Helga hieß sie und gehörte zu den Frauen, die nicht viel Zeit darauf verschwenden, darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn ihr Leben einen völlig anderen Verlauf genommen hätte. Dazu hatte sie auch gar keine Zeit. Da gab es ihren dreizehnjährigen Sohn Robbie und Ewald, den Mann, mit dem sie genauso lange verheiratet war.
Es hatte sich alles so entwickelt, wie Ewald es vorausgesehen hatte. Nach ihrer Hochzeit und dem Verkauf des elterlichen Betriebes hatte er noch zwei Jahre in der Entwicklungsabteilung von Kronbach-Electronic gearbeitet, wurde dann Abteilungsleiter und war heute für das Großprojekt INICOM verantwortlich, über das er sehr wenig sprach, weil Helga es vermutlich sowieso nicht verstanden hätte.
Das ist nichts für Frauen!
Er war Mitglied des Aufsichtsrates einer der größten Computerfirmen Deutschlands. Er konnte sich seine Meinung leisten. Aber auch darüber hatte Helga kaum nachgedacht.
Jeden Morgen stand sie auf und machte das Frühstück für Robbie und Ewald, wenn dieser nicht geschäftlich nach Japan verreist war. Nachdem beide dann schließlich das Haus verlassen hatten, räumte sie den Tisch ab, erledigte den Abwasch und machte sich an die Hausarbeit. Drei- bis viermal die Woche fuhr sie ins Pflegeheim zu Tante Metha, die halbseitig gelähmt in ihrem Rollstuhl dahinvegetierte. Meistens las Helga ihr eine Geschichte vor oder erzählte ihr, was es Neues zu berichten gab, auch wenn die arme Tante höchstwahrscheinlich von alledem gar nichts mitbekam.
Ewalds Gewinnbeteiligung ist schon wieder um drei Prozent gestiegen. Das bedeutet, wir verdienen wieder mehr Geld, müssen aber gleichzeitig mehr Steuern bezahlen. Er meinte, wir sollten uns eine Eigentumswohnung kaufen und die vermieten. Er ist diese Woche wieder nach Japan gefahren, um… Ja, warum eigentlich?
Aber Tante Metha starrte immerfort in derselben apathischen Weise an die Fensterscheibe, sodass jedem, der sie nicht genau kannte, der Impuls kommen musste, ihr einen Spiegel vor den halboffenen, schräg nach unten hängenden Mund zu halten, um nachzusehen, ob sie überhaupt noch am Leben war. Arme Tante Metha. Helga hatte furchtbares Mitleid mit ihr und kümmerte sich, so gut es ging, um die alte einsame Frau. Schon in Helgas Kindheit war Metha etwas ganz Besonderes für sie gewesen. Dass sie eines Tages tatsächlich sterben könnte, daran hatte sie nie gedacht. Helga wäre nie auf diese Idee gekommen. Sie dachte im Allgemeinen nicht über so etwas nach. Helgas Vater war schon lange tot. Ihre Mutter traf sie nur zweimal im Jahr. Die lebte mit einem anderen Mann weit weg in einer Stadt, deren Namen Helge nicht mal aussprechen konnte.
Jeder, der Helga kennenlernte, mochte sie. Sie war nett, höflich und adrett. Sie war auch nicht dumm, ganz bestimmt nicht. Nur dachte sie eben nicht viel über ihr Leben nach. Politik interessierte sie nicht, während der Sportschau nickte sie ein. Sie tat das, was sie tun musste, und lebte ein Leben, dessen aufregendste Stunden sich dann einstellten, wenn Robbie sich beim Fußball das Knie aufgeschlagen hatte oder wenn sie beim Friseur zwischen Waschen und Legen eine Kurzgeschichte in einer Boulevardzeitschrift las. Es gab also wirklich nichts, über das es sich gelohnt hätte, sich den Kopf zu zerbrechen.
Nur einmal hatte sie sich Ewald gegenüber zum Thema Ausländerfeindlichkeit geäußert. Ewald meinte dann, sie solle sich doch nicht über so etwas den Kopf zerbrechen. Man müsse schon in der Lage sein, sich erst einmal verschiedene Standpunkte zu einem Thema anzuschauen, bevor man sich eine Meinung bildet, und sprach somit Helga diese Fähigkeit von vornherein ab. Außerdem mochte er es nicht, wenn seine Frau über etwas nachdachte. Schon gar nicht über ihr Leben, weil das nämlich in Ordnung war. Beide hätten kaum damit gerechnet, dass die Dinge sich ändern könnten. Doch sie sollten sich ändern, so wie Helga und Ewald es niemals für möglich gehalten hätten.
Alles begann an einem Dienstag. Helga fuhr zu Tante Metha ins Pflegeheim, das unter der Obhut von Nonnen des Joseph-Ordens stand. Sie stellte den Wagen, einen Seat, den ihr Ewald zu Weihnachten geschenkt hatte, in die vorderste Reihe des Parkplatzes und ging mit einem Körbchen in der linken Armbeuge in das alte Gebäude, wo man sie bereits erwartete.
Eine ältere Ordensschwester kam mit einem mitleidigen Blick auf Helga zu und ergriff ihre Hand. Erschrocken über diese ungewohnte Geste trat sie unbewusst einen Schritt zurück.
»Frau Küstermann, ich habe Ihnen etwas Trauriges mitzuteilen.«
»Was? Um Gottes Willen…«
Die Nonne schloss die Augen und presste ihre faltigen Lippen zusammen. Helgas Herz hämmerte, und ein unförmiger Klumpen begann in ihrer Kehle zu wachsen.
»Ihre Großtante ist vor einer halben Stunde verstorben. Es ging sehr schnell. Keiner hatte mit so etwas gerechnet.«
Helgas Beine versagten. Doch bevor sie umkippen konnte, war die Nonne einen Schritt zu ihr herangetreten und hatte mit einem schnellen Griff, den ihr vermutlich keiner zugetraut hätte, Helgas Arm gepackt. Eine jüngere Schwester, die den Dienst an der Anmeldung übernommen hatte, sprang auf und eilte herbei, um zu helfen. Sie setzten Helga auf einen der klapprigen Besucherstühle, wo sie langsam ihre Fassung wiedererlangte und zu weinen begann.*
»Geht es Ihnen wieder besser, Frau Küstermann?«
»Es geht… ja, danke«, druckste Helga und versuchte sich abzulenken, indem sie sich im Zimmer umsah. Ein kärglich eingerichteter Raum, den die Oberschwester ihr Büro nannte. Rechts an der Wand hing das obligatorische Kruzifix. Auf dem Schreibtisch lag die Heilige Schrift, wie es sich für das Zimmer einer Ordensschwester gehörte.
»Da ist noch etwas Wichtiges, was wir erledigen sollten, bevor die Verwandten ihrer Großtante eintreffen.«
»Ja?«, fragte Helga und starrte auf die Papiertüte, welche die Schwester Oberin auf den Schreibtisch legte und sich dann auf ihrem Stuhl niederließ.
»Wir konnten es erst selbst nicht begreifen, doch so selten ist das nicht. Heute Morgen begann sie klarer zu werden. Plötzlich war sie in der Lage, sich mitzuteilen, formulierte plötzlich klar verständliche Sätze. Sie bat darum, mich sehen zu dürfen. Sie erzählte mir, dass es ihr wieder besser ginge, und dass der liebe Gott wohl nachsichtig mit ihr sei. Erst wollten wir Sie sofort verständigen, aber ihre Tante wollte das nicht. Sie wollte Sie überraschen. Und dann sollte ich aus ihrer Nachttischschublade diese Tüte holen, mit dem Auftrag, sie Ihnen zu geben, falls sie überraschend sterben würde. Sie meinte, dass sie kein Testament gemacht habe und dass sich ihre Söhne ohnehin um das ganze Erbe streiten würden. Nur dies hier dürften Sie nicht bekommen. Das hätten Sie sich in den letzten drei Jahren mehr als verdient. Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Frau Küstermann. Ich bin da ganz der Ansicht Ihrer Großtante. Ach ja… Sie sagte dann noch etwas von einem Geheimnis, das in der Uhr verborgen sei. Aber das müssen Sie wohl selbst herausfinden! Wissen Sie, was Ihre Tante damit gemeint hat?«
Helga schüttelte den Kopf. Wieder kullerten ihr ein paar dicke Tränen über die Wangen und jetzt lief sie auch noch rot an. Niemals hatte sie an eine solche Situation, geschweige denn an eine Erbschaft gedacht, die ihr im Übrigen auch jetzt völlig egal war. Sie stopfte ihr Tempotaschentuch in den Korb und nahm die Tüte, welche die Ordensschwester ihr hinhielt. Daraus zog sie eine Taschenuhr, deren Wert bereits auf den ersten Blick immens erschien. Feine Ornamente und Gravuren waren in die Deckelhälften eingearbeitet worden und wenn man seinem ersten Eindruck glauben schenken konnte, dann handelte es sich zumindest bei dem Korpus der Uhr um edles Metall, ja vielleicht sogar Gold. Helga begann wieder zu weinen…
*
Zu Hause hatte Helga sich auf das Sofa gelegt und war eingeschlafen. Die Finger ihrer rechten Hand hielten die Taschenuhr fest umklammert, und von was hätte Helga sonst träumen können als von Großtante Metha, die in Helgas lichter Innenwelt auf einer blühenden Sommerwiese saß und den Duft der Blumen in sich aufsog. Helga saß neben ihr und traute sich kaum etwas zu sagen. Doch bevor sie wieder zu weinen anfangen konnte, begann die Tante sie zu trösten, so wie sie es früher immer getan hatte, wenn Helga hingefallen war und sich den Ellbogen aufgeschürft hatte. Sie hielt sie im Arm und Helga lehnte sich an sie. Irgendwann begann Tante Metha zu verschwinden. Ihr Bild verblich und das letzte, an was sich Helga erinnerte, war ihr unvergleichlich liebevolles Lächeln, das noch ein Weilchen unsichtbar in der Luft zu stehen schien.
