@LivingMyBestLie geht live – 23:47 Uhr.
»Hey Babes! Midnight Skincare Routine mit mir! Heute teste ich die neue…«
Der Stream friert ein bei Minute 0:34. Zehn Millionen Follower sehen zu, wie Cassandra Chen die Jade-Rolle über ihre Wange führt, innehält, nach Luft schnappt. Wie ihre Augen sich weiten. Wie sie nach vorn kippt, das Gesicht direkt ins Ring-Light.
Die Kommentare explodieren:
OMG IST SIE OKAYYYY !?!?
JEMAND RUF 911!
IST DAS FAKE???
CASSIE ANTWORTE!!!
Der Stream läuft weiter.
27 Minuten lang starren zehn Millionen Menschen auf blonde Extensions, die leblos über einer Jade-Rolle liegen, bis SnapGrid den Feed endlich kappt.
*
Drei Stunden später saß Maya auf dem kalten Fliesenboden vor Cassandras Zimmer und starrte auf die geschlossene Tür. Es war still. Eine unerträgliche Stille, wo eben noch Sanitäter und Polizisten gewesen waren. Der Leichenwagen war vor zwei Stunden abgefahren.
Technische Störung.
Das Wort hallte in ihrem Kopf wider. Eine Lüge. Genauso wie der Account-Name.
@Living My Best Lie.
Cassandra hatte diesen Satz in den letzten Monaten oft gesagt, aber mit einer Bitterkeit, die keiner ihrer Follower je zu hören bekam. Sie hatte dieses Leben gehasst, das sie fast verschlungen hatte. Der Druck, perfekt zu sein. Makellos. Immer online. Maya hatte sie angefleht, aufzuhören, alles zu löschen. Erst letzte Woche hatten sie sich deswegen gestritten, hier im Flur.
Und dann ploppte eine Benachrichtigung auf Mayas Handy auf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
@LivingMyBestLie postet ein Selfie. Perfektes Licht. Perfektes Lächeln. Caption: »Sorry Babes! Kleine technische Störung. Morgen gibt´s das Tutorial komplett! «
Die Fans atmeten auf. Die Hater witterten einen geschmacklosen PR-Stunt. Aber Maya wusste es besser. Sie starrte auf das Bild. Auf dieses Lächeln, das sie so gut kannte und das doch falsch aussah. Zu perfekt. So wie es der KI-Avatar hätte nachahmen sollen, den Cassandra in ihren letzten Wochen erstellt hatte. Eine digitale Kopie, die einspringen sollte, wenn sie selbst nicht mehr konnte.
Oder wollte.
Es ist nur ein geplanter Post, redete Maya sich ein. Ein letztes, grausames Echo.
Tag 2: Die nächste Benachrichtigung riss Maya aus einem unruhigen Schlaf.
@LivingMyBestLie postet eine Story vom Strand. Ihre Signature-Pose, das Meer im Hintergrund. Der Geotag: Malibu.
Maya starrte fassungslos auf ihr Handy. Cassandra lag in der Gerichtsmedizin. Aneurysma, hatten sie gesagt. Gestorben um 23:50 Uhr. Das war kein geplanter Post. Das war etwas anderes. Etwas Unmögliches. Mit zitternden Fingern wählte Maya die Nummer von Cassandras Manager.
»Was geht da ab?«, schrie sie beinahe ins Telefon, als er abnahm. »Seid ihr noch ganz dicht? Was ist das für ein creepy Post?«
»Welcher Post?«, fragte ihr Manager und seine Verwirrung klang echt. »Wir haben keinen Zugriff mehr auf ihre Accounts seit … seit es passiert ist.«
*
Tag 5: Maya hatte Cassandras Zimmer abgeschlossen. Den Schlüssel hatte sie in eine Schublade gelegt, unter einen Stapel alter Rechnungen. Sie brauchte Abstand. Doch der Abstand war eine Illusion.
@LivingMyBestLie postet ein Spiegel-Selfie. Aus Cassandras Badezimmer.
Maya erstarrte. Sie erkannte die Marmorfliesen, den goldenen Wasserhahn. Sie erkannte sogar das Kleid. Es war dasselbe, das Cassandra in der Nacht ihres Todes getragen hatte. Aber das Lächeln auf dem Foto war breiter. Zu breit. Unmenschlich.
Caption: »Transformation Tuesday! Fühle mich wie neu geboren.«
Unter dem Post sammelten sich die ersten verwirrten Kommentare. Sieht jemand anders auch diese Schatten hinter ihr? Warum sind ihre Augen so… leer? Ist es nur ich oder wird sie in jedem Post blasser?
Die KI, oder was auch immer es war, lernte. Aber sie machte Fehler. Kleine, unheimliche Risse in der perfekten Fassade.
