Café Zeitlos

»Einen Cappuccino, bitte. Mit extra viel Schaum!«
Die Barista zuckte zusammen. Die Stimme klang wie brechendes Eis und wehender Wind in einer Januarnacht. Sie drehte sich um und erstarrte. Vor ihr stand eine hochgewachsene Gestalt in einem makellos schwarzen Anzug. Wo ein Gesicht hätte sein sollen, war nur Schatten unter der Krempe eines altmodischen Hutes zu sehen.
»Äh … natürlich. Das macht dann vier Euro fünfzig«, stammelte sie.
Knochige Finger zogen eine abgewetzte Geldbörse aus der Innentasche des Anzugs. »Tut mir leid, ich habe nur einen Fünfziger aus dem Jahr 1923. Geht das auch?«
Sarah – so stand es auf ihrem Namensschild – starrte auf den Geldschein. Die Zahlen darauf tanzten vor ihren Augen, und sie war sich sicher, dass sie den Geruch von Verwesung wahrnahm.
»Wissen Sie was? Geht aufs Haus«, hörte sie sich sagen.
Der unheimliche Kunde neigte leicht den Kopf. »Sehr freundlich. Die Menschen werden wirklich immer netter. Früher sind sie meist schreiend davongelaufen.«
Es war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf geschossen war. Verrückt. Plemplem … Bescheuert bis zum Anschlag, aber dennoch mit einer Gewissheit, die sie faszinierte. Sie dachte: Da steht der Tod vor mir. Der leibhaftige Tod, und er möchte einen Cappuccino. Mit Milchschaum und viel Liebe gemacht. Sarah begann mechanisch, den Cappuccino zuzubereiten. Ihre Hände zitterten nur minimal, als sie die Milch aufschäumte, und während sie der Gestalt die Tasse hinstellte, hörte sie sich fragen:
»Sie sind … ich meine … sind Sie …?«
»Der Tod?«, fragte er und gab direkt darauf die Antwort. »Ja. Aber bitte nennen Sie mich Thomas. Ist weniger dramatisch.«
Sarah stellte die Tasse auf den Tresen. Der Tod – Thomas – nahm sie behutsam in seine knöchrigen Hände und lächelte.
»Ah, perfekt. Wissen Sie, manchmal braucht man einfach eine Pause. Eine Seele hier, eine Seele da … das kann ganz schön anstrengend sein.«
»Verstehe«, sagte Sarah, obwohl sie gar nichts verstand. »Und warum gerade hier? In meinem Café?«
Thomas nahm einen Schluck und seufzte zufrieden. Ein Geräusch wie fallende Herbstblätter. »Der beste Cappuccino der Stadt. Das hat sich bis in die Unterwelt herumgesprochen. Außerdem …« – er deutete auf einen älteren Herrn am Fenster, der über seiner Zeitung eingenickt war – »… habe ich gleich einen Termin.«
Sarah folgte seinem Blick. »Oh«, war alles, was sie herausbrachte.
»Keine Sorge«, sagte Thomas und trank den letzten Schluck. »Er hat ein langes, erfülltes Leben gehabt. Und sein Enkel wird das Café in zehn Minuten finden. Ein friedlicher Übergang.« Er stellte die Tasse ab. »Ausgezeichneter Cappuccino, übrigens. Die perfekte Balance zwischen bitter und süß. Wie das Leben selbst.«
Er erhob sich, und für einen Moment schien der Raum dunkler zu werden. »Man sieht sich, Sarah. Aber nicht zu bald.« Er tippte an seinen Hut und ging zur Tür.
»Warten Sie!«, rief Sarah. »Woher wissen Sie meinen Namen?«
Thomas drehte sich noch einmal um. Wo sein Gesicht sein sollte, glaubte Sarah für einen Moment ein Lächeln zu sehen. »Sie tragen ein Namensschild. Aber auch wenn nicht … Ich kenne alle Namen, meine Liebe. Das gehört zum Job. Ach ja … Sie sollten diesem Ort einen besonderen Namen geben!« Die Türglocke bimmelte, und er war verschwunden.
