Für Richard,
dem ich nicht oft genug begegnen kann.
Das Telefon stand mitten auf dem Schreibtisch. Brocker saß regungslos da, die Augen fest auf den schwarzen Apparat mit dem digitalen Display gerichtet. Der Raum war auf eine unnatürliche Weise aufgeräumt. Es sah nicht aus wie das Büro eines Mannes, der ein erfolgreiches Unternehmen führte. Keine Akten, kein Computer, keine Notizen.
Alles Unwesentliche war beiseitegeschoben, um den Blick auf das Objekt frei zu machen, das jeden Moment klingeln konnte. Es war an der Zeit, dass es klingelte.
Das Telefon, unschuldig und bedrohlich zugleich, war das Herzstück dieser surrealen Bühne. Brocker spürte den feinen Schweißfilm, der sich auf seinem Rücken bildete, sich langsam durch sein Hemd fraß und in das kalte Leder seines Bürostuhls übertrat.
Die Uhr auf dem alten Schrank, ein Erbstück seines Großvaters, schlug unermüdlich und unbarmherzig.
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Das Geräusch war ohrenbetäubend in der Stille, jeder Schlag ein kleiner Hammerschlag in Brockers Trommelfell. Es war, als ob die Zeit selbst mit jedem Ticken dröhnend betonte, wie wenig ihm noch blieb. Brocker konnte sich nicht entscheiden, ob das Geräusch ihn in den Wahnsinn trieb oder ihn an die Realität fesselte. Das ständige Ticken wurde zum Symbol seiner aufgestauten Angst, ein ständiger Begleiter, der ihn unbarmherzig daran erinnerte, dass der Moment der Wahrheit immer näher rückte. Einen Moment lang dachte er, dass er nicht wusste, warum er das Scheißding auf seinen Aktenschrank gestellt hatte. Vielleicht, um seinem Großvater zu zeigen, dass er es geschafft hatte. Das, was ihm keiner zugetraut hatte. Der kleine Scheißer hatte es tatsächlich geschafft und ein Top-Unternehmen der Tech-Branche aus dem Boden gestampft, das kurz davorstand, an die Börse zu gehen.
Doch was nützte all das, wenn er jetzt hier saß, gefangen in einer Endlosschleife aus Angst und Erwartung, das Gesicht bleich, die Augen starr auf ein Telefon gerichtet, das über sein Schicksal entscheiden würde. Oder doch nicht?
Er war müde. Eigentlich viel zu müde. Seine Augen wollten sich schließen, doch mehr als kurzes Blinzeln ließ er nicht zu. Er selbst wusste nicht mehr, wie lange er schon in dieser Position da saß, ohne etwas gegen den stechenden Schmerz in seinem Kopf oder das drohende Knurren seines Magens zu tun. Ohne das Bedürfnis zu verspüren, sich der verschwitzten Kleidung zu entledigen oder Valerie, seine viel zu hübsche Assistentin, zu bitten, ihm einen starken Kaffee zu bringen, der ihm bei seinem Bemühen, konzentriert zu bleiben, durchaus von Nutzen gewesen wäre. Ihm war eher nach einem Bourbon.
Bourbon hätte dem Telefon seine Macht genommen und das Ticken der Uhr in ein sanftes Geräusch im Hintergrund verwandelt. Bourbon hätte ihn nicht schwitzen lassen. Bourbon machte alles irgendwie einfach.
