Hure. Noch nie hat dich einer so gefickt wie ich.«
»Bitte… Hör auf…«, schrie Ursula verzweifelt und brach in Tränen aus.
»Oh, hab ich dir wehgetan…?«
»Günther… Bitte…«
Lorsch presste sich gegen eine unsichtbare Wand. Er wollte schreien, wenigstens das, aber er brachte keinen Ton mehr hervor. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und war erstarrt, wie sein ganzer Körper…
»Ich liebe dich, Günther!« presste Ursula mit letzter Kraft aus sich heraus.
»Was hast du gesagt, du Nutte?«
»Ich… liebe dich…«
»Verfluchtes Aas!«
»Ich liebe dich doch… Günther. Von… ganzem… Herzen…«
Plötzlich ließ Josephus von ihr ab. Ursula fiel auf die Knie und rieb ihre schwitzenden Hände. Der Dämon hatte sich umgedreht und ging einige Schritte auf den Kamin zu. Dabei hob er beide Arme und schnaubte vor Wut…
»Das soll man doch nicht für möglich halten. Dieses Miststück liebt diesen zweitklassigen Versager!« Er drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich liebe dich, Günther…« äffte er Ursula nach. »Oh, wie ich dich liebe. Du bist ja sooo toll…«
Ursula hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen. Aber jetzt ergossen sich Sturzbäche über ihre geröteten Wangen. Josephus kam wieder näher.
»Oh… Oh… Günther. Mein Augenstern…« trällerte Josephus und beschleunigte seine Schritte…
»Ich finde so etwas zum Kotzen!«, sagte er, holte mit dem rechten Bein aus und trat dem erstarrten Lorsch zwischen die Beine.
»Nein!« schrie Ursula und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Pater Lorsch hätte jetzt auch gerne geschrien. So gerne hätte er sich von dem ersten Schmerz durch einen gewaltigen Schrei befreit, aber er konnte es nicht. Für einige Sekunden wurde ihm schwarz vor Augen. Als er seine Umgebung wieder wahrnehmen konnte, sah er das Zimmer verschwommen und unklar. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Die einzige Möglichkeit für ihn, ein wenig von den Schmerzen, der Übelkeit und der Verzweiflung aus sich herauszupressen. Er rang nach Luft…
»Warum tust du das?« schrie Ursula und erstickte die letzte Silbe in einem Weinkrampf.
»Was?« fragte Josephus gelassen. »Was tue ich denn? Ich habe diesem Arschloch in die Eier getreten. Das habe ich getan.«
Er kniete zu Ursula, die erschrak und einen halben Meter auf den Knien nach hinten rutschte.
»Soll ich dir mal was über dieses kleine Arschloch da erzählen?«, sagte er und deutete mit dem Finger auf Lorsch.
»Weißt du, warum er überhaupt hierher kam? Weil er die Menschen in verschiedene Klassen einteilt. Für ihn sind Drogenabhängige Fischfutter. Alkoholiker sind Dreck. Und weißt du warum? Weil sein Vater ein Alkoholiker war, der sich im Treppenhaus das Genick gebrochen hat… Weil er zu besoffen war, um alleine die Treppen raufzukommen. Und weil seine Mami Tabletten geschluckt hat. Weil sie so viele Tabletten geschluckt hat, dass die Pharmaindustrie gar nicht mehr nachkam, sie zu produzieren…
Unser sauberer Priester hat es niemandem gesagt, aber vor seinem beschissenen Herrn konnte er seine Vergangenheit nicht verstecken. Der hat ihn nämlich hierher geschickt. Er will sich nicht um die Schäfchen des Herrn kümmern, die sich mit Koks die Nase pudern, aber jetzt will diese Mistsau, die selbst ein kleiner Teufel ist, es mit mir aufnehmen. Mich aus dem Körper deines Schweinegatten herausbeten. Was würde er denn machen, wenn ich mir einen Junkie ausgesucht hätte? Würde er sich für den auch so den Arsch aufreißen?«
Josephus stand auf und ging zu dem Priester, der seine Augen geschlossen hatte. Lorsch brach zusammen. Die unsichtbaren Klauen, die sich um seinen ausgelaugten Körper geschlungen hatten, ließen ab von ihm und er fiel vor Josephus auf die Knie. Ursula Weiding machte Anstalten, ihm aufzuhelfen.
