Was ist schwieriger? Den Schleier der Angst zu heben oder den richtigen Anfang der Geschichte, die ich niederschreiben will, zu finden? Es regt sich in mir wie eine Schlange, die sich der alten unbrauchbar gewordenen Haut entledigt, und trotz der quälenden Zweifel, beginne ich das in Worte zu fassen, was sich zutrug, als ich noch ein Kind war. Als Fabelwesen für mich noch existierten. Als ich noch ohne Furcht die unheimliche Stille des Waldes durchwanderte, und als das Leben noch neu und geheimnisvoll mich in seinem unbarmherzigen Strom mitriß. Heute, es ist Nikolaustag, kann ich vielleicht mehr darüber sagen, als es mir an irgendeinem anderen Tag möglich wäre, denn damals war es das selbe Datum und eine ähnliche Melancholie lag in der Luft. Es ist, als sei es gestern gewesen, als Großvater in den Raum stapfte und kalte Schneeluft in das sonst so wärme Zimmer fegte…
Ich saß zusammengekauert mit dem alten Kater im Arm an dem Kachelofen, der so viel Wärme spendete, daß ich die Hauspantoffeln unter der Bank gelassen hatte. Der Kater, trotzdem er halbschlafend in meinen Armen hing, grabschte ab und zu nach meinen Zehen, die ich absichtlich bewegte, um ihn vom Einschlafen abzulenken. Die Tür sprang auf und Großvater betrat des Zimmer. Der Schwall eiskalter Schneeluft, der nun durch des eben noch warme Zimmer fegte, ließ meine Glieder zusammenzucken. Der Kater sprang erschrocken von der Bank und lief in die Küche, in der Großmutter das Abendessen bereitete. Großvater hatte die Türe geschlossen und trottete mit schleifenden Schritten dem Kater hinterher. In der Hand hielt er einen toten Hasen, der ihm wohl in eine seiner Fallen gegangen war, und dem er jetzt mit geübter Hand das Fell abziehen würde.
Ich liebte die Weihnachtsferien bei meinen Großeltern. Vater und Mutter schickten mich immer voraus in die Berghütte. Erst kurz vor Heiligabend kamen sie immer an, des Geschäftes wegen. Hier, in der rauhen Bergwelt Oberbayerns, war Weihnachten noch das, was man sich davon erzählte. Nicht etwa ein Fest der Hektik, Arbeit und Konsums, sondern ein Fest des Friedens und der Familie. Ich freute mich jedes Jahr aufs neue. Ich liebte den Wald, dessen unheimliche Stille oft von noch unheimlicheren Geräuschen untermalt wurde. Hier knackte ein Ast, dort raschelte es in den Tannen. Von irgendwoher krähte, jaulte oder rauschte es. So oft schon war ich allein durch den Wald gestrichen. Allein mit meinen Gedanken, denen man hier ungehindert freien Lauf lassen konnte. Hier kannte ich mich aus, hier fühlte ich mich wohl.
Großvater kam in die Wohnstube und ließ sich in dem schweren Ledersessel vorm Kamin nieder. Abends brannte ein Feuer darin, das im Grunde zu nichts anderem diente, als daß man sich vom lodernden Züngeln der Flammen gefangen nehmen lassen konnte. Für die Wärme sorgte ja der Kachelofen. Beim Flackerlicht des Feuers lauschte ich oft gespannt den Geschichten des Großvaters, der sich immer einen Spaß machte und die Unheimlichsten zum Schluß erzählte. Dann, wenn es längst dunkel geworden war, und es an der Zeit für mich war, ins Bett zu gehen…
Er erzählte von Kobolden, Trollen und anderen unheimlichen Wesen, die angeblich den Wald bevölkerten. Dennoch hätte er es nie geschafft mir so viel Angst einzuflößen, daß ich nicht mehr allein in den Wald gegangen wäre. Im Gegenteil. Ich wünschte mir, eines Tages einmal ein solches Wesen zu sehen. Damals hätte ich jedoch nie gedacht, daß der Wunsch tatsächlich Wirklichkeit werden sollte…
Großvater hatte sich ein Pfeifchen angesteckt und winkte mich zu sich. Ein Zeichen, auf das ich ungeduldig gewartet hatte. Ich kauerte mich in seinen Schoß und legte meinen Kopf auf seine Brust.