Sarah legte ihre Finger auf das Schildchen an ihrer Brust und starrte auf die leere Tasse auf dem Tresen. Ein perfekter Abdruck von Lippen war im restlichen Milchschaum zu sehen – aus feinstem Staub.
In genau sieben Minuten würde ein junger Mann das Café betreten, um seinen Großvater zum Mittagessen abzuholen. Er würde ihn mit gesenktem Kopf friedlich schlafend über seiner Zeitung finden, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Von diesem Tag an servierte Sarah jeden Mittwoch um Punkt zwölf einen Cappuccino mit extra Schaum auf dem Tresen des Cafés. Die anderen Gäste hielten es für eine ihrer Schrullen. Aber manchmal, wenn sie die Tasse später abräumte, fand sie darin einen perfekten Abdruck von Lippen aus feinstem Staub. Und manchmal kam er auch sichtbar in der Gestalt eines alten Mannes. Dann schob er sich auf einen der Barhocker und plauderte ein wenig mit Sarah, trank seinen Cappuccino und erzählte von gelebten Leben, friedlichen Übergängen und dass all das gar nicht so schlimm sei, wie es sich die Menschen immer vorstellten.
Und immer wenn ein Gast friedlich über seiner Zeitung einschlief, wusste sie, dass es Zeit war, einen frischen Cappuccino zuzubereiten.
*
Ein Jahr später.
Sarah wischte gedankenverloren über die Theke ihres Cafés. Ein Jahr war vergangen seit jenem merkwürdigen Mittwoch, als der Tod – oder Thomas, wie er sich vorgestellt hatte – seinen ersten Cappuccino bei ihr getrunken hatte. Das »Café Zeitlos«, wie sie es nach dieser Begegnung umbenannt hatte, war zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Besonders ältere Menschen fühlten sich hier wohl, als würde der Ort eine besondere Art von Frieden ausstrahlen.
Die Glocke über der Tür bimmelte sanft. Eine junge Frau mit verweinten Augen trat ein, zielstrebig auf den Tresen zu.
»Einen Kakao, bitte«, ihre Stimme zitterte leicht. »Mit Sahne.«
Sarah nickte verständnisvoll. Sie hatte im Laufe des vergangenen Jahres gelernt, die Zeichen zu lesen. Diese Kundin hatte gerade von jemandem Abschied genommen.
»Der geht aufs Haus«, sagte Sarah leise und schob der überraschten Frau die dampfende Tasse zu. »Setzen Sie sich doch ans Fenster. Die Nachmittagssonne tut gut.«
Die Frau lächelte dankbar und nahm am selben Tisch Platz, an dem damals der alte Herr seine letzte Zeitung gelesen hatte. Sarah beobachtete, wie sich ihre angespannten Schultern langsam entspannten.
Es war seltsam, wie sich ihr Leben verändert hatte. Sie begann, den Tod anders zu sehen – nicht als Ende, sondern als eine Art Übergang. Thomas‘ Besuche waren zu einer vertrauten Routine geworden. Manchmal sprachen sie über die Menschen, die er »abholen« würde. Er erzählte von ihren Leben, ihren unerfüllten Träumen, aber auch von der Erleichterung, die manche empfanden, wenn er kam.
»Die meisten haben mehr Angst vor dem Leben als vor mir«, hatte er einmal gesagt, während er gedankenverloren mit seinem Löffel den Milchschaum zu einem Spiralmuster formte.
Sarah hatte auch gelernt, die Anzeichen zu erkennen. Der leichte Temperaturabfall kurz vor seinem Erscheinen. Das kaum wahrnehmbare Flackern der Lichter. Das plötzliche Verstummen der Straßengeräusche. Und natürlich der schwache Geruch nach altem Pergament und Herbstlaub, der ihn begleitete.
Die Stammgäste hatten sich an den reservierten Platz am Tresen gewöhnt, der jeden Mittwoch um zwölf für eine Stunde besetzt war – auch wenn die meisten den Gast nicht sehen konnten. Nur die Kinder bemerkten ihn manchmal, zeigten mit dem Finger auf den »netten Onkel im schwarzen Anzug« und winkten. Thomas winkte immer zurück.