Ein lautes Knallen riss Helga aus ihrer Traumwelt. Sie schreckte hoch und brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo sie sich befand und was geschehen war.
Robbie schlenderte ins Wohnzimmer.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Robbie und ließ sich auf Papas Fernsehsessel fallen.
»Hallo, Robbie. Ich hatte mich etwas hingelegt. Es war ein ziemlich schwerer Tag. Tante Metha ist… Sie ist heute Vormittag gestorben.«
»Oh je… Wie denn das?«
»Sie hatte einen Herzanfall. Immerhin war sie schon 86.«
»Dann steht wohl wieder mal eins von diesen öden Familienfesten an, was?«
»Robbie!«
»‘Tschuldigung. War nicht so gemeint. Was gibt‘s denn heute zu essen?«
»Oh mein Gott. Das Essen!«
Und wieder hatte Helga keine Zeit mehr, über Tante Metha, die Taschenuhr oder ähnliche Nichtigkeiten nachzudenken. Sie ließ ihre Erbschaft in der Hosentasche verschwinden und eilte in die Küche, um für Robbie und Ewald, der jede Minute nach Hause kommen konnte, das Abendessen zu machen. Sie verzieh Robbie die Oberflächlichkeit, mit der er auf Methas Tod reagiert hatte. Er war in dieser Beziehung seinem Vater recht ähnlich.
»Was ist denn das?«, fragte Ewald und starrte den Tisch an, als stände er vor einem Misthaufen, den ein betrunkener Bauer versehentlich in seiner Küche abgeladen hatte.
»Ich hatte leider keine Zeit, etwas zu kochen, Ewald. Entschuldige bitte… Aber wir müssen ja nicht jeden Abend warm essen, oder?«
Er starrte immer noch auf die Vesperbrettchen, das Bauernbrot, die Wurst, den Käse und die große Schüssel mit Salat. »Hmm… Ich möchte meinen Feierabend nicht mit leidvollen Diskussionen darüber beginnen, was man unter einem anständigen Abendessen zu verstehen hat. Aber gut… Dann essen wir eben heute kalt.«
Während des Abendessens hatte Ewald keinen Ton von sich gegeben. Helga hatte ihm von der Sache mit Tante Metha erzählt. Das Einzige, was Ewald zustande brachte, war ein überraschter Gesichtsausdruck. Helga verzieh es ihm, weil er zu Metha keine engere Beziehung gehabt hatte. Er hatte sie immer nur auf diversen Familienfesten gesehen und sich dort auch nicht um sie gekümmert, weil man mit ihr ohnehin kein vernünftiges Wort hatte wechseln können.
Sie hätte es sowieso nicht verstanden.
Nachdem sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr abgewaschen hatte, brachte Helga ihrem Mann ein kühles Bier. Ewald saß in seinem Fernsehsessel und hatte die Beine hochgelegt. Mit einem knappen »Danke« nahm er das Bier und starrte auf die neuesten Meldungen der Tagesschau.
»Ich verstehe nicht, warum du nicht die Geschirrspülmaschine benutzt«, sagte Ewald. »Die hat ein Heidengeld gekostet, und du benutzt sie nicht mal. Außer die Verwandtschaft kommt zu Besuch.«
»Das lohnt sich doch gar nicht, Ewald. Wegen der paar Teller…«
»Was ist mit der Beerdigung?«, rief er Helga hinterher, die in der Küche verschwunden war. Und es schien, als interessierte ihn das im Grunde genauso wenig wie der Gebrauch von Geschirrspülmaschinen.
»Was soll damit sein? Hans und Dieter werden das regeln. Sind immerhin ihre Söhne. Wir haben heute kurz miteinander telefoniert. Ich hab ihnen meine Hilfe angeboten, aber sie sagten, sie kämen schon allein zurecht.«
»Warum sind sie nicht vorbeigekommen?«
»Sie wollten nicht, weil… ich weiß auch nicht«, sagte Helga, wusste aber, dass es gelogen war. Die Familie war gespalten, seit sie denken konnte. Jeder kümmerte sich um seine Schäfchen. Die einzelnen Zweige der Familie sahen sich kaum, und wenn, dann nur zu Anlässen, wie nun einer bevorstand. Und auch hierzu kamen Einladungen nur deswegen, weil der Schein gewahrt werden musste, aus keinem anderen Grund. Man sah sich, redete belangloses Zeug miteinander, ging wieder und zog dann über die anderen her. So war es immer gewesen, und wenn sie Robbie sah, dann wusste sie, dass er diese Tradition pflegen würde wie seine Vorfahren.
Helga saß am Küchentisch und betrachtete die Uhr in ihren Händen. Sie strich mit den Fingern über die feinen Gravuren, als ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Wie konnte Ewald nur ein so gefühlskalter Mensch sein? Wie konnten Hans und Dieter jetzt die Betroffenen mimen, wo sie sich doch jahrelang nicht um ihre Mutter gekümmert hatten?
Helga klappte die Uhr auf und lauschte einen Moment der leisen Melodie. Ewald würde sie bestimmt nicht hören, der war nämlich schon in seinem Sessel eingeschlafen. Plötzlich fiel ihr auf, dass die Zeiger eine falsche Zeit anzeigten. Auf der Uhr war es viertel vor elf, während es doch eigentlich erst kurz vor neun war.
Helga zog den goldenen Knopf oben an der Uhr heraus und begann ihn langsam zurückzudrehen. Sie stellte die exakte Zeit ein. Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen, die Tür sprang auf und Robbie schlenderte ins Wohnzimmer.
»Hallo… Hey, was ist denn mit dir los?«
»Robbie? Was soll mit mir los sein?« Helga ließ die Uhr hastig in ihrer Tasche verschwinden.
»Weil du hier sitzt und grübelst… Sonst fuhrwerkst du doch immer aufgeregt in der Küche herum.«
»Wie bitte?«
»Was gibt‘s denn heute zu essen, Mam?«
»Ich verstehe nicht, Robbie… Wir haben doch gerade gegessen!«
»Was? Du bist wohl eingenickt und hast geträumt, wie? Es ist fast sieben! Papa kommt gleich nach Hause…«
»WAS?!« Helga warf einen verstörten Blick auf die Küchenuhr und traute ihren Augen nicht. Darauf war es kurz vor sieben. Sie kramte zitternd die Taschenuhr aus der Hosentasche, und auf der war es kurz vor neun. War sie im Begriff, verrückt zu werden?
»Robbie… Ich…«
»Was hast du denn da?«
»Eine Uhr… Eine Taschenuhr… Tante Metha hat sie mir vererbt.«
»Vererbt?«
»Ja… Sie ist doch heute… gestorben!«
»Was? Gestorben? Wie denn das?«
»Sie hatte einen Herzinfarkt…«, murmelte Helga und starrte fassungslos zu Robbie.