„Habe ich dir eigentlich schon die Geschichte vom alten Schrebermann erzählt?“ brummte er.
„Nein, Opa.“ Gespannt blickte ich zu ihm auf.
„Hmm… Es war einmal ein Holzfäller, der lebte vor langer Zeit hier in unserem Wald. Er hatte eine Hütte, gar nicht weit von hier. Eines Tages, es war der Nikolaustag, hatte er sich an einer besonders hohen Tanne zu schaffen gemacht, als sich ein Kind aus dem Dorf im Wald verirrte. Schrebermann, so hieß der Holzfäller, wußte davon nichts, obwohl die Leute im Dorf bereits alarmiert und Suchtrupps losgezogen waren, um den Buben zu suchen. Die Tanne fiel. Als Schrebermann sich daran machte, die Äste abzuschlagen, entdeckte er die Leiche des Kindes unter der Tanne. Es war vom Baum erschlagen worden. Er nahm das Kind und brachte es ins Dorf. Die Eltern des Kindes verfluchten den alten Einsiedler und behaupteten, er habe das Kind mit Absicht getötet. Natürlich konnte er seine Unschuld nicht beweisen. So lastete von nun an ein Fluch auf ihm, der ihn nicht mehr ruhen ließ. Auch nach seinem Tode ist er angeblich oft im Wald gesehen worden, besonders um die Weihnachtszeit. Er streift umher, Tag und Nacht, und holt sich Kinder, die sich im Wald verlaufen haben, aus Rache an denen, die ihn damals verfluchten. Also wenn du das nächste Mal in den Wald gehst, paß auf, daß dich der alte Schrebermann nicht holt!“
„Erzähl doch dem Jungen keine Schauergeschichten!“ rügte ihn Großmutter, die mit dem Abendessen hereinkam. Großvater zwinkerte mir lächelnd zu.
„Wascht euch die Hände und kommt zum Essen…“, befahl sie und wir gehorchten.
Am nächsten Tag war ich wieder allein in die verträumte Winterlandschaft aufgebrochen. Die Geschichte des Großvaters konnte mich nicht davon abhalten meine Streifzüge fortzusetzen. Ich kraxelte über schneebedeckte Wurzeln, beobachtete Spechte, Hasen und sogar einen Fuchs, der sich aber rasch davonmachte, als er mich gewittert hatte. Stunden verstrichen wie im Fluge und plötzlich begann es zu dämmern. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, daß ich mich viel zu weit vom Haus entfernt hatte. Wenn ich mich beeile, kann ich es noch schaffen bevor es dunkel ist, dachte ich und rannte los. So gut als möglich stapfte ich zwischen den Bäumen durch knöcheltiefen Schnee, als ich plötzlich mit meinem Fuß in einer Wurzel hängenblieb und der Länge nach in den Schnee fiel. Beim Aufstehen spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Knöchel, der mir Tränen in die Augen trieb. Ich lehnte an einer schweren Tanne und dachte verzweifelt daran, daß ich mächtig Ärger bekommen würde, da ich es nun niemals vor Einbruch der Dunkelheit schaffen würde, nach Hause zu kommen. Verzweifelt sank ich in den Schnee. Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als es plötzlich zwischen den Tannen raschelte. Stampfende Schritte knarrten im Schnee, die unaufhörlich näher kämen. Niemand war zu sehen, und doch hörte ich ganz deutlich das Stampfen, das mich erschaudern ließ. Dann stand ein Mann vor mir, dessen Anblick mein rasendes Herz noch schneller schlagen ließ. Die hünenhafte Gestalt musterte mich mit großen bläulich funkelnden Augen. Ein weißer Rauschebart schloß sich an das von Falten zerfurchte Gesicht. Unter seinem moosgrünen Umhang lugten Kniebundhosen bevor, die um grüne Wollsocken geschnürt waren. An den Füßen trug er schwere Bergstiefel. Er lehnte den langen Wanderstock an einen der Bäume und kniete sich zu mir.
