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Die sengende Sonne des Julinachmittages war es nicht, die dem jungen Mann den Schweiß aus seinen Poren trieb. Edgar fischte die sechste oder siebte Zigarette aus dem Päckchen, das er vor knapp einer Stunde am Automaten an der Ecke rausgelassen hatte. Er saß angespannt auf seinem alten Sofa und starrte auf die Reisetasche voller Geld. Vierhunderttausend und ein paar zerquetschte. Soviel hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen.
Seit über einer Stunde saß er jetzt so da und wartete auf das Klingeln des verdammten Telefons. Es wurde höchste Zeit.
„Denk an das Flugzeug, Edwina.“, murmelte er.
Auch Edgar hatte das Gefühl, etwas vergessen zu haben, wusste aber nicht was.
Er hockte hier in seiner Wohnung wie auf glühendem Stahl und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn. Drei Stunden war es jetzt her, seit sie in die Bankfiliale der Sparkasse gestürmt waren, Edgar, Philipp und Lutz, jeder von ihnen mit einer Maschinenpistole bewaffnet.
Die Kassiererin spurte. Der Krawatten-Heini mit der Brille hatte fiese Matenten versucht. Lutz hatte ihn einfach über den Haufen geknallt. Das war verdammt noch mal gegen die Abmachung gewesen, dachte Edgar und beruhigte somit sein schlechtes Gewissen, denn das was er gemacht hatte, war ebenfalls gegen die Abmachung gewesen.
Eigentlich hätte er die Tasche mit dem Geld in ein Schließfach am Hauptbahnhof bringen, und sich dann in irgendein Straßencafé verziehen sollen. Stattdessen hatte er zwei Extrarunden mit dem Wagen gedreht und war dann schnurstracks zu seiner Wohnung gefahren, um auf Edwina zu warten. Plötzlich überkam ihn die seltsame Gewissheit, dass etwas schief gelaufen war. Er konnte dieses Wissen nicht näher erklären. Er bemerkte nur, dass sich sein ganzer Körper in ein Wasserkraftwerk verwandelt hatte. Sein Hemd klebte an der Haut seines schweißgetränkten Rückens, wie eine ganze Horde von Blutegeln… Plötzlich klingelte das Telefon.
Das Telefon klingelt.
Edgars Hand schnellte zum Hörer.
„Ja? Edwina? Bist du’s???“
Nichts. Da war ein Atmen, das man hören konnte… Etwas klapperte.
„Wer ist da??“ sagte Edgar und begann am ganzen Leib zu zittern.
Der unbekannte Jemand am anderen Ende der Leitung legte auf und Edgar erschrak, als ein lauter pulsierender Ton in der Muschel gegen sein Ohr schlug. Edgar ließ den Hörer auf die Gabel sinken.
Angst überkam ihn und er dachte an Lutz, der sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, als er den Mann im Anzug erschoss. Lutz hatte damit weniger ein Problem. Er war eiskalt. Der geborene Verbrecher, den noch niemand übers Ohr gehauen hatte. Bis heute.
Er erinnerte sich, als sie sich in der Bar kennenlernten. Sie waren einfach so ins Gespräch gekommen. Edgar hatte ihm davon erzählt, dass er seinen Job verloren hatte und jetzt nicht mehr weiterwisse.
„Warum steigst du nicht bei mir ein?“ hatte Lutz gefragt. „Die Jobs sind zwar nicht ganz legal, aber wenn man sich nicht allzu dumm anstellt, dann kann eigentlich nichts passieren!“
Und Edgar war in Lutzens Bande eingestiegen, hatte gelernt, wie man alten Damen die Handtaschen abnimmt, wie man Türschlösser öffnet und welche Arten von Autos am leichtesten zu knacken sind. Alles lief gut. Ja, es machte sogar Spaß, bis Edgar Edwina kennenlernte, die Freundin von Lutz.
Sie war tabu. Sie interessierte ihn nicht, bis zu dem Abend, als Lutz ihm befahl, sie nach Hause zu bringen, weil er noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Erst später erfuhr Edgar, um was es gegangen war. Ein ehemaliges Mitglied der Bande, das sich nicht an die Regeln gehalten und Beute unterschlagen hatte, war „erledigt“ worden!
Auf dem Nachhauseweg hatten sie sich unterhalten, bis Edwina auf einmal zu weinen begonnen hatte. Edgar stoppte den Wagen.
„Nein, bitte nicht anhalten! Lutz ruft bestimmt zu Hause an, um sich zu vergewissern, dass wir rechtzeitig angekommen sind. Er kontrolliert mich auf Schritt und Tritt.“
„Was?“
„Bitte, bitte fahr weiter! Bitte!“
Edgar startete den Wagen und schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Noch nie hatte er Edwina so verzweifelt gesehen.
„Ich kann nichts mehr alleine machen. Normalerweise schickt er den Philipp mit, aber den braucht er heute Abend wohl für eine seiner Schweinereien. Ich kann einfach nicht mehr…“
„Ich wusste nicht, dass es so schlimm bei euch beiden ist.“ sagte Edgar und schluckte.