»Oh Mann… Da steht wohl wieder eins von diesen öden Familienfesten ins Haus… Ich geh nach oben, Mam.«
Sie starrte Robbie nach, als wäre er die Reinkarnation des Dalai Lama. Was war geschehen? Hatte sie nicht gerade vorhin noch das Abendessen gerichtet, Ewald ein kaltes Bier gebracht und wegen seiner Gefühlskälte fast geweint? War das alles nicht schon passiert? War sie wirklich aus einem Traum erwacht? Plötzlich hatte sie keine Zeit mehr darüber nachzudenken, denn ihr Mann würde bald nach Hause kommen. Und dann sollte etwas zu essen auf dem Tisch stehen.
»Hmm… Ich möchte meinen Feierabend nicht mit leidvollen Diskussionen darüber beginnen, was man unter einem anständigen Abendessen zu verstehen hat. Aber gut… Dann essen wir eben heute kalt.«
Es wiederholte sich dasselbe Spiel. Ewald und Robbie aßen sprachlos zu Abend, und Helga brachte ihrem Mann ein kaltes Bier.
»Ich verstehe nicht, warum du nicht die Geschirrspülmaschine benutzt«, sagte Ewald. »Die hat ein Heidengeld gekostet, und du benutzt sie nicht mal. Außer die Verwandtschaft kommt zu Besuch.«
»Weil es sich nicht lohnt, Ewald!«, rief sie nervös. Erstens, weil sie den Spruch schon kannte, und zweitens, weil es ihn doch im Grunde sowieso nicht interessierte.
»Du brauchst jetzt nicht patzig zu werden, Liebes!«, sagte er scharf. »Was ist mit der Beerdigung?«
»Hans und Dieter kümmern sich darum… Entschuldige, aber ich bin schrecklich müde. Es war ein anstrengender Tag. Ich werde ins Bett gehen.«
Helga ging die Treppe hinauf und verschwand im Schlafzimmer. Im angrenzenden Badezimmer legte sie ihre Kleidung ab, unter der warmen Dusche einen Teil ihrer Anspannung. Als sie wenig später im Bett lag und Tante Methas Taschenuhr in ihrer Hand betrachtete, kamen ihr merkwürdige Gedanken. Hatte sie das alles nur geträumt? Hatte sie aus dem Wunsch heraus, die Zeit zurückdrehen zu können, um sich vielleicht nur von der Tante verabschieden zu können, eine seltsam übersteigerte Form von Déjà-vu-Erlebnis gehabt? Was, wenn es kein Traum, kein Déjà-vu gewesen war? Wenn sie tatsächlich mit diesem kleinen Wunderwerk in ihrer Hand die Zeit zurückgedreht hatte?
Helga verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihr gekommen war. Dann erinnerte sie sich dunkel an das, was ihr die Ordensschwester im Heim gesagt hatte, und wie sie nach Hause gefahren war und sich auf das Sofa gelegt hatte, wo sie eingeschlafen war. Aber dann war sie aufgewacht, oder doch nicht? Robbie, der ins Zimmer kam… ihr erstes Erwachen, ihre Bemühungen, ein halbwegs anständiges Abendessen zuzubereiten… Waren all dies Teile eines seltsamen Traumes? Aber was, wenn doch nicht? Wenn sie von nun an in der Lage sein würde, die Zeit zurückzudrehen, noch einmal von vorne zu beginnen? Würde ihr Leben dann vielleicht ganz anders verlaufen? Hatte sie vielleicht mit dieser Uhr die Möglichkeit, einen Blick in die Zukunft zu werfen?
Helga begann über ihr Leben nachzudenken.
*
»Ich komme heute Abend etwas später«, sagte Ewald beim Frühstück und machte keine Anstalten, die Zeitung, in die er vertieft war, wenigstens für einen Satz herunterzunehmen. »Ich treffe mich geschäftlich mit einigen Kunden. Wichtige Sache… Ihr braucht mit dem Essen nicht auf mich zu warten.«
»Schon gut«, sagte Helga und nippte an ihrem Kaffee.
»Du kannst ja wieder kalte Küche servieren«, sagte er und hielt die Zeitung immer noch vor seinem Gesicht.
»Hoffentlich wirst du mir das irgendwann verzeihen können, Ewald«, sagte sie in einem Ton, den Ewald nicht gewohnt war. Dass sie überhaupt etwas darauf geantwortet hatte, wunderte ihn.
»Es wird ja nicht die Regel werden, oder?«, entgegnete er trocken.
»Nein…«, flüsterte sie und biss sich auf die Lippen. Den Rest des Satzes, der ihr durch den Kopf gegangen war, hatte sie hinuntergeschluckt.
Natürlich nicht, lieber Gemahl… Du kannst dir nämlich von heute an dein Essen selber machen!
Doch sie schwieg, so wie sie es immer getan hatte. So wie sie es vermutlich Zeit ihres Lebens machen würde. Zum ersten Mal spürte sie eine innere Wut aufsteigen, vor der sie im ersten Moment selbst so große Angst bekam, dass sie diese verdrängte und tief in ihrem Inneren einschloss.
Ewald und Robbie hatten das Haus kaum verlassen, als Helga sich zurück an den Frühstückstisch setzte und fürchterlich zu weinen begann. Was war denn bloß mit ihr los? Früher hatte sie Ewalds Bemerkungen doch auch nicht gestört. Oder vielleicht doch? Wie konnte er nur so mit ihr umspringen? Sah er denn nicht, dass er sie mit allem, was er sagte, verletzte? Sicher… Er war zuverlässig, treu und sorgte bestens für seine Familie. Aber war das eine Rechtfertigung dafür, sie so zu demütigen?
»Das ist eine Partie mit Zukunft. Der weiß wenigstens, was er will!«
Sie erinnerte sich an ihren Vater, der diese Verbindung mehr als nur befürwortet hatte. Sie war 18 und Ewald mitten im Studium. Schon damals war es klar, dass er es weit bringen würde. Er hatte ihren Vater beeindruckt. Das hatte keiner vor ihm geschafft. Dann hatte sie Ewald geheiratet.
»Wenn ich dich noch einmal mit diesem Martin sehe, dann setzt es was!«, hörte sie die Stimme ihres Vaters brüllen.
Ja, Martin hatte nie eine Chance gehabt. Martin… Wie sehr hatte sie Martin, ihre erste große Liebe, doch gewollt. Aber Martin machte eine Schlosserlehre und war ein einziges Mal im ölverschmierten Arbeitsanzug auf seinem Motorrad vor dem Haus der Eltern vorgefahren. Fünf Minuten war sie bei ihm gestanden, hatte sich mit ihm verabredet und sich im Geiste schon überlegt, ob sie das blaue oder das rosa Kleid auf das Sommerfest am See anziehen sollte, als plötzlich ihr Vater aus dem Haus gestürmt kam und sie hineinschickte. Vom Fenster aus hatte sie ihren Vater und Martin miteinander debattieren sehen. Dann fuhr Martin weg… Es war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Und dabei hätte sie ihm so viel zu sagen gehabt.
Du ich muss dir was sagen! Etwas sehr wichtiges!
Aber sie hatte keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Vater hatte sie in ihrem Zimmer eingesperrt, weil Gäste zum Abendessen kommen sollten.
Wir bekommen Besuch! Vaters Geschäftsfreund und seine Familie. Zieh‘ dir was Nettes an. Vielleicht das blaue oder das rosafarbene…
Sie erinnerte sich daran, wie sie mit zitternden Knien die große Treppe im Flur hinunterging und die Küstermanns im Wohnzimmer sitzen sah. Ewald hatte sie damals so merkwürdig abschätzend angesehen. Ferner konnte sie sich ganz genau daran erinnern, wie alle plötzlich aufgehört hatten miteinander zu sprechen, als sie den Raum betrat.
Später, während des Essens, redete Vater nur über die Firma und über etwas, das er Fusion nannte. Etwas, das Helga nicht verstand. Nicht dass sie nicht gewusst hätte, was eine Fusion bedeutete. Aber Vaters Maschinenfabrik war sein Ein und Alles gewesen. Es mit dem Besitz eines anderen zu mischen oder gar etwas davon zu teilen, war bis zu diesem Abend nicht denkbar gewesen. Aber warum darüber nachdenken? Es redeten ohnehin nur die Männer, Ewald eingeschlossen. Die Frauen blieben still und füllten lediglich die leeren Teller der Männer mit Salzkartoffeln und Speckbohnen.
Darf‘s vielleicht auch noch ein bisschen Soße sein?