Bourbon ließ aber auch seine Hemmungen sinken, machte ihn auf eine ungesunde Art und Weise frei. Das Telefon, die Uhr, das Zimmer, alles wäre überhaupt nicht mehr relevant gewesen. Es hätte vielleicht damit begonnen, dass er Valerie zu sich gerufen hätte. Dass er ihr Komplimente gemacht hätte. Er hätte sie auf ihre Probleme mit Michael, ihrem derzeitigen Lover und kompletten Vollversager, angesprochen. Er hätte ihr zugehört und Verständnis gezeigt. Ein Millionär mit Gefühlen und einem offenen Ohr für die Menschen, die ihm wirklich etwas bedeuten. Und Valerie hätte es so gutgetan. Und es hätte ihm gutgetan, mit jemandem zu reden…
Und dann hätte er versucht, sie hier mitten in seinem Scheiß-Büro flachzulegen. Ja… so ist Daniel Brocker, wenn er sich einen oder mehrere Blackjack gegönnt hat. Denn hatte er den ersten intus, wollte der zweite hinterher. Dann der dritte und so weiter… Aber das lassen wir dann lieber. Diese Entscheidung haben wir vor Jahren schon getroffen. Nicht wahr, Danny? Blackjack ist nicht gut für dich. Genauso wenig wie das Spielen… Dann starrte er wieder auf das Telefon.
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Er erinnerte sich genau an den Tag, als Valerie zum ersten Mal in sein Büro gekommen war. Es war einer dieser endlosen Tage voller Meetings und Vertragsverhandlungen, und Brocker hatte eigentlich keinen Kopf für ein Bewerbungsgespräch. Doch als Valerie hereinkam, änderte sich etwas. Sie war unsicher und nervös. Das konnte er sofort sehen. Ihre Hände hielten krampfhaft ihre Unterlagen, und sie schien beinahe zu zittern, als sie sich setzte. Ihre Stimme war leise, als sie von ihrem bisherigen Werdegang erzählte, und ihre Augen flackerten unsicher zwischen ihm und den Papieren auf dem Schreibtisch hin und her.
»Also, Frau…« Brocker schaute auf die Unterlagen, »Frau Marian, erzählen Sie mir etwas über Ihre bisherigen Erfahrungen.«
Valerie räusperte sich und versuchte, ihren Blick zu konzentrieren. »Nun, Herr Brocker, ich habe bisher vor allem als Assistentin in kleineren Firmen gearbeitet. Ich habe dort viele administrative Aufgaben übernommen, aber ich habe noch nie in einem Unternehmen Ihrer Größe gearbeitet.«
Brocker nickte, beobachtete sie genau. »Warum glauben Sie, dass Sie für diese Position geeignet sind, trotz Ihrer eher bescheidenen Erfahrungen?«
Valerie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Ich verstehe, dass meine Qualifikationen nicht so beeindruckend sind wie die anderer Bewerber. Aber ich bin bereit zu lernen und mich uneingeschränkt einzubringen. Ich glaube, dass ich mit meiner Einstellung und meiner Bereitschaft, hart zu arbeiten, einen positiven Beitrag zu Ihrem Unternehmen leisten kann.«
Brocker spürte eine unerwartete Wärme in ihrer Stimme, eine Entschlossenheit, die ihn berührte. Er sah etwas in ihr – eine Echtheit, die in der Geschäftswelt selten war. »Was motiviert Sie, in einem so großen Unternehmen arbeiten zu wollen?«, fragte er.
Valerie atmete tief ein. »Ich sehe es als eine Herausforderung und als eine Möglichkeit, zu wachsen. Ich möchte meine Fähigkeiten weiterentwickeln und bin bereit, mich dieser Herausforderung zu stellen. Außerdem«, sie lächelte nervös, »glaube ich, dass man manchmal eine Chance ergreifen muss, auch wenn es beängstigend ist.«
Brocker konnte nicht anders, als ein wenig zu lächeln. Ihre Aufrichtigkeit beeindruckte ihn. »Eine letzte Frage, Frau Marian: Wie gehen Sie mit Stress um? In dieser Position kann es ziemlich hektisch werden.«
Valerie dachte kurz nach. »Ich versuche, ruhig zu bleiben und Prioritäten zu setzen. Ich glaube, dass eine positive Einstellung hilft, auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren. Und wenn es nötig ist, scheue ich mich nicht, um Hilfe zu bitten.«
Brocker lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sie einen Moment schweigend. Am Ende des Gesprächs wusste er, dass er sie einstellen würde. Nicht wegen ihrer Qualifikationen, sondern weil er spürte, dass sie die Distanz überwinden konnte, die er um sich herum aufgebaut hatte. Aber er wusste auch, dass er sich hüten musste, diese Distanz zu verlieren. Er war sich der Gefahr bewusst, die sie für ihn darstellte – nicht als Bedrohung, sondern als Versuchung.
