Telefon

Ein Zimmer, in der Einrichtung karg gehalten. Ein Stuhl, vor einem leeren Tisch. Gegenüber ein altes Sofa. Rechts daneben ein Regal, in dem sich Bücher stapelten. Auf der anderen Seite ein dunkelblonder Mann, nicht älter als dreißig, der an seinem Bügelbrett stand und sorgfältig ein T-Shirt zusammenlegte. Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Träumereien. Er zog den Stecker des Eisens aus der Dose und ging zum Apparat.
»Forrain.«
Ein leises Rauschen im Hintergrund, vielleicht Straßengeräusche, sonst nichts.
»Hallo? Wer ist denn da?«
Jetzt war es ihm, als höre er ein Atmen. Ganz leise… Dann klackte es im Hörer, und das Besetzzeichen dröhnte in monotonen Intervallen. Andre seufzte und legte auf.
Das Bügeleisen konnte auf dem Tisch am besten auskühlen. Andre klappte das Bügelbrett zusammen und trug es an seinen Platz unterm Schrank im Schlafzimmer. Wieder klingelte es, und Andre eilte ins Wohnzimmer zum Telefon, nahm ab und…
»Forrain?«
Ein Rauschen, ein Atmen, vielleicht sogar ein schwaches Wispern.
»Wer ist denn da?«
War da ein Kichern, oder hatte er sich verhört? Man hört so vieles, wenn man ins Nichts lauscht. Ein Klicken, ein monotones Tuten. Andre legte auf.
Man beginnt zu grübeln in einer solchen Situation. Andre grübelte.
Plötzlich war alles klar. Jemand hatte eine falsche Nummer bekommen und probierte es. Womöglich noch ein zweites Mal, weil er dachte, er hätte sich verwählt.
Jetzt musste es aufhören.
Es klingelte. Andre riss den Hörer von der Gabel und horchte. Ein Rauschen…
»Jetzt hört der Spaß aber auf.«
Er ließ den Hörer in die Gabel fallen. Sein Herz schlug schnell und stark. Er saß auf dem Sofa und rieb sich die Augen. Das, an was er nicht denken wollte, kam von selbst.
Quälende Erinnerungen holten ihn ein, packten ihn und pressten ihn auf seinen Sitz. Unfähig, sich zu bewegen, hörte er das Klingeln. Er nahm nicht ab. Irgendwann hörte es auf und fing wieder an. Andre presste sich mit den Händen die Ohren zu. Bilder nahmen Gestalt an, Bilder von Menschen und Orten, von Begebenheiten und Namen. Kristina, immer wieder Kristina. Jetzt sah er ihr Bild wieder ganz deutlich. Die blonden Locken, die Sommersprossen und der verzweifelte Hass in ihren Augen…
»Aber ich liebe dich doch! Komm bitte zurück…«, wimmerte sie, vor ihm auf dem Boden kniend, die Hände gefaltet.
»Nein!«
»Du musst aber. Ich kann doch ohne dich nicht leben…«
»Kristina, nein! Ich habe mich entschieden.«
Sie packte ihn und trieb die spitzen Fingernägel in seine Waden. Flehend versuchte sie, ihn zu sich auf den Boden zu zerren.
»Bitte! Ich hab dich doch so lieb.«
»Kristina, warum hast du mich dann jahrelang wie den letzten Dreck behandelt? Immer musste ich auf dich Rücksicht nehmen. Niemals mit Freunden weggehen. Keine Freiheit, kein Sex. Sechs verfluchte Jahre lang. Ich kann nicht mehr. Ich habe dich genauso geliebt, aber ich kann nicht mehr!«
»Nein! Nein! Nein!«
Es klingelte. Andre nahm nicht ab. Er dachte an Kristinas Einweisung in die Klinik. Borderline-Syndrom. Ein Wort, das so gut wie nichts sagte. Grenzgänger zwischen Neurose und Psychose. Was könnt ihr euch schon darunter vorstellen, dachte er. Borderline-Syndrom; schwere Ich-Störung, mit zeitweiligem Realitätsverlust. Ihr habt keine Ahnung, wie das ist, dachte er.
Es klingelte.
Am Ende der Beziehung war er selbst verrückt geworden. Dachte nur noch an ein mögliches Entrinnen. Wie oft hatte er es sich vorgestellt, Hand an sich zu legen, Selbstmord zu begehen. Keiner hatte es verstanden. Wirklich verstanden. Nicht mal Andres Familie. In Gedanken hörte er wieder die Stimme seiner Schwester…
»Also ich möchte mich wirklich nicht in eure Sachen einmischen…«
Andre hockte auf den Stufen im Treppenhaus. Barbara stakte vor ihm auf und ab.