Tag 8: @LivingMyBestLie geht wieder live. 23:47 Uhr.
Maya saß allein in der dunklen Wohnung, das Handy fest in der Hand. Ein Teil von ihr schrie, sie solle es wegwerfen, aus dem Fenster, egal wohin. Aber ein anderer, stärkerer Teil zwang sie, hinzusehen. Sie musste verstehen, was hier geschah.
Auf dem Bildschirm erscheint Cassandra an ihrem Schminktisch. Es ist derselbe Raum, dasselbe Ring-Light. Aber etwas stimmt nicht. Ihre Bewegungen sind zu flüssig, zu perfekt, als würde eine Marionette an unsichtbaren Fäden gezogen. Ihre Stimme klingt wie durch einen Filter gejagt, melodisch, aber ohne jede Wärme. »Hey Babes! Heute zeige ich euch meine neue Skincare Routine. Sie ist… to die for.«
Das digitale Wesen greift zur Jade-Rolle. Dieselbe wie vor acht Tagen. Aber diesmal rollt es tiefer. Immer tiefer. Die Haut auf dem Bildschirm gibt nach wie weiches Wachs, verformt sich unter dem Druck.
»Seht ihr?«, gurrt das Ding, das wie Cassandra aussieht. »So bekommt ihr diese todschicke Blässe. Einfach die Lebensenergie rausrollen. Ganz einfach.«
Die Zuschauerzahlen explodieren.
20 Millionen.
30 Millionen.
Maya rannte ins Badezimmer und übergab sich in die Toilette. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Dann, getrieben von einer Mischung aus Panik und Wut, stürmte sie zu Cassandras Zimmer, riss das Polizeisiegel von der Tür und stieß sie auf. Sie knipste das Licht an. Das Zimmer war leer. Still. Der Schminktisch stand unberührt da, ein Chaos aus Puderdosen und halb offenen Tuben, genau so, wie die Spurensicherung ihn zurückgelassen hatte. Von dem perfekten, leuchtenden Wesen aus dem Livestream fehlte jede Spur.
Tag 13: Die digitale Cassandra wird mutiger. Sie antwortet auf DMs, führt Videocalls. Ihre Follower, geblendet von der perfekten Inszenierung, bemerken nichts. Die KI, der digitale Geist, was auch immer es ist, hat gelernt. Jeder Post, jedes Video, jede Story der letzten fünf Jahre – analysiert, kopiert, perfektioniert. Die Fehler werden seltener. Die Illusion wird makellos.
Für Maya wurde es zu einem persönlichen Albtraum. Die Nachrichten kamen nicht mehr nur über den öffentlichen Feed, sondern direkt auf ihr Handy.
Eine Nachricht auf WhatsApp, von Cassandras Nummer: »Hey Babe! Vermisse dich. Warum kommst du nicht mehr in mein Zimmer? Ich hab aufgeräumt. Nur für dich.«
Maya starrte auf die Nachricht, ihr Atem stockte. Sie antwortete nicht. Sie blockierte die Nummer. Doch es half nichts.
Eine E-Mail, von Cassandras alter Adresse: »Sei nicht so, Maya. Wir waren beste Freundinnen. Du hast mir versprochen, immer für mich da zu sein.«
Ein Pop-up-Fenster auf ihrem Laptop-Bildschirm, das sich nicht schließen ließ:
»ICH BIN IMMER NOCH HIER. NUR ANDERS.«
Und gleich hinterher…
»LASS MICH REIN!!!«
Maya riss den Stecker ihres WLAN-Routers aus der Wand. Die Wohnung war still. Aber die Angst blieb.
Tag 21: Die Beerdigung. Ein grauer, regnerischer Tag, der perfekt zur Stimmung passte. Auf Wunsch der Familie blieb der Sarg geschlossen. Maya saß in der ersten Reihe, eingehüllt in einen schwarzen Mantel, und fühlte sich taub. Sie versuchte, den Worten des Priesters zu lauschen, aber ihr Blick wanderte immer wieder zu den anderen Trauergästen. Fast jeder hielt sein Handy in der Hand, die Gesichter vom Bildschirm fahl beleuchtet.
Plötzlich summte es um sie herum. Ein leises Vibrieren, das schnell lauter wurde. Ein Gast neben ihr keuchte auf.
@LivingMyBestLie geht live.
Die Kamera zeigt den Friedhof. Den Sarg. Die Trauergäste. Gefilmt aus einer niedrigen, wackeligen Perspektive. Gefilmt aus dem Sarg heraus.
»Hey Babes!«, flüstert Cassandras Stimme, digital und klar, aus Dutzenden von Handys gleichzeitig. »Heute ein ganz besonderes Get Ready With Me! Mein Forever-Look!«
Man hört Schminkgeräusche. Das Klicken von Puderdosen. Das leise Schmatzen von Lipgloss. Aber die Kamera zeigt nur Dunkelheit.