„Brauchst keine Angst haben, Bursche“, knurrte er und machte sich daran, meinen inzwischen geschwollenen Knöchel zu untersuchen.
„Ist verstaucht!“‚ stellte er fest, packte mich, als wäre ich leichter als Luft und stapfte los. Den Wanderstock klemmte er unter den Arm.
Der Marsch schien endlos. Es war dunkel, als wir an eine Blockhütte kamen, die verträumt in einer kleinen Lichtung lag. Die Tür war nicht abgeschlossen… Der Alte trug mich hinein und setzte mich auf einen der Stühle, die um einen massiven Eichentisch standen. Im Kamin loderte ein gemütliches Feuer. Natürlich fiel mir Großvater ein, und ich fragte mich, ob er schon nach mir suchen würde…
Während unseres Marsches hatten der Alte und ich kein Wort gewechselt. Auch Jetzt, wo er sich erneut niederkniete und vorsichtig meinen Knöchel abtastete, wurde nichts gesprochen. Schließlich hängte er seinen Umhang an die Garderobe und verschwand in der Küche. Zurück kam er mit einem Tablett auf dem Speck und frisch duftendes Bauernbrot lag. Mir lief das Wasser im Munde zusammen.
In der anderen Hand trug er einen Tonkrug. Beides stellte er vor mir auf den Tisch. Aus einem kleinen Regal holte er einen Becher, setzte sich mir direkt gegenüber und begann mit seinem Messer den Speck zu schneiden….
„Hast du Hunger, mein Sohn?“, fragte er ohne mich anzusehen.
„Ja, ziemlich…“
„Er hielt mir ein Stück Speck vor die Nase, daß auf der Spitze des Messers steckte. Als ich jedoch danach greifen wollte zog er seine massige Pranke zurück und grinste mich an. Jetzt erst fielen mir seine dunkelbraunen Zähne auf, die krumm und schief aus seinem Kiefer wucherten.
„Das muß ich mir aber erst noch mal überlegen, Söhnchen…“
Mir wurde mulmig. Anscheinend war der hilfsbereite Alte, doch nicht so gutmütig wie es den Anschein gehabt hatte.
Er füllte seinen Becher und trank ihn in einem Zuge leer. Dabei rann ihm blutroter Wein am Kinn herab. Der Alte wischte sich mit seinem Hemdsärmel über den Mund, während ich meine zitternden Hände zwischen die Schenkel klemmte und verzweifelt versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Plötzlich hatte ich Angst. Schreckliche Angst vor diesem alten Mann, der mit seinem höhnischen Grinsen vermutlich nichts anderes bezweckte. Dem es völlig egal war, ob ich Hunger, Schmerzen oder Todesängste ausstand.
„Dein Name ist Thorsten, nicht?“
Und wieder schluckte ich und starrte den Alten fassungslos an. Ich spürte den Impuls zu schreien, doch jeder Laut verfing sich an dem Kloß in meiner Kehle.
„Du brauchst mir nicht zu antworten, ich weiß es auch so. Dein Großvater hat dir doch bestimmt von mir erzählt, nicht wahr?“
„Du bist der alte Schrebermann!“, brach es aus mir hervor und das nackte Entsetzen schlug mir ins Gesicht, denn der Alte legte seinen Kopf zurück und begann laut und bellend zu lachen.