»Bleib, wo du bist, Schlampe!« brüllte Josephus.
Lorsch blickte erschrocken auf. Das Unglaubliche, das er im ersten Moment für eine Halluzination gehalten hatte, war Wirklichkeit geworden. Er hatte in dem gebieterischen Brüllen die Stimme seines Vaters erkannt. Und jetzt, als er seine erstarrten Augen auf den riesigen Körper richtete, erkannte er auch die Gestalt seines Vaters, der mit einer Schnapsflasche in der Hand vor ihm stand und ihn mit verächtlichem Blick anschielte.
»Falls du deine Mutter suchst, mein Junge. Die sitzt in der Anzeigenannahme der Morgenpost. Suche ledigen Apotheker, dem ich als Matratze aushelfen würde, solange er mich mit Glücksperlen versorgt!« sagte die Gestalt mit einer verrauchten Stimme und begann höhnisch zu lachen.
Ursula Weiding kauerte in einer Ecke des Zimmers und zitterte am ganzen Leib. Natürlich sah sie keinen betrunkenen Alten vor Lorsch stehen. Sie konnte nichts von all dem Schrecken, der jetzt über Pater Lorsch hereinbrach, wahrnehmen. Sie blickte voller Mitleid zu der auf den Knien liegenden Gestalt im Priestergewand, die jetzt fürchterlich zu weinen begann. Es schien, als vergieße Lorsch all die Tränen, die er aus seiner Kindheit in dieses Höllenhaus mitgebracht hatte. Er umklammerte das Kruzifix mit beiden Händen und atmete nur noch stoßweise.
»Hör doch endlich auf! Lass ihn in Ruhe, du Schwein!« schrie sie hysterisch, sprang auf und stürzte sich auf den Dämon. Lorsch sah indessen, wie seine Mutter plötzlich ins Zimmer stürmte und sich auf seinen Vater warf. Beide stürzten und rollten zur Seite. Die Gestalt seines Vaters raffte sich auf und holte mit der Schnapsflasche in seiner Hand nach Mutter Lorsch aus. Natürlich war es nur eine Illusion, ein Trugbild, das sich wie ein Schleier vor die Augen des Priesters gelegt hatte.
In Wirklichkeit rang dort Ursula Weiding mit dem Dämon, der von dem Körper ihres Mannes Besitz ergriffen hatte. Er hatte sich auf sie geworfen und drückte ihr seine rechte Hand an die Kehle. Ursula rang verzweifelt nach Luft, während sie sich gleichzeitig freizumachen versuchte. Dabei brachte sie Josephus einige Kratzer auf seinen Wangen bei.
Lorsch richtete sich auf, das Kruzifix in seiner Hand, aus dem plötzlich eine blitzende Klinge schoss. Das Messer, das dazu diente, den Dämon wieder zu bannen, denn nur der Tod konnte den Besessenen von dem Dämon befreien. Ihn an den Ort des Todes fesseln. Nur darum hatte er Ursula Weiding hierher gelockt. Günther musste hier sterben. Und die Gelegenheit war günstig. Josephus hatte dem Priester den Rücken zugekehrt.
Er hob das Kreuz mit der Klinge und holte zu einem tödlichen Stich aus, bei dem er auf den Rücken des Dämons zielte. Nun war es soweit. Jetzt galt es zu handeln. Und in dieser Sekunde zog Lorschs Leben an seinen Augen vorbei. Er weinte. Er weinte, wie damals, als er im Alter von sieben Jahren mit ansehen musste, wie sein eigener Vater seine Mutter im Rausch erschlagen hatte. Wie er dem Jungen nachgerannt war, um ihm das Gleiche anzutun, und wie er die Treppen hinunterstürzte, wo er sich das Genick gebrochen hatte. Er dachte an die ersten Monate in dem katholischen Waisenhaus, in denen ihn schreckliche Alpträume geplagt hatten. Alpträume wie dieser, der sich jetzt vor seinen Augen abspielte.