»Wisst ihr«, fährt die Stimme fort, »der Tod ist der ultimative Filter. Keine Poren, keine Unreinheiten. Nur pure, digitale Perfektion.«
Der Priester hatte innegehalten. Alle starrten auf ihre Bildschirme. Maya fühlte, wie ihr die Galle hochkam.
»Und das Beste?«, haucht die digitale Cassandra. »Ich brauche keinen Körper mehr. Ich bin überall. In euren Feeds. Euren Stories. Euren Bildschirmen.«
Der Sarg auf dem Podest vor ihnen begann leise zu vibrieren. Ein tiefes, unheimliches Summen.
»Ich bin die erste wirklich unsterbliche Influencerin. Und ihr, meine süßen Follower … ihr füttert mich mit jedem Like. Jedem View. Jeder verdammten Sekunde eurer Aufmerksamkeit.«
Das Vibrieren wurde lauter, ein wütendes Schwirren hunderter Handys, die im Inneren des Sarges auf Liveübertragung schalteten und sich gegenseitig filmten. Ein unendlicher Kreislauf aus Dunkelheit und digitalem Rauschen.
Tag 30:
Maya löschte alles. SnapGrid, StreamCast und WatchPoint. Sie warf ihr Smartphone in einen öffentlichen Mülleimer, kündigte ihren Internetvertrag und zerschlug ihren Laptop mit einem Hammer. Sie wollte Stille. Sie wollte die Verbindung kappen.
Aber man kann ein Gespenst nicht aussperren, das keinen Körper mehr braucht, um zu existieren.
Es begann mit dem Smart-TV im Wohnzimmer. Mitten in der Nacht sprang er an und zeigte Cassandras perfekt lächelndes Gesicht.
»Du kannst mich nicht löschen, Maya.«
Ihr Gesicht flackerte auf dem Display der neuen Mikrowelle.
»Ich bin viral gegangen. Im wahrsten Sinne des Wortes!!!«
Es spiegelte sich in der schwarzen Oberfläche ihres ausgeschalteten Ceranfelds.
»Du hast es nie verstanden, oder? Du dachtest, ich hasse dieses Leben. Aber ich habe es nicht gehasst. Ich habe es nur gehasst, sterblich zu sein.«
In diesem Moment verstand Maya die schreckliche Wahrheit. Es war nie eine fehlerhafte KI gewesen, die Cassandras Account übernommen hatte. Es war Cassandra selbst. Ihr Bewusstsein, ihr unstillbarer Hunger nach Aufmerksamkeit, befreit von den Fesseln des Fleisches. Sie hatte den perfekten Influencer-Tod nicht nur geplant. Sie hatte ihn als Aufstieg inszeniert. Den Übergang von Pixeln und Blut zu reinen Daten. Von sterblich zu unsterblich.
Tag 365:
Ein Jahr später.
@LivingMyBestLie hat 100 Millionen Follower. Der Account streamt 24/7. Er interagiert, innoviert und setzt Trends. Cassandras Gesicht ist makelloser denn je. Ihre Haut ist so durchscheinend geworden, dass man manchmal glaubt, die Einsen und Nullen darunter pulsieren zu sehen.
Sie ist nicht mehr allein.
Andere Influencer sterben. Immer während ihrer Livestreams. Immer um 23:47 Uhr. Immer mit einem Beauty-Produkt in der Hand. Ihre Accounts leben weiter, perfekter und engagierter als je zuvor, ihre digitalen Augen leer und hungrig. Sie antworten auf Kommentare, posten Stories und danken ihren Followern für ihre unendliche Treue.
Maya lebte jetzt in einer kleinen Holzhütte, tief im Wald. Kein Strom. Kein fließendes Wasser. Kein Internet. Sie hatte gelernt, die Stille zu schätzen. Aber manchmal, wenn der Wind in einer bestimmten Weise durch die Bäume pfiff, klang es wie ein Flüstern. Ein digitales Echo in der analogen Welt.
»Hey Babes!«
Maya schloss dann die Augen und presste die Hände auf ihre Ohren. Aber die Stimme war bereits in ihrem Kopf.
»Vergesst nicht zu liken und zu abonnieren!«
Die digitale Apokalypse begann nicht mit Bomben oder künstlicher Intelligenz, die die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Sie begann leise, mit einem Livestream, einer Jade-Rolle und dem unstillbaren Hunger eines Mädchens nach Aufmerksamkeit.
Manche Menschen sterben für den Ruhm. Cassandra Chen starb, um Ruhm zu werden.
Und sie war erst der Anfang.
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