Plötzlich schnellte sein Oberkörper nach vorn und er schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch… „NEIN!! Ich bin der Teufel!“
Erschrocken sprang ich auf und wich zurück. Dabei kippte der Stuhl um, auf dem ich gesessen hatte. Das was ich sah verschlug mir den Atem. Er starrte mich mir großen Augen an, die jetzt rot zu glühen schienen. Dann stand er auf und kam mit knarrenden Schritten auf mich zu, während ich weiter zurückwich. Auf einmal spürte ich die Wand an meinem Rücken. Ich murmelte Stoßgebete. Schrebermann, und ich wußte mit untrüglicher Sicherheit, daß er es war, kam näher…
„Du wirst doch nicht etwa gehen wollen, mein Sohn? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt und…“
„Was?“, stieß ich aus.
„Wir müssen heute nacht noch einen Baum fällen!“
Der Alte war jetzt bedrohlich nahe gekommen. Ich weiß bis beute nicht zu sagen, warum ich in jenen Momenten nicht in Panik ausbrach. Aber irgendetwas in mir zwang mich dazu die Ruhe zu bewahren und darüber nachzudenken, wie ich mich aus den Klauen dieses Verrückten befreien konnte. Der Alte hatte mich mit einem blitzschnellen Griff am Kragen gepackt und zog mich ganz nah an sich heran. Ich starrte in seine roten Augen, wobei sich unsere Nasenspitzen beinah berührten.
„Weißt du eigentlich, was sie mit mir gemacht haben?“, knurrte er mich mit einem Schwall übelriechenden Atems an.
„Mit Steinen haben sie nach mir geworfen und mich aus der Stadt gejagt. Zwei von den Hunden, die sie auf mich gehetzt hatten, erwischten mich im Wald. Weißt du, wie das ist, wenn einem ein Schäferhund die Wade zerfetzt?“ Sein Griff wurde fester und unsere Nasenspitzen berührten sich für einen kurzen Moment.
„Ich habe das Kind nicht Absicht getötet. Die Strafe meines Gewissens, die mich traf, als ich es unter dem Baum liegen sah, war schlimmer als alle Höllenqualen. Niemand hat jemals gesehen, wie ich wirklich gelitten habe. In der Stunde meines Todes schwor ich, wiederzukommen und mir die zu holen, wegen denen ich leiden mußte. Nämlich Kinder!“
Schrebermann hatte mich losgelassen und stakte in die Küche. Jetzt, dachte ich und rannte zur Tür. Doch als ich sie öffnen wollte, merkte ich, daß sie verschlossen war. Verzweifelt zog, zerrte und drehte ich an dem Türknauf als…
„Aber, mein Sohn! Ist das denn ein Benehmen?“
Schrebermann stand im Türrahmen mit einer Axt in der Hand. Seine Stimme schwoll bedrohlich an…
„Da rette ich dich aus der eisigen Kälte da draußen, und du dankst es mir, indem du einfach so VERSCHWINDEN WILLST!!!,“ brüllte er und schlug mit der Axt derart heftig auf den Tisch, daß dieser in zwei Hälften zerbrach. Der Speck und das Brot kullerten über den Boden, der Krug zerbrach und der Wein hinterließ eine schaurige rote Pfütze.