»Vielen Dank, Frau Marian. Wir werden uns in den nächsten Tagen bei Ihnen melden«, sagte er schließlich und erhob sich.
Für einen Moment schien Valeries Gesicht einzufallen, als ob sie eine Maske der Hoffnungslosigkeit nicht länger halten könnte. Ein Hauch von Enttäuschung huschte über ihre Züge, bevor sie sich wieder gefasst zeigte. Es war, als wäre dies ihre letzte Chance gewesen, die sie vor dem Ruin bewahren könnte. Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Brocker.«
Er beobachtete, wie sie das Büro verließ, und fühlte einen Moment lang eine seltsame Leere. Er erinnerte sich daran, wie er nach ihrem Weggang einen Moment innegehalten hatte, den Blick aus dem Fenster gerichtet, während er sich selbst daran erinnerte, wer er war und welche Verantwortung er trug. Er durfte es sich nicht erlauben, schwach zu sein. Nicht bei Valerie Marian, nicht bei irgendjemandem.
Noch am selben Tag rief er sie persönlich an: »Herzlichen Glückwunsch, Frau Marian. Sie haben den Job. Sie fangen nächsten Montag an. Wir sehen uns um 9.00 Uhr.«
Tick Tack, Tick Tack, Tick tack…
Über die nächsten acht Jahre entwickelte sich eine professionelle und respektvolle Beziehung zwischen Daniel Brocker und Valerie Marian. Die Distanz, die Brocker anfangs versucht hatte aufrechtzuerhalten, wurde zu einem stillschweigenden Übereinkommen, das ihren Umgang miteinander prägte. Doch unter dieser Fassade verbarg sich eine komplexe Dynamik, die von unausgesprochenen Gefühlen und subtilen Spannungen durchzogen war.
In den ersten Jahren konzentrierten sich beide auf ihre Arbeit. Valerie erwies sich als engagierte und lernfähige Assistentin, die sich schnell in die Strukturen des Unternehmens einfügte. Sie übernahm mehr Verantwortung und wurde zu einer unverzichtbaren Stütze für Brocker. Ihr Enthusiasmus und ihre Fähigkeit, auch in stressigen Zeiten den Überblick zu behalten, beeindruckten ihn. Trotz ihrer bescheidenen Qualifikationen blühte sie in ihrer Rolle auf.
So vergingen acht lange Jahre, die Brocker jetzt wie ein Wimpernschlag vorkamen.
Während dieser Zeit führte Valerie drei verschiedene Beziehungen, die Brocker nicht nur am Rande wahrnahm. Er bemühte sich, professionell zu bleiben und sich nicht in ihr Privatleben einzumischen, doch unweigerlich bekam er einiges mit.
Ihr erster Freund war ein aufstrebender Marketing-Manager namens James. Es war eine leidenschaftliche, aber kurze Beziehung, die nach wenigen Monaten endete. Valerie kam eines Morgens mit roten Augen ins Büro, und obwohl sie versuchte, es zu verbergen, spürte Brocker ihre Traurigkeit. Sie sprachen nie darüber, aber er konnte sich denken, dass es nicht einfach für sie war.
Brocker hatte von Anfang an bemerkt, dass etwas zwischen Valerie und James nicht stimmte. James war ihm auf einer Veranstaltung vorgestellt worden, und Brocker hatte sofort gespürt, dass James mehr Interesse an Valeries beruflicher Position als an ihr als Person hatte. Er hatte James beobachtet, wie er Valerie beiseitenahm und leise mit ihr sprach, seine Hand auf ihrem Arm, während er ihr etwas zuraunte. Es war nur ein kurzer Moment, aber Brocker registrierte die Unbehaglichkeit in Valeries Körperhaltung, die sie schnell zu verbergen versuchte.
