Der Friedhof atmete Nebel in der Oktobernacht, als Margret sich zwischen die Grabsteine schlich. Ihre nackten Füße hinterließen feuchte Spuren auf dem gemähten Gras, während der Saum ihres schwarzen Mantels über die Erde strich wie ein flüsterndes Versprechen.
Lot 47, Reihe 23. Sie kannte den Weg. Blind.
Dann stand sie vor einem Grab. Vor seinem Grab. Und ließ sich nieder.
»Mein Liebster«, hauchte sie gegen den kalten Marmor. Ihre Finger strichen über die gemeißelten Buchstaben: Thomas Reid, 1971-2023, In Liebe gestorben.
In Liebe gestorben. Wenn die wüssten.
Sie ließ den Mantel fallen. Darunter trug sie nichts als ihre Trauer und einen Hunger, den nur er stillen konnte. Die Kälte biss in ihre Haut, ließ ihre Brustwarzen hart werden, aber das war Teil des Rituals. Alles musste sein wie in jener Nacht vor einem Jahr.
Margret ließ sich langsam auf die Grabplatte sinken. Der Stein schlug eiskalt gegen ihren Rücken, genau wie sein Körper in den letzten Sekunden gewesen war. Sie schloss die Augen und erinnerte sich.
Sein Gesicht über ihr, verzerrt vor Lust. Seine Hände um ihre Hüften. Der Moment, als seine Augen sich weiteten – nicht vor Ekstase, sondern vor Erkenntnis. Der Moment, als sein Herzschlag aussetzte, genau als er kam.
Ihre Hand wanderte zwischen ihre Schenkel. Hier, nur hier, konnte sie noch fühlen. Nur auf seinem Grab fand ihr Körper noch Erlösung.
»Vergib mir«, flüsterte sie, während ihre Finger langsam zu kreisen begannen. »Vergib mir, dass ich dich nicht loslassen kann.«
Der Wind trug den Geruch von verrottendem Laub heran. Ihre Bewegungen wurden schneller, verzweifelter. Sie presste ihren Rücken gegen den kalten Stein, als könnte sie durch ihn hindurch zu Thomas gelangen.
Und dann – im Moment kurz vor dem Höhepunkt – spürte sie es wieder.
Die Hand.
Eiskalt, von unten durch den Marmor greifend, direkt in ihr Herz. Nicht bedrohlich. Flehend. Sie spürte seine Faust im Nacken stärker zupackend. Dann nach ihren Haaren greifend. Sich darin festkrallend. Mit Gewalt ihren Kopf nach hinten ziehend und so, als wolle er ihren Hals freilegen, in dem er sich jeden Moment festbeißen wollte.
»Ja«, keuchte sie. »Ja, ich bin hier. Ich bin…«
Der Orgasmus durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. In diesem Moment des kleinen Todes sah sie ihn. Thomas. Gefangen in jenem letzten Augenblick, eingefroren zwischen Ekstase und Tod. Seine Augen starrten sie an – nicht tot, nicht lebendig, sondern verdammt zu ewiger Erregung ohne Erlösung.
»Hilf mir«, formten seine Lippen. »Jedes Mal wenn du… spüre ich es… kann aber nicht…«
Die Vision zerriss, als ihr Körper erschlaffte. Margret lag keuchend auf dem Grab, Tränen auf den Wangen. Seit einem verfickten Jahr. Seit einem Jahr kam sie hierher, Nacht für Nacht. Jede Nacht spürte sie ihn, genau in diesem einen Moment, in dem sie kam.
Was sie nicht wusste: Unter der Erde, im Seidenfutter des Sarges, krallten sich Thomas‘ Finger ins Holz. Sein Körper – einbalsamiert und präpariert – zeigte noch immer Anzeichen jener letzten Erektion. Die Totenstarre hatte ihn in jenem Moment eingefroren, in dem es kein Zurück mehr gab.
Sein Geist war gefangen auf der Schwelle der Ekstase. Weder im Diesseits noch im Jenseits, sondern in jenem kurzen Moment zwischen »la petite mort« und dem wahren Tod. Und jedes Mal, wenn Margret auf seinem Grab kam, sich zu ihm bettete, durchlebte er es erneut. Die Lust. Den Schmerz. Die Sehnsucht nach Vollendung, die ihm auf ewig verwehrt blieb.
Andere Witwen brachten Blumen. Margret brachte sich selbst – Nacht für Nacht, getrieben von einer Sucht, die stärker war als Trauer. Sie wusste nicht, dass sie ihn damit folterte. Dass jeder ihrer Höhepunkte seine Qual verlängerte.
Oder vielleicht wusste sie es doch. Vielleicht war das ihre Art der Rache. Dafür, dass er sie verlassen hatte. Dafür, dass er gekommen und gegangen war – im selben Atemzug.
Als der Morgen graute, erhob sich Margret. Ihre Haut war blau vor Kälte, ihre Schenkel klebrig. Sie zog den Mantel über und küsste den Grabstein.
»Bis heute Nacht, mein Liebster.«
Im Erdreich darunter verkrampften sich tote Finger. Die Qual der Unvollendung. Die Hölle der ewigen Erregung.
Manche sagen, die Hölle sei Feuer und Schwefel. Für Thomas Reid war sie der eingefrorene Moment zwischen Höhepunkt und Tod, erlebt durch die Lust seiner Witwe, die nicht loslassen konnte.
Und würde.
Bis auch sie ihren letzten kleinen Tod sterben würde. Auf seinem Grab. Bei ihm. Mit ihm. Für immer vereint in jenem qualvollen Augenblick zwischen Ekstase und Erlösung.
Die Friedhofsgärtner wunderten sich über das Gras auf Grab 47. Es wuchs wilder, üppiger als anderswo. Als wäre die Erde dort… hungriger?
Sie wunderten sich auch über die seltsamen Flecken auf dem Marmor. Was sie nicht sehen konnten, waren die Kratzer an der Unterseite der Steinplatte, die aussahen, als hätte jemand – oder etwas – versucht, sich voller Verlangen durch den Stein zu kämpfen.
Niemand wunderte sich über die Witwe, die jeden Morgen mit verweinten Augen und einem Lächeln auf den Lippen den Friedhof verließ.
Hätte jemand geahnt, was in den Nächten geschah, hätten sie vielleicht das Grab mit Salz bestreut oder den Leichnam verbrannt. Doch manche Lieben sind zu stark für den Tod. Und manche Tode zu schwach für die Liebe.
Thomas Reid war der lebende, tote Beweis dafür. Gefangen in seinem letzten Atemzug, verdammt dazu, die Ekstase seiner Witwe zu spüren, ohne sie je teilen zu können.
Die perfekte Hölle für einen Mann, der im Moment höchster Lust gestorben war.
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