„Da draußen ist es gefährlich, mein Junge. Da kann dir allerhand passieren!“
Der nackte Wahnsinn funkelte aus seinen Augen. Erneut kam er auf mich zu, packte mich und zerrte mich an sich, um mit einem mächtigen Fußtritt die Tür aufzubrechen. Ein eiskalter Wind peitschte mir ins Gesicht, während der Alte mich in den Wald hinaus schleppte. Jeder meiner Versuche mich irgendwie aus den Klauen dieses Ungeheuers zu befreien, bewirkte lediglich, daß seine Finger fester zudrückten und mir jedesmal für einen Moment die Luft zum Atmen nahmen. Wir kamen schließlich an eine Waldlichtung, wo der Alte mir die Hände auf den Rücken zusammenband und mich, an einen Baum gelehnt im Schnee liegenließ. Dann begann er mit wuchtigen Schlägen eine turmhohe Kiefer zu fällen. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Bei jedem Schlag der den Baum traf, spritzten Funken aus der Wunde im Holz. Meterhohe sprühende Funkenregen, die im Schnee niedergingen und erloschen. So wie es aussah, würde die Kiefer genau in der Richtung niedergehen, in der ich am Boden lag, und wenn ich doch bis vor einigen Minuten noch die Hoffnung hatte, daß dies alles nur ein böser Traum, ein Alpdruck, der mich irgendwann schweißgebadet aus meinem Bett hochschrecken lassen würde, sei, so begriff ich jetzt auf schmerzliche Weise, daß ich tatsächlich gefesselt auf einer Waldlichtung meinem Ende entgegen sah. In den Händen eines Wahnsinnigen, der voller Haß auf die Kiefer einschlug. Auch die Tränen, die über meine Wangen kullerten, waren kein Traum. Die Fesseln schnitten sich immer tiefer in mein Fleisch, während ich verzweifelt versuchte, mich von ihnen zu befreien. Doch plötzlich schien es, als würden sich die Schnüre lockern. Ich drückte meine Hände gegen eine Wurzel, die sich aus dem Boden wand und begann vorsichtig meine Fesseln daran zu scheuern. Endlich spürte ich wieder einen schwächen Hoffnungsschimmer in meinem Innern. Derweil kam die Kiefer mit jedem Hieb ihrem Ende näher. Schrebermann hatte bereits beachtliche Stücke aus dem Stamm geschlagen, als das Holz bedrohlich knarrend zu wanken begann. Er ließ die Arme sinken und drehte sich zu mir. In diesem Moment schnellten meine Hände auseinander. Das Seil hatte nachgegeben und war schließlich gerissen. Ich streifte die Fesseln von meinen Händen und erblickte Schrebermann, der mit erhobener Axt wutschnaubend auf mich zu gerannt kam. Im Rennen holte er zum Schlag aus und hätte ich mich nicht in letzter Sekunde geduckt, hätte er mir vermutlich den Schädel gespalten. So aber fuhr die Axt krachend in den Stamm des Baumes an dem ich lehnte und ließ ein Meer aus Funken auf mich regnen. Blitzschnell rollte ich mich zur Seite und rannte auf die Waldschneise. Ich wagte es nicht, mich umzusehen, Ich hörte das brüllende Fluchen der Bestie, die anscheinend Mühe hatte, die Axt aus dem Stamm zu ziehen. So hatte mir dieser fast tödliche Schlag zumindest einen gewissen Vorsprung verschafft.
„Ich krieg‘ dich doch!“, hörte ich den Alten schreien und rannte. Ich rannte um mein Leben, trotz der Schmerzen in meinem Knöchel, trotz der Kälte in meinen Gliedern. Dann hörte ich ein Krachen, ein Rauschen, ein mächtiges Getöse, das den Wald um mich herum erschütterte. Als ich mich umwandte, sah ich Schrebermann, der sich jetzt etwa vierzig Meter hinter mir befand und von unsagbarer Wut getrieben unaufhaltsam näherkam. Dann sah ich die Kiefer hinter ihm, wie sie niederbrach. Ich wollte schreien, doch ich wußte, daß eine solche Warnung meinen Tod hätte bedeuten können. Mit lautem Prasseln und Krachen begrub die mächtige Kiefer den Wahnsinnigen unter sich. Ein letzter Schrei gellte durch den Wald. Ein Schrei, den ich mein Leben lang nicht vergaß.