Und nach diesem Abend hatte Vater von nichts anderem mehr gesprochen. Ewald hier und Ewald da. Ewald studiert Wirtschaftswissenschaften. Ewald wird einmal die Firma übernehmen. Ewald ist…
…eine ausgezeichnete Partie. Der weiß wenigstens, was er will. Der ist nicht so ein Herumtreiber wie…
Aber Martin war nie ein Herumtreiber gewesen. Niemals. Er hatte eine eigene Autowerkstatt gewollt und… eine Familie. Bestimmt war er heute stolzer Besitzer einer eigenen Werkstatt. Irgendwo. Nein, Martin war kein Herumtreiber gewesen. Er war ein lieber Kerl und beinahe… Es hätte nicht viel gefehlt… Aber daran durfte Helga nicht einmal denken.
Ich muss dir etwas sagen…
Stattdessen tauchte Ewald öfter auf. So lange, bis sie eingewilligt hatte, mit ihm auf das Sommerfest am See zu gehen.
Ewald war höflich, freundlich und zuvorkommend. Etwas aufdringlich vielleicht, als reizte ihn Helgas innerer Widerstand, der einen knappen Monat später gebrochen war. An ihrem Geburtstag, als Ewald ihr diese Uhr geschenkt hatte. Eine goldene Armbanduhr mit braunem Lederband, die sie ihm einmal in einem Schaufenster gezeigt hatte. Nicht das Geschenk selbst beeindruckte sie so sehr, sondern der Umstand, dass er es nicht vergessen hatte. Dass er sich an einen Blick und ein flüchtiges »Gott, ist die schön!« erinnert hatte. Sie hatte gar nicht auf den Preis gesehen, weil es ohnehin ein teurer Laden war, und sie sich selbst so etwas nie hatte leisten können. Aber Ewald hatte sich dran erinnert. Er hatte ihr nicht irgendetwas geschenkt, sondern etwas, das sie wirklich schön fand. Das konnte keine kühle Berechnung sein… oder? Und dann hatte Sie sich ihm geöffnet und er hatte sie nicht fortgeschickt… Im Gegenteil.
Es folgte eine wunderschöne Zeit, ein Wochenendausflug nach Amsterdam und schließlich, nicht lange danach, hatten sie geheiratet. An einem Samstag im August. Der Samstag, dem ein Sonntag folgte. Der Tag, an dem Ewald aufgehört hatte, sich um sie zu bemühen. Von da an hatte es nur die Zukunft gegeben und was er alles verwirklichen wollte. Er selbst hatte seit diesem Tag auch nicht mehr von der Fusion gesprochen, die aufgrund der Heirat vollzogen worden war. Seit Vater starb ein Jahr später… Dann verkaufte er die Firma und fing bei Kronbach-Electronic an, weil der Computertechnologie die Zukunft gehörte. Helgas Vater starb an einem Herzinfarkt.
Ich habe ihm immer gesagt, dass er nicht so viel arbeiten soll.
Aber nicht die Überanstrengung hatte Helgas Vater in den Tod getrieben, sondern der Umstand, dass sein Lebenswerk in Stücke gerissen und verscherbelt worden war. Jeder wusste es, nur wagte es keiner so laut auszusprechen. Aber es war sicherlich das Beste so. Ewald hatte sicher nur das Beste gewollt. Bestimmt hatte er das…
Helga saß immer noch am Frühstückstisch und erschrak, weil sie wenigstens eine halbe Stunde dort gesessen war. Der Tisch immer noch nicht abgeräumt, das Geschirr immer noch nicht gespült und die Wäsche immer noch nicht gebügelt war. Sie sah auf die Uhr in ihrer Hand und wunderte sich. Sie hatte sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Merkwürdig, dachte sie. Seit sich die Uhr in ihrem Besitz befand, passierten so merkwürdige Dinge. Sie erinnerte sich an Sachen, an die sie seit Jahren nicht gedacht hatte. Und dann dieses seltsame Déjà-vu-Erlebnis…
Ob die Uhr vielleicht tatsächlich einen Einfluss auf die Zeit hat?
Eigentlich brauchte sie es ja nur probieren. Sie brauchte sie nur eine Stunde zurückstellen und… Dann bekam sie Angst. Und dennoch nahm sie die Stellschraube am Kopf der Taschenuhr zwischen Daumen und Zeigefinger und zog sie vorsichtig heraus. Langsam begann sie zu drehen… fünf Minuten… zehn Minuten, immer schneller werdend… bis der große Zeiger exakt eine halbe Stunde zurückgedreht war… Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen.
»Ich komme heute Abend etwas später«, sagte Ewald und machte keine Anstalten, die Zeitung, in die er vertieft war, wenigstens für einen Satz herunterzunehmen. »Ich treffe mich geschäftlich mit einigen Kunden. Wichtige Sache… Ihr braucht mit dem Essen nicht auf mich zu warten.«
»Sch-sch-schon g-g-gut«, sagte Helga, verbarg die Uhr unter dem Tisch und tastete mit zittrigen Fingern nach der Tasse Kaffee vor ihr auf dem Tisch.
»Du kannst ja wieder kalte Küche servieren«, sagte er und hielt die Zeitung immer noch vor seinem Gesicht.
»Hoffentlich wirst du mir das irgendwann verzeihen können, Ewald«, sagte sie völlig apathisch.
»Es wird ja nicht die Regel werden, oder?«, erwiderte er trocken.
»Nein…«, flüsterte sie und lächelte, weil das Nachdenken plötzlich einen Sinn bekam.
*
Nachdem Ewald und Robbie das Haus verlassen hatten, machte sich Helga an die Arbeit. Sie räumte den Tisch ab, spülte das Geschirr, sortierte die Wäsche und dachte die ganze Zeit über an nichts anderes als die Möglichkeiten, die sich ihr jetzt zu bieten schienen. Sie konnte in der Zeit zurückreisen! Konnte sie sich auch die Zukunft ansehen? Sie stellte den vollen Wäschekorb ab und holte die Uhr hervor. Sie zog das Stellrad heraus, atmete tief durch und beschloss, die Uhr eine Stunde vorzustellen, doch als sie es probierte, sperrte die Schraube und war nicht zu bewegen. Die Uhr konnte sie also nur in der Zeit zurückversetzen. Dieser Gedanke machte ihr plötzlich Angst, denn die Uhr schien ihr zumindest die Möglichkeit zu geben, neu anzufangen. Noch einmal ganz von vorne anfangen…
Du, ich muss dir etwas sagen!
Aber würde sie den Mut und die Kraft dazu haben? Würde sie sich an das erinnern können, was sie mit Ewald erlebt hatte? Und wäre sie trotzdem das nette, unbedarfte Mädchen von nebenan?
Was war mit Metha? Warum hatte Metha die Macht der Uhr nicht dazu genutzt, sich aus ihren Qualen zu katapultieren? Warum hatte sie nicht noch einmal ganz von vorne angefangen? Es musste da einen ganz erheblichen Haken an dieser Sache geben. Etwas, das ihr noch nicht aufgefallen war. Doch so sehr sie auch grübelte, es wollte ihr nichts einfallen. Sie beschloss, sich weiter um ihre Wäsche zu kümmern und ließ die Uhr wieder in die Tasche ihres Hauskittels gleiten.
*
Zehn Tage waren vergangen. Helga hatte die Uhr in ihrem Nachttisch unter den Taschentüchern versteckt. Sie wollte in Ruhe über alles nachdenken. Über all das, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte und was sie aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren erleben würde, ein Dasein im Schatten ihres Mannes, für den es scheinbar nur Geld, Erfolg und Prestige gab. Der sich zu Hause bedienen ließ und dem seine Meinung über alles ging. Aber sollte sie dem wirklich entfliehen? Sollte sie sich wie eine Rabenmutter aus dem Staub machen? Andererseits wäre dies kein wirkliches Verlassen, weil Robbie nie geboren würde, vielleicht als Sohn einer anderen, die mit Ewald besser zurechtkäme. Ja, vielleicht würde sich Ewald einer anderen Frau gegenüber ganz anders verhalten. Wer wusste das schon.
Methas Beerdigung hatte Helga wertvolle Kraft gekostet. Nicht nur, weil sie im Innern ganz allein damit fertig werden musste, sondern weil sie wirklich den einzigen Menschen verloren hatte, der ihr zugehört hatte. Auch wenn ihn das Schicksal dazu gezwungen hatte, anderen zuhören zu müssen. Aber bei Metha war sich Helga sicher gewesen, dass sie auch ohne ihre Krankheit immer für sie da gewesen wäre. Sie hätte ihr auch dann zugehört. Vielleicht hätte sie auch ab und an einen Rat gewusst, wenn es eine schwierige Entscheidung zu fällen gab.