Sarah hatte angefangen, ein Tagebuch zu führen. Sie notierte die kleinen Geschichten, die Thomas erzählte, die Namen der Menschen, deren letzte Stunden er begleitet hatte. Es war ihre Art, ihnen ein Denkmal zu setzen. Manchmal kamen Angehörige ins Café, ohne zu wissen warum, und fanden hier einen Moment des Friedens.
An diesem Nachmittag war es wieder soweit. Die Temperatur sank unmerklich, die Lichter flackerten sanft. Sarah begann automatisch, den Cappuccino zuzubereiten – mit extra Schaum, wie immer.
»Ah, Sarah.« Seine Stimme klang wie raschelndes Herbstlaub. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Thomas.« Sie lächelte. »Der übliche?«
Er nahm am Tresen Platz, der schwarze Anzug makellos wie immer. »Wie geht es deiner Großmutter?«
Sarah hielt kurz inne. Sie hatte ihm nie von ihrer Großmutter erzählt. »Woher …?«
»Sie denkt oft an dich«, sagte er sanft. »Sie ist stolz auf das, was du aus dem Café gemacht hast. Ein Ort des Übergangs, des Friedens. Das war es schon immer, weißt du? Deine Großmutter wusste das. Deshalb hat sie es dir vermacht.«
Sarah stellte die Tasse vor ihm ab, ihre Hände zitterten leicht. »Sie … sie konnte dich auch sehen?«
Thomas neigte den Kopf. »Sie hat mir jahrelang Kamillentee serviert. Schreckliches Zeug. Dein Cappuccino ist eine deutliche Verbesserung.«
Sarah musste lachen, obwohl ihr Tränen in den Augen standen. Sie erinnerte sich an das alte Café ihrer Großmutter, an den immer reservierten Tisch am Fenster, an die Kamillentee-Kanne, die jeden Mittwoch um zwölf dampfte.
»Das Leben geht weiter«, sagte Thomas und nahm einen Schluck. »Und der Tod gehört dazu. Wie Milch zum Kaffee.« Er hielt inne. »Apropos, dein neuer Milchschäumer macht wirklich einen ausgezeichneten Schaum.«
Sarah schüttelte lächelnd den Kopf. Der Tod als Kaffeekenner – wer hätte das gedacht? Sie griff nach ihrem Notizblock, bereit für die Geschichten, die er heute mitgebracht hatte. Es würde wieder eine besondere Mittagspause werden.
*
Der letzte Cappuccino
Die Jahre waren wie Kaffeebohnen durch die Mühle des Lebens gerieselt. Sarah stand am Fenster ihres Cafés und beobachtete, wie die Herbstblätter tanzten – genau wie damals, vor dreißig Jahren, als sie Thomas zum ersten Mal begegnet war.
Ihre Haare waren inzwischen grau geworden, wie der Morgennebel über der Stadt. Ihre Hände zitterten leicht, wenn sie den Milchschäumer bediente, aber der Cappuccino-Schaum war immer noch perfekt. Das »Café Zeitlos« hatte sich kaum verändert. Den Platz am Tresen gab es immer noch, jeden Mittwoch um zwölf für eine Stunde reserviert.
»Tante Sarah?« Marie, ihre Nichte und seit einigen Jahren ihre rechte Hand im Café, berührte sanft ihren Arm. »Ist alles in Ordnung?«
Sarah lächelte. Marie war die Einzige, der sie das Geheimnis der Mittwochsmittagspausen anvertraut hatte. »Ja, Liebes. Ich spüre nur, dass heute ein besonderer Tag wird.«
Die Morgensonne färbte den Himmel in warmes Gold, als Sarah begann, die Tische abzuwischen. Ihre Bewegungen waren langsamer als früher, aber immer noch von der gleichen Sorgfalt geprägt. Um elf Uhr füllte sich das Café wie gewohnt mit den Stammgästen.