»Kristina hat mich heute Morgen um sechs aus dem Bett geklingelt. Gestern Abend hat sie mindestens achtmal angerufen und gefragt, wo du bist. Ich weiß nicht, was bei euch los ist, aber bitte geh hin und sag ihr…«
»Ich habe Morddrohungen gekriegt!«
»Was?«
Andre schluchzte. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Sie haben gesagt, wenn Kristina sich etwas antut…, bin ich ein toter Mann.«
»Wer hat das gesagt?« Liebevoll legte sie ihren Arm um ihn.
»Kristinas Mutter hat es gesagt. Kristina dreht völlig durch. Ich kann nicht mehr, Barbie. In den letzten Monaten ist es immer schlimmer geworden. Ich durfte nichts mehr ohne sie tun. Immer, wenn es ihr schlecht ging, war ich für sie da. Nachts musste ich oft stundenlang mit ihr reden. In den letzten sechs Jahren haben wir zweimal miteinander geschlafen. Ich will nicht mehr dorthin!«
»Das musst du auch nicht, Andre. Das musst du auch nicht…«
Andre hatte das Telefon ganz leise gestellt, doch das schwache Rattern dröhnte wie eine Sirene in seinen Ohren. Sechs Jahre lang keine Minute Ruhe. Sechs Jahre, in denen er immer darauf bedacht sein musste, was er sagte oder tat. Jede falsche Äußerung konnte sie in panische Raserei versetzen. Sechs Jahre, in denen er ihre Eifersucht, ihre Angst vor Schmerzen, ihre Angst vor der Angst ertragen musste. Bis Andre begriff, dass seine Beziehung zu Kristina ein krankes System aus Schuld und Angst gewesen war.
Dann die Trennung. Eine Woche Hölle, in der das Telefon, jedes Telefon, zu einem erbitterten Feind wurde, weil hinter jedem Klingeln sie steckte, die ihn jagte, ihn verfolgte, ihn vernichten wollte. Dann die Anzeige.
Nötigung. Dann die Einweisung. Diagnose: Borderline-Syndrom. Angeblich hatte der Psychiater viele Dinge gesagt. Andre sei eine Projektionsfläche, eine Bezugsperson, auf die Kristina fixiert gewesen sei und die sie nun verzweifelt versuchte wiederzubeschaffen. Was wusste der schon…
Nun war ein Jahr vergangen. Ein ganzes Jahr, in dem er sie vergessen hatte. Tatsächlich vergessen, so wie man eine Grippe vergisst, wenn man geheilt ist.
Und jetzt?
Das Telefon setzte erbarmungslos die Martern fort, hörte nicht auf, ihn zu quälen. Ließ ihn näher und näher an einen Abgrund rutschen, den Andre längst bezwungen glaubte.
Andre hockte vor dem Apparat. Es ratterte, und jedes Mal zuckte er heftiger zusammen, drückte er das Messer, das er aus der Küche geholt hatte, tiefer in seine Handfläche. Sie war draußen. Natürlich war sie draußen. Sie kannte seine Nummer und wusste, wo er wohnte. Wer sollte es sonst wohl sein? Sie hatte ihn genauso wenig vergessen, wie er sie. Ein Jahr reichte nicht, um die Hölle zu vergessen. Es ratterte. Sein Brustkorb hob sich, senkte sich und tat es immer schneller. Er hasste das Telefon, er hasste sie und ihre Krankheit, er hasste sich selbst, als er plötzlich, es ratterte, das Messer in eine Zimmerecke schleuderte und den Hörer von der Gabel riss.
»Lass mich endlich in Ruhe!«
Von den Beamten, die sich in der Wohnung des jungen Mannes tummelten, verstand keiner, was geschehen war. Weder die Nachbarn noch die Freunde, bei denen Andre sich seit Wochen nicht mehr gemeldet hatte, wussten eine Erklärung. Keiner konnte die Geschehnisse rekonstruieren, die sich vor Tagen in dem Appartement abgespielt haben mussten.
Die Wohnung war verwüstet, im Kühlschrank fauler Gestank. Das Kabel des Telefons aus der Wand gerissen, der Apparat zerschlagen.
Stumm trugen die schwarz gekleideten Männer die Trage aus der Wohnung, auf der die Leiche eines jungen Mannes lag, den die Polizei wenige Stunden zuvor gefunden hatte.
Im Bad erhängt, mit der Schnur des Telefons.


Lesezeit wird berechnet…
Szenen wird erstellt…