Du, ich muss dir etwas Wichtiges sagen…
Ewald hatte die Trauerfeierlichkeiten über sich ergehen lassen. Hatte sich beim Leichenschmaus angeregt mit Hans und Dieter über die neuesten Wahlergebnisse, die Situation an der Frankfurter Börse und ähnliche Langweilereien unterhalten. Hatte mit seiner prozentualen Gewinnbeteiligung geprahlt und sich darüber aufgeregt, dass die Erhöhung der Abgaben und diese blöde Idee mit der Pflegeversicherung dem Staat auch nichts bringen würde. Auf der Heimfahrt hatte er dann über Methas Söhne hergezogen, die keine Ahnung von Wirtschaft oder Politik hatten. Helga schwieg und dachte an Metha, wobei sie sichtlich darauf bedacht war, nicht wieder in Tränen auszubrechen. Mit der Zeit verblich der Schmerz zu einer wehmütigen Erinnerung. Die Uhr blieb weiterhin in der Schublade liegen, bis Ewald sie eines Abends darauf ansprach…
»Helga?«
»Ja?«
»Robbie hat mir heute etwas erzählt.«
»Was denn, Ewald?«
»Er sagte, Metha hätte dir etwas vererbt. Du warst aber gar nicht bei der Testamentsverlesung.«
»Da konnte ich auch nicht sein, weil es gar keine gab.«
»Bitte?«
»Tante Metha hatte nie ein Testament verfasst. Das Erbe wurde gesetzlich aufgeteilt.«
»Und wie kommt Robbie…«
»Metha hat mir eine goldene Taschenuhr vermacht. Die Oberschwester des Heimes hat sie mir gegeben, bevor die anderen kamen. Tante Metha hatte es ihr aufgetragen!«
»Und wo ist die Uhr? Warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich muss mich schon wundern, Helga!«, sagte Ewald und fixierte sie mit vorwurfsvollem Blick.
Helga fühlte Wut in sich aufsteigen, versuchte aber ruhig zu bleiben.
»Weißt du, Ewald. Ich hatte in den letzten Jahren nicht den Eindruck, dass dich überhaupt irgendetwas interessiert hat, was ich dir sagen wollte.«
»Wie bitte?! Jetzt mach aber mal einen Pun…«
»Du brauchst dich überhaupt nicht aufzuregen!«, sagte sie und fuhr fort, weil sie nicht wusste, wann sie wieder so viel Mut aufbringen würde können. »Lass uns vernünftig darüber reden. Immer wenn ich mich zu irgendeinem Thema äußern will, behandelst du mich wie einen Erstklässler. Du kümmerst dich um deinen Job und unser… dein Bankkonto, aber weder um Robbie noch um mich! Du bist mehr in der Firma und auf Geschäftsreisen als zu Hause, und wenn du mal hier bist, dann führst du dich wie ein Pascha auf. Da darfst du dich nicht wundern, dass…«
Ewalds Kopf war feuerrot angelaufen. Helga war dies gar nicht aufgefallen. Plötzlich sprang er unvermittelt aus seinem Sessel und schlug Helga mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihre Wange färbte sich rot und brannte wie Feuer. Sie starrte Ewald mit weit aufgerissenen Augen an. Fassungslos. Nicht einmal weinen konnte sie.
Und noch bevor sie das Geringste hatte sagen können, brach Ewald das Schweigen, weil er vermutlich selbst nicht glaubte, was er da eben getan hatte.
»Du… du… wagst es, in diesem Ton mit mir zu sprechen. All das hier…« Er hatte sich groß und breit vor Helga aufgebaut und machte eine schweifende Bewegung mit seiner Hand.
»Das Haus… die Möbel… den ganzen Luxus und deinen verfluchten SEAT haben wir von meinem Geld gekauft, für das ich hart geschuftet habe. Du hast verdammt noch mal kein Recht, so mit mir zu reden, geschweige denn mir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Wage es nicht noch einmal, sonst…«
Helga starrte ihn immer noch fassungslos an. Sie schämte sich plötzlich für ihre Gedanken, ihre Unzufriedenheit, ihre Einsamkeit. Ewald hatte recht. Er sorgte für sie und Robbie, er saß oft bis in die Nacht in seinem Büro. Er hatte…
…sie ins Gesicht geschlagen!
…niemals ihren Geburtstag vergessen und, und, und…
Sie schämte sich. Schämte sich auch für die Wut, die in ihr aufstieg. Nie hatte es Ewald bislang gewagt, Hand an sie zu legen. Bis heute. Sie wusste keine angemessene Reaktion, war nur vollständig konsterniert über das Geschehene. Sollte sie sich jetzt bei ihm entschuldigen, oder die Mingvase vom Wohnzimmertisch nehmen und auf seinem Kopf zertrümmern? Ganz langsam stand sie auf und ging los… Sie wollte ins Bad. Wollte in den Spiegel schauen, ob die Wange so feuerrot war, wie sie sich anfühlte. Wollte nur weg.
»Wo willst du hin?!«, herrschte Ewald sie an.
»Ich… nur ins Badezimmer«, stammelte sie.
»Und dann bringst du die verfluchte Uhr mit! Woll‘n doch mal sehen, wer hier der Hausherr ist!«, sagte Ewald und ließ sich in seinem Sessel nieder. Helga ging apathisch die Treppe hinauf und wäre zweimal fast umgeknickt. Sie torkelte an der Badezimmertür vorbei ins Schlafzimmer, wo sie sich auf der Bettkante niederließ. Sie zog die Nachttischschublade auf, holte die Uhr heraus und starrte sie an.
Und plötzlich gab es nur noch eine Frage, die sie beschäftigte. Wie konnte man dreizehn Jahre zurückdrehen? Es musste einen Mechanismus geben, der es möglich machte, weiter als ein paar Stunden in der Zeit zu reisen. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass dies möglich sein musste, genauso wie es ihr Treppenstufe für Treppenstufe klargeworden war, dass ein Leben mit diesem Tyrannen, dem sie sich jahrelang verpflichtet gefühlt hatte, nicht mehr möglich war. Robbie würde nichts merken. Er würde niemals geboren werden. Vielleicht hatte seine Seele eine Chance, in den Körper eines anderen Jungen zu kommen. Eines Jungen, der vielleicht in einer richtigen Familie lebte. Ewald hatte den Jungen mit seiner Selbstgefälligkeit ohnehin schon verzogen.
Sie drehte und wendete die Uhr in ihren Händen. Sie öffnete den Deckel und musste sich beeilen, bevor Ewald hereinkam. Wenn er erfahren würde, was diese Uhr für ein Geheimnis in sich trägt, dann würde er ihr sie wegnehmen und in die verfluchten Labors seiner verfluchten Firma bringen, um sie auseinanderzunehmen.
Es gab da schon einige Gründe, warum ich dir von der Uhr nichts erzählt habe, du Mistkerl!
»Habe ich dir nicht gesagt, dass…«, hörte sie ihn noch rufen, doch dann reagierte sie panisch und drehte an dem Knopf der Uhr und versank für einen Moment in eine blauschwarze Leere. Als sie wieder zu sich kam, saß sie im Schlafzimmer. Ewald stand vor der Frisierkommode und band sich gerade eine Krawatte. Helga erschrak.
Das hat er heute doch gar nicht gemacht! …dachte sie und starrte ihn nur fassungslos an. Plötzlich erblickte sie den Wandkalender neben dem Spiegel, wandte sich um, sah die Uhr auf ihrem Nachttisch, dann wanderte ihr Blick auf Methas Taschenuhr in ihrer Hand. Jetzt verstand Helga. Sie hatte die Stellschraube der Uhr ein wenig weiter als bei den ersten Versuchen herausgezogen. Wenn sie nun an dem goldenen Knopf drehen wollte, spürte sie den leichten Widerstand einer Rasterung. Sie erinnerte sich an den Opernbesuch vor einem Monat, bei dem sie und Ewald sich mit Geschäftsfreunden aus dem Ausland getroffen hatten.
»Hey… Willst du dich nicht endlich fertigmachen? Schau mal auf die Uhr, wie spät es schon ist!«, sagte der Ewald, der sich jetzt umgedreht hatte und ziemlich ungläubig dreinschaute.
»Es ist nie zu spät, Ewald!«, sagte Helga. »Niemals!«
»Was ist denn mit dir los? Was hast du denn da…«
Doch bevor Ewald weitersprechen konnte, stand Helga auf und ging hinaus. Sie lief die Treppe hinunter und rannte dann aus dem Haus. Während sie rannte und hinter sich noch Ewalds schwaches Rufen hatte hören können, drehte Helga den kleinen goldenen Knopf der Uhr, den sie ganz intuitiv eine weitere Rasterung herausgezogen hatte, und versank in der blauschwarzen Leere. Sie fühlte die Uhr in ihrer Hand und wusste, dass jede Rasterung, die sie sich nun in die Vergangenheit zurückkatapultierte, ein ganzes Jahr bedeutete.