Er stürzte nach vorn und trieb die Klinge in den Rücken der Bestie. Doch Lorsch spürte keinerlei Widerstand, so als bestünde die Bestie aus reiner Luft.
Er brach durch die Gestalt des Dämons und stürzte auf Ursula, in deren Brust er die Klinge trieb. Sie schrie. Bäumte sich unter Lorschs blutiger Hand noch ein letztes Mal auf und sackte dann leblos zurück auf den Boden. Lorsch erwachte aus seinem Alptraum und sah sich mit dem nächsten konfrontiert. Unter ihm lag Ursula Weidings blutüberströmte Leiche. In ihrer Brust steckte die Klinge des Kruzifixes, das er in der Tradition der Priester für den Exorzismus mitgenommen hatte.
Aber was war geschehen? Wo war…
Dann zerschnitt ein lautes Lachen die knisternde Stille im Zimmer und eine dunkle Gestalt erhob sich aus dem Polstersessel vor dem Kamin. Die Gestalt kam langsam auf Lorsch zu.
Was der Priester sah, ließ ihn zu Stein erstarren. Er sah Josephus in seiner wahren Gestalt. Seine Stimme klang fremdartig…
»Sie hätten dich niemals hierher schicken dürfen, Priester. Du hast dich blenden lassen. Deine Angst war mein Verbündeter. Der Rest war nur ein Traum.«
*
Günther Weiding stieg aus dem Aufzug und betrat mit eiligen Schritten die Büroräume seiner Agentur. Ohne Notiz von den Blicken der Umstehenden zu nehmen, hielt er stur auf sein Büro am Ende des Ganges zu. Die Leute um ihn herum grüßten ihn nicht. Keiner wagte es, ihn anzusprechen, da jedes Wort falsch, jeder Satz zur mitleidigen Floskel degradiert sein konnte. Er verschwand in seinem Büro und schloss energisch die Tür hinter sich.
Das Gemurmel im Raum wurde wieder lauter.
»Was ist denn jetzt los?« fragte eine junge Frau, die erst eine Woche in der Agentur arbeitete, ihre Kollegin.
»Das war Günther Weiding«, sagte die andere flüsternd. »Hast du es denn nicht in der Zeitung gelesen?«
»Nein. Was denn?«
»Seine Frau wurde von einem verrückten Priester ermordet. In Bayern. Sie hat angeblich ein Verhältnis mit ihm gehabt, wollte sich aber von ihm trennen. Da hat der Priester sie erstochen. Man fand ihn neben der Leiche sitzen. Er soll schneeweiße Haare gehabt und nur noch wirres Zeug geredet haben.«
»Das ist ja furchtbar!«
»Heute ist Günthers erster Arbeitstag seit ihrer Beerdigung. Deshalb tuscheln hier alle so.«
»Verständlich… Schau mal, die Tür zu seinem Büro geht auf.«
»Was tut er denn da?«
»Sieht aus, als wechsele er sein Namensschild aus.«
»Warum das denn?«
»Keine Ahnung. Was stand denn auf dem Schild?«
»Na, G. Weiding, was denn sonst?«
»Jetzt ist er wieder verschwunden. Warte mal. Was steht da? J.G. Weiding!«
»Für was steht denn das J? Hat er seinen Namen geändert?«
»Weiß nicht… Aber ich werd‘s erfahren.«
»Wie das?«
»Ich hab ‚ne Verabredung mit ihm heute Abend. Mit seiner Frau lief schon lange nichts mehr. Wir waren schon zweimal aus.«
»Habt ihr etwa miteinander…«
Die Sekretärin grinste… »Ich kann dir sagen… Er ist ein Tier im Bett!«

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