Plötzlich war alles still, so als wäre nichts geschehen. Ich stand da, als hätte ich selber Wurzeln geschlagen. Es hatte aufgehört zu schneien, nur ein leichter Wind pfiff durch die Äste der Bäume. Aber ich traute dieser trügerischen Stille nicht. Keiner konnte letztlich sagen, ob die Bestie wirklich tot war. Um selbst nachzusehen fehlte mir der Mut. Ich stapfte so gut und so schnell es ging weiter, bis ich irgendwann Lichter erblickte. Lichter, die hin- und herschwangen. Ich hörte jemand meinen Namen rufen. Dann brach ich zusammen…
Als ich die Augen wieder aufschlug erkannte ich mein Zimmer im Hause der Großeltern. Ich blinzelte umher, bis ich das lächelnde Gesicht meines Großvaters erblickte.
„Na, Thorsten?“
„Opa, ich…“
„Du hast großes Glück gehabt, mein Junge. Als wir dich fanden, bist du schon recht lange in der Kälte gelegen. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und…“
„Mach den Jungen nicht verrückt!“, hörte ich Großmutter sagen, die ich schließlich auf der anderen Seite vom Bett entdeckte.
„Schon gut, Marie“, sagte Großvater und nahm meine Hand.
„Auf jeden Fall bist du bald wieder gesund.“
„Opa! Der Schrebermann! Ich hab‘ den Schrebermann gesehen!“ Als ich mich aufrichten wollte, bohrte sich ein stehender Schmerz in meine Schläfen, der mich wieder auf die Kissen zwang. Großvater blickte fragend zur Großmutter.
„Ein Fiebertraum“, sagte sie beschwichtigend.
„Aber ich…“
„Jetzt ruh‘ dich erst mal aus, Thorsten!“
Beim hinausgehen hörte ich Großmutter schimpfen… Das käme davon, wenn man kleinen Kindern Schauergeschichten erzählt. Ich begriff, daß mir keiner von beiden Glauben schenken würde. So beschloß ich, des Geheimnis zunächst für mich zu behalten.
Die ganze Woche hatte ich strengste Bettruhe verordnet bekommen. Doch selbst, wenn ich es anders gewollt hätte, so ließen mich die Kopfschmerzen ohnehin nur dann in Ruhe, wenn ich ganz still dalag. Der Doktor hatte etwas von einer Gehirnerschütterung gesagt. Mir schienen Diagnosen und Medikamente unwichtig. Ich war froh, wenn mich der Rest der Welt in Ruhe ließ. Doch Nacht für Nacht schreckte ich schweißgebadet aus meinen Träumen auf. Jede Nacht hetzten mich weitwund geschossene Tiere mit rot funkelnden Augen. Jede Nacht war es, als würde das nackte Grauen mich verfolgen. Ich hörte Stimmen, die nach mir riefen und einen gellenden Schrei: Und ich kriege dich doch!
Schrebermann war nicht tot. Jedenfalls hatte ich keine Sicherheit, was das betraf. Jetzt wurde mir klar, daß ich noch einmal zur Hütte geben mußte. Eine Woche später war es soweit. Großmutter hatte ich versichert, daß ich nur ein wenig frische Luft schnappen wolle. Sie ermahnte mich immer wieder, vorsichtig zu sein. Meine Eltern waren schon unterwegs. Es waren noch zwei Tage bis Heiligabend.
Mit einem Fahrtenmesser bewaffnet, das mir Großvater zum Nikolaus geschenkt hatte und einer gehörigen Portion Angst im Nacken stapfte ich durch den knöcheltiefen Schnee. Ich fand den Weg sehr schnell und dachte daran, daß ich bald vor der Hütte stehen würde, in die mich die Bestie verschleppt hatte. Ich kam an der Lichtung vorbei, in der die umgestürzte Kiefer lag. Ich hatte also nicht geträumt. Das, was ich in der Nikolausnacht erlebt hatte, war wirklich passiert und kein Hirngespinst eines zwölfjährigen Jungen. Als ich jedoch wenig später die Hütte betrat, traute ich meinen Augen nicht. Die Wohnstube sah aus, als wäre sie seit Jahren… genauer gesagt seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden. Überall lag Gerümpel herum und ein modriger Geruch hatte sich über die Trümmer gelegt. Die meisten der milchigen Fensterscheiben waren eingeschlagen und die Eingangstür hing schräg in einer der Angeln. Der zerschlagene Tisch, das Brot, der Speck und der zerbrochene Krug. Alles war verschwunden. Den Speck hat sich ein Fuchs geholt, dachte ich, und das Brot haben die Vögel aufgepickt. Ich suchte verzweifelt nach Erklärungen, blieb jedoch in meinen Überlegungen erfolglos. Enttäuscht machte ich mich auf den Heimweg.