Noch einmal ganz von vorne anfangen. Seit dreizehn Jahren hatte sich Helga nie so glücklich gefühlt. Sie dachte an Martin, der auf seinem Motorrad kommen würde. Sie stellte sich vor, wie sie aufstieg und sich ganz fest an ihn klammerte, um ihn nie wieder loszulassen… Dabei zählte sie die Rasterungen… fünf… sechs… sieben… und stellte sich den Ort vor, wo sie ankommen wollte. Ihr Haus würde doch noch gar nicht gebaut sein. Es musste einen gedanklichen Einfluss auf den Ankunftsort geben. Es war, als würde Metha neben ihr sitzen, um sie auf der großen Reise zu begleiten.
Oh, ich danke dir, Metha, dachte Helga. Ich verspreche dir, ich werde dich besuchen kommen, wenn ich da bin. Ganz bestimmt. Und dann klickte Helga die kleine Stellschraube in die achtzehnte Rasterung. Helga verließ die blauschwarze Leere.
*
Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich auf dem Gehsteig wieder, eine Straßenecke von dem Haus entfernt, wo ihre Eltern wohnten, wo sie als Kind aufgewachsen war. Ihr war noch etwas schwindlig und sie musste ihre Augen zukneifen. Die Sonne schien und ein alter Opel Commodore fuhr vorbei. Ein Modell, wie sie es seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es brauchte eine ganze Minute, bevor sie es schaffte, sich nur einen Schritt weit von der Stelle zu bewegen. Langsam… einen Fuß vor den anderen setzend, mit einem Herzschlag, dessen Pochen sie sogar in ihrer Schläfe noch zu spüren schien, ging sie los.
Noch ein paar Meter, dann würde sie das Haus sehen. Ihren Vater, ihre Mutter, würde den Duft der Blumen im Vorgarten riechen und sich auf die Schaukel im Garten setzen, die Vater eigens für sie an der dicken Eiche befestigt hatte. Plötzlich hielt sie inne und starrte auf das Bild der Frau, das sie im Schaufenster des Tante-Emma-Ladens erblickte. Ein Schwindel erfasste sie, als sie ihr eigenes Spiegelbild sah – aber es war nicht das Bild des jungen Mädchens, das sie zu sein hoffte. Stattdessen starrte ihr eine reife Frau entgegen, deren Gesicht von den Jahren gezeichnet war. Jede Falte erzählte von den durchlebten Jahren, von Kummer und stillen Tränen.
Die Erkenntnis traf sie wie ein physischer Schlag. Sie taumelte einen Schritt zurück, ihre Hand tastete halt suchend nach der Hauswand. Die Zeit hatte ihren Körper nicht verschont, hatte ihn durch die Jahrzehnte mitgenommen wie ein unaufhaltsamer Strom. Sie sah eine Frau, deren Augen zwar noch immer von jugendlichen Träumen sprachen, deren Körper aber die Geschichte eines anderen Lebens erzählte – eines Lebens als Ewalds Frau, als Robbies Mutter.
Mit entsetzlicher Klarheit wurde ihr bewusst, welchen Haken die Sache mit der Uhr hatte. Sie konnte zwar durch die Zeit reisen, aber ihre körperliche Hülle blieb die einer 30-jährigen Frau. Da stand eine gutaussehende, aber erwachsene Frau, die aber so, wie sie aussah, auf kein Motorrad der Welt passte. Jedenfalls auf keines, das ein 18-jähriger Mann lenkte. Ihre Träume von einer zweiten Chance mit Martin zerplatzten wie Seifenblasen im Wind.
Aber ich muss dir doch etwas sagen!
Alles war vorbei. Die ganzen Träume des Glücks und des Neubeginns. Alles war verpufft wie Abgase aus einem alten Motorrad. Sie begann zu weinen und das Bild der Frau im Schaufenster verzerrte sich zu einer widerlichen Fratze. Dann hörte sie plötzlich ein Geräusch, das ihr bekannt vorkam. Als sie sich umdrehte, fuhr ein junger Mann auf seinem Motorrad knatternd an ihr vorbei und bog um die Straßenecke. Sie hatte Martin sofort erkannt und gab dem Impuls nach, ihm hinterherzurennen. Als sie um die Ecke war, stoppte sie abrupt ab. Dort war das Haus mit den Rosenstöcken im Vorgarten. Martin hatte direkt davor angehalten und stieg von seiner Maschine. Helga meinte für einen Moment das Öl und den Schweiß von seinem Arbeitsanzug riechen zu können. Zumindest einen kurzen Moment lang.
Plötzlich wurde die Eingangstür des Hauses geöffnet und ein junges Mädchen kam herausgeeilt. Sie blieb bei Martin stehen und begann sich aufgeregt mit ihm zu unterhalten.
Du, ich muss dir etwas ganz Wichtiges sagen! Wir müssen uns trotzdem unbedingt treffen, auf dem Sommerfest am See…
Nach einer Weile öffnete sich die Tür abermals und ein Mann kam mit finsterer Miene in den Vorgarten gelaufen. Sie hatte ihren Vater im ersten Moment gar nicht erkannt, obwohl es eigentlich klar war. Aber wer war das Mädchen? War sie es selbst? Oder war es eine andere Helga? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Vater packte das junge Ding am Arm und zerrte sie an sich. Ein paar kurze Worte und sie eilte ins Haus zurück, ohne sich nach Martin umzudrehen. Vater begann aufgeregt auf ihn einzureden, bis er sich schließlich auf sein Motorrad setzte und laut knatternd davonfuhr.
Helgas Vater verschwand wieder im Haus und sie stand wie erstarrt an der Straßenecke. Es war surreal – sie hatte sich selbst gesehen, und doch war es eine andere Helga gewesen. Ein Mädchen, das bis zu diesem Moment exakt ihr Leben gelebt hatte, jeden Atemzug, jeden Gedanken, jede Hoffnung mit ihr teilte – und das nun einen völlig anderen Weg einschlagen würde. Sie spürte eine seltsame Verbindung zu diesem jungen Wesen, als wären sie durch ein unsichtbares Band verknüpft, und doch waren sie nun zwei verschiedene Menschen. Die junge Helga würde ab heute ihre eigene Geschichte schreiben, während sie, die ältere Helga, wie ein Geist aus der Zukunft dastand und zusah, wie sich ihr eigenes Schicksal neu formte.
Diese Erkenntnis war zu viel. Sie wandte sich um und begann zu laufen, ohne zu wissen, wohin. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander – war sie noch sie selbst? Würde sie sich auflösen, verschwinden, wenn die junge Helga einen anderen Weg einschlug? Oder waren sie nun zwei separate Existenzen, die sich in diesem einen magischen Moment getrennt hatten? Irgendwann brachen ihre Beine unter ihr weg und sie sank zu Boden. Ob aus der Last dieser metaphysischen Erkenntnis oder aus körperlicher Erschöpfung, sie wusste es nicht.
Sie hatte auch nicht realisiert, dass sie in ihrer Panik Martins Motorrad hinterhergerannt und im Vorgarten des Hauses zusammengebrochen war, in dem Martin wohnte.
*
»WO BIN ICH?!« Helga schnellte wie ein Springteufel hoch.
»Hey… Ganz ruhig. Sie sind in meinem Haus. Es ist alles in Ordnung. Ich habe Sie auf dem Gehsteig gefunden. Sie sind wohl ohnmächtig geworden, da habe ich Sie erst mal in mein Haus gebracht. Ich habe bis jetzt keinen Krankenwagen geholt, weil Sie bis auf Ihre Übermüdung in Ordnung zu sein schienen«, hörte Helga eine angenehme Stimme sagen. Sie war noch benommen, drehte ihren Kopf ein wenig nach rechts und sah, wem die Stimme gehörte. Sie kannte den Mann nicht, aber er sah zumindest vertrauenswürdig aus.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Das möchte ich Sie fragen! Auf alle Fälle sind Sie nicht aus der Gegend.«
»Doch!«, erwiderte sie rasch, doch dann fiel ihr alles wieder ein. Alles war plötzlich wie ein böser Traum. Es konnte nicht anders sein. Es musste einfach ein böser Traum sein.
»Den wievielten haben wir heute?«, fragte Helga hastig.