Der alte Herr Schmidt mit seiner Zeitung. Die junge Mutter mit den Zwillingen, die immer zum unsichtbaren Mann am Tresen winkten. Die Studentin in der Ecke, die seit Jahren an ihrer Doktorarbeit über »Kulturelle Manifestationen des Todes im urbanen Raum« schrieb. Sie alle gehörten zum Café wie der Duft von frisch gemahlenem Kaffee.
Als der große Zeiger auf die Zwölf rückte, spürte Sarah die vertraute Veränderung in der Luft. Das leichte Absinken der Temperatur, das sanfte Flackern der Lichter. Der Geruch nach altem Pergament und Herbstlaub.
»Sarah.« Seine Stimme klang wie immer – wie Wind in einem verlassenen Haus, wie das letzte Blatt, das vom Baum fällt.
»Thomas.« Sie drehte sich um und lächelte. »Der übliche?«
Er stand vor der Theke, makellos gekleidet wie am ersten Tag. Der schwarze Anzug ohne einen Staubkorn, der altmodische Hut tief ins Gesicht gezogen. »Heute nicht, meine Liebe. Heute bin ich gekommen, um mit dir spazieren zu gehen.«
Sarah nickte langsam. Sie hatte es gewusst, irgendwie. Hatte es in ihren Knochen gespürt, als sie heute Morgen aufgewacht war. »Lass mich nur noch einen letzten Cappuccino machen.«
Thomas neigte den Kopf. »Natürlich.«
Mit ruhigen Händen bereitete Sarah ein letztes Mal ihr Meisterwerk zu. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee füllte die Luft, die Milch schäumte perfekt auf. Sie teilte den Cappuccino in zwei Tassen.
Marie stand wie erstarrt hinter der Theke, Tränen in den Augen. Sie konnte Thomas nicht sehen, aber sie verstand.
»Das Rezept für den perfekten Cappuccino steht in dem kleinen roten Buch in meiner Schublade«, sagte Sarah zu ihr. »Und vergiss nicht: Der Platz am Tresen bleibt reserviert, jeden Mittwoch um zwölf.«
Sarah und Thomas nahmen ein letztes Mal ihren Platz ein. Er vor dem Tresen. Sie dahinter. Die Herbstsonne schien durch die großen Fenster, malte goldene Muster auf den Boden.
»Weißt du«, sagte Thomas, während er seinen Cappuccino genoss, »in all den Jahrhunderten hat mir niemand je einen so perfekten Kaffee … Cappuccino … serviert.«
»Das liegt an der Liebe«, erwiderte Sarah. »Die ist die geheime Zutat.«
Sie tranken schweigend. Als die Tassen leer waren, erhob sich Thomas und bot Sarah seinen Arm an. »Bereit für einen Spaziergang?«
Sarah stand auf, plötzlich fühlte sie sich leicht wie eine Feder. Die Arthritis in ihren Knien war verschwunden, ihre Bewegungen waren wieder geschmeidig wie in jungen Jahren. Sie hakte sich bei Thomas ein.
»Auf Wiedersehen, Marie«, sagte sie sanft. »Kümmere dich gut um unser Café.«
Hand in Hand gingen sie zur Tür. Als sie sie öffneten, strömte goldenes Licht herein. Sarah drehte sich noch einmal um und sah Marie an der Theke stehen, die tapfer lächelte. Dann traten sie hinaus in das Licht.
Zurück blieben zwei leere Tassen, in deren Milchschaum sich ein perfekter Abdruck von Lippen aus feinstem Staub abzeichnete.
Das »Café Zeitlos« öffnete am nächsten Tag wie gewohnt. Marie servierte den Cappuccino genau nach Sarahs Rezept. Und jeden Mittwoch um zwölf blieb der Tisch am Fenster reserviert – für einen Herrn im schwarzen Anzug und seine Begleiterin, deren Lachen manchmal durch das Café zu klingen schien, wie ein Echo aus einer anderen Zeit.
Die Kinder im Café winkten nun zwei Gestalten zu. Und wenn man genau hinhörte, konnte man über dem Rauschen der Espressomaschine eine Stimme hören, die sagte: »Die Liebe, Thomas. Die Liebe ist immer die geheime Zutat.«


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