„Es ist schlimmer. Normalerweise würde ich gar nicht darüber sprechen, aber… Du bist irgendwie anders, als die anderen, mit denen Lutz sich herumtreibt.“
„Ich weiß nicht…“ flüsterte er und schämte sich überhaupt zur Bande zu gehören.
Sie erzählte ihm, wie sie und Lutz sich kennengelernt hatten, wie er ihr zu Beginn jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte und wie er das Netz, das sich um Edwina sponn immer enger geworden war. Wie er sie auf Schritt und Tritt beobachten ließ und wie er sie behandelte, wenn die Dinge nicht so liefen, wie Lutz es sich vorstellte. Sie zeigte Edgar die blauen Flecken an ihren Beinen. Edgar war bestürzt, lief gleichzeitig rot an wie eine Tomate.
Nach diesem Abend hatten sie damit begonnen, sich Briefe zuzustecken, sich heimlich in irgendwelche Cafés zu verziehen, wenn Edgar zu Edwinas „Schutz“ eingeteilt worden war.
Dann kam Lutz mit der Idee, eine Sparkassenfiliale zu überfallen, und Edgar änderte insgeheim den Plan. Sie wollten Lutz übers Ohr hauen. Sie hatten beschlossen, sich nicht an die Regeln zu halten. Und sie mussten vorsichtig sein. Alles musste schnell gehen, weil sie beide wussten, was passierte, wenn sich jemand nicht an die Regeln hielt.
Das Telefon klingelte wieder. Edgar riss den Hörer von der Gabel.
„Ja… Hallo.. Edwina??? Wer ist denn da, verdammt??!?“
Wieder hörte er ein schwaches Atmen am anderen Ende der Leitung. Weiter nichts. Dann fuhr es ihm wie ein Schnellzug durch den Kopf.
Lutz!, schoss es ihm durch den Kopf.
Lutz hatte Lunte gerochen. Bestimmt hatte er das. Edwina hätte längst hier sein müssen. Hoffentlich war sie nicht… Edgar durfte nicht einmal daran denken, was möglicherweise hätte sein können. Er stand auf und griff nach der Sporttasche. Sollte er verschwinden? Sich aus dem Staub machen? Ohne sie. Das konnte er nicht. Er liebte sie.
Bestimmt war es Lutz gewesen, der angerufen hatte, um herauszufinden, wo Edgar sich aufhielt. Sie würden bestimmt gleich da sein und… Edgar konnte sich bildhaft vorstellen, was passieren würde. Er hatte sich nämlich nicht an die Regeln gehalten!
Er musste eine Entscheidung treffen und zwar schnell…
Er riss den Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer der Polizei.
„Hallo… Mein Name ist Edgar Schellhorn. Ich möchte ein Geständnis ablegen. Ich habe mit Komplizen die Sparkassenfiliale am Wilhelmsplatz überfallen….“
Er erzählte Ihnen alles so schnell es ging und gab Ihnen die Adresse. Er würde seine Wohnung nicht verlassen. Vermutlich würde die Bande draußen schon mit einem Gewehr im Anschlag warten, um das zu tun, was sie immer taten, wenn sich einer nicht an die Regeln hielt. Die Polizei würde jeden Moment eintreffen.
Das Telefon klingelte. Und Edgar nahm ab.
„Zu spät, Lutz. An deiner Stelle würde ich machen, dass ich aus dem Staub komme.“
„Wie bitte?? Hey, Eddie… Ich bin’s.. Carola!“
„Was?“ Edgar erkannte die Stimme seiner Schwester.
„Du bist ja ein feiner Patenonkel, dein Neffe wird drei Jahre alt und du rufst ihn nicht mal an seinem Geburtstag an!“
„Oh.. Tut mir leid.. Aber es geht gerade alles drunter und drüber bei mir.“
Carola lachte. „Schon in Ordnung. Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen.“
„Warum das denn?“
„Ich hab dem Kleinen vorhin deine Nummer gegeben und ihm gesagt, er soll dich anrufen. Er hat es wohl probiert, aber dann wohl kein Wort herausbekommen. Du weißt ja, wie Kinder sind.“
Plötzlich klingelte es an der Tür. Edgar, kreidebleich geworden, ließ den Hörer fallen, rannte zur Tür und öffnete. Edwina war aufgeregt.
„Tut mir leid. Ich musste einen Umweg fahren. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass mir jemand folgt… Was ist denn los, Schatz?“
Sirenen heulten auf und drei Polizeiwagen, etwas später noch ein vierter, bremsten rund um das Haus, in dem Edgar wohnte und riegelten das komplette Areal ab.
Edwina starrte ihn entgeistert an…
„Es tut mir leid, Edwina“, sagte Edgar und ging zurück in die Wohnung, wo er den Telefonhörer wortlos auf die Gabel hängte.
***