»Den achtzehnten, warum?«
»Welches Jahr?!«
»Wie bitte?«
»Welches Jahr, so sagen Sie es mir doch bitte!«, drängte sie und versuchte, sich so gut wie möglich zusammenzureißen.
»1972!«
Helga verstummte. Der letzte Funken Hoffnung verglühte jämmerlich zu einem schwarzen Staubkorn. Sie war in der Vergangenheit gefangen, wie in einem zugeschweißten Käfig. Sie ließ sich auf das Sofa zurücksinken und begann fürchterlich zu weinen.
Der Mann, der neben ihr auf einem Stuhl saß, war hilflos und schien sich zu fragen, was es mit dieser seltsamen Frau auf sich hatte. Er überlegte und suchte vermutlich nach den richtigen Worten.
»Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
Helga verstummte. Einen Moment lag sie wie leblos vor ihm, das Gesicht in die Kissen vergraben, dann drehte sie sich wieder um und wischte ihre Tränen weg. Heulen hilft jetzt auch nicht weiter, dachte sie.
»Das wäre sehr nett von Ihnen…«, sagte sie leise. Er stand auf und verschwand in der Küche. Plötzlich hörte sie, wie jemand die Haustür aufschloss und das Haus betrat. Als der junge Mann ins Wohnzimmer kam, traute Helga ihren Augen nicht. Als er sie erblickte, blieb er stehen und schaute ebenso verdutzt aus der Wäsche.
»Wer sind Sie denn?«, fragte er mürrisch.
»Martin!«, rief sie und setzte sich auf. »Ich…«
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte der Mann, der aus der Küche kam und ein Glas Wasser in der Hand hielt.
»Die Geschichte glauben Sie mir sowieso nicht«, sagte Helga und nahm das Wasser, das der Mann ihr hinhielt.
»Lassen wir es drauf ankommen…«, sagte er.
»Ich lasse euch besser allein«, sagte Martin, ihr Martin, der Junge, in den sie einst so unsterblich verliebt gewesen war, und verschwand nach oben.
»So, nun erzählen Sie mal! Woher kommen Sie und woher kennen Sie meinen Sohn?«
»Ihren Sohn?«
»Ja, meinen Sohn. Sie haben ihn beim Vornamen genannt.«
Helga schluckte. Sollte sie ihm tatsächlich alles erzählen? Sollte sie nicht versuchen, eine Ausrede zu finden? Irgendeine billige Erklärung, mit der jeder zufrieden wäre? Martins Vater machte den Eindruck, als lasse er sich keine Märchen erzählen. Er verlangte nach der Wahrheit und im Grunde verlangte es Helga danach, mit irgendjemand über alles zu sprechen. Die Uhr! Wo war sie? Sie tastete die Taschen ihres Rockes ab. Die Uhr war weg. Verunsichert blickte sie sich auf dem Sofa um. Sie würde Martins Vater nie beweisen können, was sie zu berichten hatte. Sie wusste, dass sie Gefahr lief, in die nächstbeste Anstalt eingewiesen zu werden, aber dennoch wollte sie es tun. Ihre letzte Hoffnung würde Tante Metha sein, die ja noch am Leben war. Was, wenn die sich nicht an ihre Nichte erinnern konnte? Das alles wird doch erst passieren! Wieder überkamen sie die Tränen.
Martins Vater setzte sich neben sie und stellte sich als Hans Kübler vor. Er erzählte ihr von sich, dass er mit seinem Sohn seit dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren alleine hier lebte. Zunehmend gewann er Helgas Vertrauen. Zögernd begann sie, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Als sie geendet hatte, blieb er zunächst merkwürdig ruhig und gelassen, bis…
»Ich bin froh, dass Sie mir die Wahrheit erzählt«, sagte er. »und mir nicht irgendwelche Lügenmärchen aufgetischt haben. Das war sehr mutig von Ihnen.«
»Wie…? Sie glauben mir das alles? DAS?! Einfach so?«, fragte sie verstört.
»Nein… Nicht einfach so.« Er stand auf und verschwand in der Küche. Als er zurückkam, hielt er Methas Uhr in der Hand und gab sie Helga.
»Als ich Sie vorhin auf der Straße fand, hielten Sie diese Uhr fest umklammert in ihrer Hand. Ich nahm sie an mich. Während Sie schliefen, merkte ich, dass die Uhr etwas ein wenig vorging, also stellte ich sie. Plötzlich waren Sie wieder draußen auf der Straße, und ich trug Sie zum zweiten Mal ins Haus. Ich dachte zuerst, dass ich im Begriff bin, verrückt zu werden. Ich beschloss jedoch zu warten, bis Sie aufwachen würden. Ich vermutete, dass Ihre Ohnmacht mit der Uhr in Verbindung steht. Jetzt ist alles klar… Sie wollten zu Martin, nicht wahr?«
Helga wurde rot. Beschämt ließ sie den Kopf sinken.
»Na ja… Sie brauchen sich nicht zu schämen. Vielleicht hätte ich in Ihrer Situation dasselbe gemacht. Aber was wird denn nun werden?«
»Ich weiß es nicht…«, sagte sie resignierend. Plötzlich fuhr sie hoch. »Aber das ist jetzt auch nicht wichtig! Ich muss mit Martin reden. Wenn es so ist, wie ich glaube, dann hat ihn mein… Vater gerade weggeschickt. Ich habe noch beobachtet, wie er vor unserem Haus vorfuhr und… ein junges Mädchen aus dem Haus heraus kam. Vor dreizehn Jahren war ich dieses Mädchen! Er darf sich von meinem Vater nicht einschüchtern lassen. Wenn alles so passiert ist, wie es passiert ist, dann hat sie ihm etwas Wichtiges zu sagen! Er muss noch einmal zurück! Er muss einfach!«
»Was wollten Sie ihm damals sagen?«
»Ich kann es nicht sagen. Er muss selbst noch einmal hin. Er muss es vor ihr hören. Sie muss es ihm sagen. Es ist auch für mich… Nein, für dieses Mädchen wichtig. Hören Sie! Ich weiß nicht, ob ich recht habe, aber wenn es so ist, wie ich denke, dann wird sie in ihr Unglück rennen, wenn er nicht noch einmal zu ihr geht!«
»Vielleicht rennt ja mein Sohn in sein Unglück, wenn er das tut…?«
Helga erhob sich und stellte sich bestimmend vor Martins Vater.
»Ich bin nach dreizehn verdammten Jahren zurückgekehrt, nur um Ihres Sohnes Willen. Wenn das keine Liebe ist, dann weiß ich selbst nicht mehr, was dieses Wort bedeuten soll.«
Hans schwieg. Mit dem Nachdruck, mit dem sie ihm die Worte ins Gesicht geschleudert hatte, hatte sie sich zumindest Respekt verschafft.
»Da haben Sie Recht…«, murmelte er und lächelte verhalten. Er drehte sich um und ging bis an den Fuß der Treppe, die ins obere Stockwerk führte. »MARTIN?! … MARTIN!«
»Jaaa…«, tönte es leise von oben.
»KOMM RUNTER! ICH MUSS MIT DIR REDEN!«
Martin kam und schaute verwirrt in die ernsten Gesichter der beiden Erwachsenen.
»Was ist los?«
»Wo warst du vorhin?«, fragte Vater in einem Ton, bei dem Martin wusste, dass er zu antworten hatte.
»Ich war in der Werkstatt. Wieso?«
»Warst du bei dieser Helga?«
»Ähm, ja… Ich bin vorbeigefahren und wollte sie zum Seenachtsfest einladen. Hey, wenn sie etwas mit Helgas Vater zu tun hat, dann lass dich nicht einwickeln. Ich war so freundlich, wie man nur sein kann. Ich hab nichts getan… Er kam einfach raus und hat mich wie einen Hund von seinem blöden Grundstück gejagt! Ich hab wirklich nicht…«
»Schon gut, Martin. Ich weiß, dass du nichts angestellt hast!«
»Ja, aber…«
»Du wirst jetzt noch mal zu Helga fahren und fragst ihn, ob du Helga sprechen könntest. Sag ihm, es geht um die Schule und ist wichtig. Du hast ihr ein Buch ausgeliehen oder was weiß ich was.«
»Ich verstehe nicht, was…«
»Das brauchst du auch nicht, Junge. Du wirst höflich, aber bestimmend fragen, ob du Helga…« Hans drehte sich zu Helga. »…Reichen fünf Minuten?«
Helga nickte aufgeregt. Hans drehte sich wieder zu Martin.