Als ich wieder auf die Lichtung kam, sah ich die umgestürzte Kiefer. Es schien, als wäre sie von einem Blitzschlag niedergestreckt worden. Das Holz an der Knickstelle war verkohlt und gesplittert. Ich erinnerte mich an den Funkenschlag von den Hieben des Holzfällers und suchte nach der Stelle, wo mich Schrebermann gefesselt hatte. In einer nahegelegenen Tanne entdeckte ich weitere Spuren, die auf einen Blitzeinschlag deuteten. Hatte Schrebermann hier versucht, mich zu töten? Ich wußte es nicht. Sollte das alles tatsächlich nur ein böser Traum gewesen sein? Hatte ich mich wirklich so sehr getäuscht. Der Doktor hatte gesagt, das Menschen in Zuständen von Ohnmacht sehr oft Träume haben, die ihnen dann sehr real erscheinen können. Ich schämte mich ein wenig und ging weiter. Als ich an der umgestürzten Kiefer entlang ging, konnte ich nicht davon lassen, nach der Leiche eines alten Mannes Ausschau zu halten. Ich konnte und wollte die Erklärung alles sei nur ein Träum gewesen, nicht akzeptieren. Plötzlich blieb ich stehen, denn das, was ich sah, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Ich begann zu zittern, die Nacht des Schrebermann war plötzlich keinen Tag von mir entfernt. Ein mächtiger Ast der Kiefer war beim Aufprall abgeknickt worden und hatte ein großes spitz zulaufendes Stück Rinde vom Stamm abgezogen. Darüber erkannte ich in der Struktur der Rinde ein mir wohlbekanntes von Runzeln zerfurchtes Gesicht, dem sich ein langer Bart, in der Form der abgezogenen Rinde anschloß. Ein weiterer Ast unterhalb des Gesichtes stand merkwürdig gekrümmt hervor. Mit ein klein wenig Vorstellungskraft erkannte man die Form eines Armes, der eine Axt in der Hand hielt. Die Struktur des Körpers im Holz war so deutlich, daß nur ein Blinder sie hatte übersehen können. Ich verstand.. Zumindest glaubte ich zu verstehen, was geschehen war. Denn die Erklärung die ich für mich selbst fand, schien mir die einzig vernünftige zu sein. Schrebermann schien immer nur für eine ganz bestimmte Zeit in diese Welt zu kommen, um sie schließlich nach getanem Werk wieder zu verlassen. Er war zurückgegangen in sein Geisterreich. Irgendwann, vielleicht am nächsten Nikolaustag, würde er wiederkommen und dann würde dieses Gesicht im Stamm, für viele Menschen nur eine seltsame Laune der Natur, verschwunden sein. Schrebermann war wieder zu einem Teil des Waldes geworden, für alle Menschen unsichtbar. So mußte es sein…
Noch heute verfolgen mich die Geschehnisse meiner Kinderzeit in meinen Träumen. Manchmal sehe ich die roten Augen, von denen ich weiß, zu wem sie gehören. Damals hatte ich mir geschworen, wiederzukommen, um die Bestie endgültig zu vernichten. Aber letztlich fehlte mir der Mut. Heute habe ich selber Kinder und immer wenn wir durch irgendeinen Wald gehen, habe ich ein wachsames Auge. Vom Schrebermann habe ich ihnen nie erzählt, denn vielleicht war ja auch alles nur ein böser Traum…
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