»Also… Fünf Minuten sprechen kannst. Sie soll dir sagen, was sie zu sagen hat! – Erst dann wirst du sie in Ruhe lassen. Wenn der Alte pampig wird, werde du es auch oder sag ihm, er soll mich anrufen. Zeig ihm, dass du es ehrlich meinst! Verstanden?«
»Ja… In Ordnung, Papa!«, stammelte Martin.
»Na los! Mach, dass du rauskommst!«, drängte Hans. Martin nahm eiligst seine Jacke vom Haken und stürmte aus dem Haus. Draußen hörten sie das Motorrad davonknattern.
Hans drehte sich zu ihr um.
»So und jetzt will ich es wissen!«, sagte Hans Kübler und schaute Helga eindringlich an.
»Ich weiß doch nicht, ob ich recht habe?!«, flehte Helga.
»Was soll Martin erfahren, verdammt noch mal!«, schrie er und Helga brüllte es ihm regelrecht ins Gesicht…
»DASS SIE SCHWANGER IST, SOLL ER ERFAHREN! SIE IST SCHWANGER!«, schrie sie und brach in Tränen aus. Hans ging zu ihr und nahm sie fest in den Arm.
»Schon gut, Helga… Ist alles in Ordnung. Jetzt ist alles gut.«
Nachdem sie sich beruhigt hatte, erzählte Helga ihm die ganze Geschichte. Dass sie und Martin sich nicht nur einmal heimlich getroffen hatten, und dass sie einmal sogar ihren Eltern vorgelogen hatte, sie verbringe die Nacht bei einer Freundin. Martin hatte nie etwas von seiner Vaterschaft erfahren. Der einzige, der davon wusste, war Ewald, der ihr versprochen hatte, kein Wort über die Sache zu verlieren und eine Abtreibung bezahlte, bei einem Wochenendausflug nach Amsterdam. Zeitlebens hatte sie dieses Geheimnis mit sich herumgetragen. Hatte sich von Ewald alles gefallen lassen, aus Angst, er könne die Sache publik machen, wenn sie versuchen würde, sich gegen ihn zu stellen. Aber dazu hatte es ja auch zunächst gar keinen Grund gegeben. Am Anfang war er doch so nett gewesen…
Hans und Helga saßen eine Weile beisammen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Schließlich brach er das Schweigen.
»Sie haben wirklich viel durchgemacht«, sagte er.
Helga schwieg. Sie wagte es nicht einmal, ihn anzusehen.
»Was werden Sie tun, wenn…«, fragte sie auf den Boden starrend und fühlte sich plötzlich wie das 18-jährige Mädchen, das sie damals war.
»Das werden wir sehen…«, murmelte Hans und ging ans Fenster. Keiner sagte etwas.
*
Helga hörte das Knattern von Martins Motorrad. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Eine Minute später flog die Wohnzimmertür auf und Martin kam herein. Hinter sich ein verschüchtertes Mädchen, nicht älter als 18. Sie hatte eine vage Ähnlichkeit mit Helga. Plötzlich klingelte das Telefon.
»Hör zu, Papa…«, sagte Martin keuchend. »Das wird ihr Vater sein. Es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders…«
»Was hast du getan?«, fragte Hans, ohne sich von dem Klingeln des Telefons einschüchtern zu lassen.
»Ich habe… ihm eine geknallt!«, sagte Martin und errötete leicht.
Hans konnte sich ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Du hast… Was?!«
»Da ist noch mehr, Papa… Ich muss dir noch etwas sagen. Helga und ich, wir werden heiraten!«
»So… so… Bevor oder nachdem sie ihr Kind bekommen hat?« Hans schien seine Mitwisserschaft beinah zu genießen. Diesen Eindruck hatte Helga zumindest, die ihm vor Freude am liebsten um den Hals gefallen wäre.
»Aber… Woher weißt du das?«, stammelte Martin und verschluckte sich beinah.
»Jetzt geht ihr erst mal rauf und beruhigt euch. Die kleine Helga ist ja ganz mit den Nerven runter. Du wirst ihr Mutters altes Nähzimmer herrichten. Sie wohnt ab jetzt bei uns, bis ihr euch eine eigene Wohnung leisten könnt. Aber das eine sag ich dir, mein Sohn. Solange ihr noch nicht verheiratet seid, werdet ihr getrennt schlafen, und sollte ich euch auf nächtlichen Wanderungen ertappen, fliegt ihr beide in hohem Bogen raus! Ist das klar?«
»Ja… ähm… natürlich. Aber wieso das alte Nähzimmer? Wir haben doch ein Gästezimmer!«
»Das… mein Junge, ist für unsere große Helga. Sie wird erstmal auch hier wohnen!«, sagte Hans und merkte, wie er selbst rot wurde. Helga musste sich jetzt wirklich zusammennehmen, um nicht wieder loszuheulen.
»Heißt das, dass ihr beide…«, fragte Martin.
»Das heißt gar nichts! Jetzt nach oben ihr beide. Ich werde jetzt mit Helgas Vater sprechen, wenn er mich zu Wort kommen lässt.«
Die beiden gehorchten. Hans ging zum Telefon, doch bevor er den Hörer abnahm, rief er… »Martin!«
Sie blieben stehen.
»…und sorge dafür, dass sie es gut bei dir haben wird. Sie ist, glaube ich, das Beste, was dir passieren kann!«
Martin war verwirrt. Er schien die Welt plötzlich nicht mehr zu verstehen. Er nickte nur und ging mit seiner Helga nach oben.
Hans nahm den Hörer ab.
»Kübler?! Ah… Herr Gensmantel. Was kann ich für Sie tun?«
Er hörte sich eine Weile die Schimpftiraden von Helgas Vater an. Ab und zu hielt er den Hörer etwas weiter von seinem Ohr weg, weil dieser sich vor Wut die Lunge aus dem Leib brüllte. Helga erkannte sofort die Stimme ihres Vaters und bekam zitternd eine Gänsehaut.
»Jetzt hören Sie mir mal zu…«, sagte Hans. »Ich bin vollkommen Ihrer Meinung. Und Sie brauchen sich auch keine Sorgen zu machen. Mein Sohn hat keinerlei finanziellen Interessen. Dass Sie Ihre Tochter enterben wollen, finde ich eine großartige Idee. Und auch dass sie sich bei Ihnen nicht blicken lassen muss, ist auch in Ordnung… Was? Nein, sie wohnt ab heute bei uns. Und wenn Sie meinem Haus näher als fünfzig Meter kommen, werde ich Ihnen den Hintern versohlen! Auf einen Großvater wie Sie können MEINE Enkelkinder verzichten!«
Helga musste sich wieder zusammennehmen. Diesmal um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
»Kann sein, dass ich unverschämt bin…«, sagte Hans, »Aber vielleicht werden Sie anders darüber denken, wenn Sie den ersten Schock überstanden haben.« … und mit diesen Worten legte Hans den Hörer auf und setzte sich neben Helga.
»Ich glaube, ich brauche jetzt einen Cognac«, sagte er.
»Sagen Sie mir, wo alles steht, dann bringe ich Ihnen einen!«, bot ihm Helga an.
Später saßen sie beisammen und amüsierten sich noch über Helgas Vater…
»Er wird sich beruhigen«, sagte Hans.
»Oh… das kann dauern«, meinte Helga, worauf beide wieder lachten.
»Ich möchte mich noch einmal bei Ihnen bedanken!«, sagte sie. »Sie haben sich wirklich großartig verhalten.«
»Was blieb mir denn anderes übrig? Hätte ich anders reagiert, hätte er sich sein Mädchen geschnappt und wäre mit ihr auf und davon.«
»Ja… kann gut sein.«
»Ich hätte da eine Frage…«, sagte Hans und nahm die Taschenuhr zur Hand.
»Ja?«
»Sie haben sich nicht zufälligerweise die Lottozahlen der nächsten zwanzig Jahre notiert?«
Helga starrte ihn fassungslos an. »Nein… ich… ähm… daran habe ich gar nicht…«
Sie brachen in Gelächter aus, und ganz zufällig rutschte sein Arm um ihre Schulter. Sie lehnte sich an ihn und genoss es. Lottozahlen brauchten sie jetzt nicht mehr.
Helga beschloss, am nächsten Tag Tante Metha zu besuchen und sich bei ihr zu bedanken. Ob diese sie erkennen würde? Ob es jetzt zwei Taschenuhren gab? Hatte Metha auch eine Zeitreise hinter sich?
Dann wurde plötzlich alles egal … Sie schlief an seiner Schulter ein, denn alles war in Ordnung so, wie es war.
***