Über die nächsten Wochen hinweg wurde Valerie zurückhaltender und schien in Gedanken versunken. Sie war immer noch effizient und professionell, aber es lag eine gewisse Distanz in der Luft, die vorher nicht dagewesen war. Sie vermied es, über James zu sprechen, und Brocker konnte das Unausgesprochene in der Luft spüren. Er wollte nicht direkt nachfragen, da er ihre Privatsphäre respektierte, aber die Anspannung war spürbar.
Eines Tages, als Valerie ihm einige Unterlagen brachte, sah er den Ausdruck auf ihrem Gesicht – eine Mischung aus Sorge und Schuldgefühl. Es war klar, dass sie etwas belastete. Als sie ging, blieb Brocker in Gedanken versunken zurück. Er erinnerte sich an James‘ Worte und Gesten und fügte die Puzzleteile zusammen. James hatte versucht, Valerie zu beeinflussen, sie vielleicht sogar zu nutzen, um Informationen über das Unternehmen zu erlangen oder sie abzuwerben.
Brocker fühlte einen unerwarteten Stich des Mitgefühls für Valerie. Er wusste, dass sie eine starke moralische Integrität besaß und die Situation sie in einen inneren Konflikt gestürzt haben musste. Sie hatte sich für das Richtige entschieden, für ihre eigene Integrität und Loyalität zum Unternehmen – und vielleicht auch zu ihm, obwohl das nie offen ausgesprochen wurde.
Er konnte sich vorstellen, dass Valerie sich schuldig fühlte, selbst wenn sie nichts Falsches getan hatte. Sie war loyal geblieben, hatte aber dennoch das Gefühl, dass sie ihn in irgendeiner Weise enttäuscht hatte. Vielleicht hatte sie das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, aber er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass sie es tun musste. Er schätzte ihre Professionalität und Loyalität und war tief beeindruckt von ihrer Fähigkeit, in einer schwierigen Situation das Richtige zu tun.
Brocker entschied sich, das Thema nicht anzusprechen. Er wusste, dass Valerie sich schon genug mit ihren eigenen Gedanken quälte, und er wollte sie nicht zusätzlich belasten. Stattdessen versuchte er, durch kleine Gesten seine Wertschätzung auszudrücken – ein freundliches Wort hier, ein anerkennender Blick dort. Es war sein Weg, ihr zu zeigen, dass er ihre Entscheidung sah und respektierte, ohne sie in eine unangenehme Situation zu bringen.
In den stillen Momenten in seinem Büro dachte er oft darüber nach, wie sehr er Valeries Loyalität schätzte und wie selten diese Qualität in der Welt war, in der sie sich bewegten. Es verstärkte seine Entschlossenheit, sie zu schützen und zu unterstützen, auch wenn er nie darüber sprach. Er wusste, dass ihre Beziehung auf einer stillschweigenden Übereinkunft basierte – einer Übereinkunft, die von gegenseitigem Respekt und einem tiefen Verständnis für die unausgesprochenen Dinge geprägt war.
Diese Episode blieb ein stiller, aber bedeutsamer Teil ihrer gemeinsamen Geschichte, eine Erinnerung daran, dass wahre Loyalität und Integrität oft im Verborgenen existieren und dass nicht alle Dinge ausgesprochen werden müssen, um verstanden zu werden.
Valeries zweite Beziehung war stabiler und dauerte fast zwei Jahre. Eddy war ein Journalist, der oft beruflich unterwegs war. Diese Beziehung brachte eine gewisse Stabilität in Valeries Leben, und sie schien glücklicher und ausgeglichener. Doch auch diese Beziehung endete, scheinbar aufgrund der beruflichen Verpflichtungen ihres Freundes. Valerie blieb stark und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber Brocker bemerkte die leisen Anzeichen von Kummer und Enttäuschung.
Die aktuelle Beziehung war am kompliziertesten. Ihr Freund Michael war ein erfolgreicher, aber egozentrischer Geschäftsmann. Er behandelte Valerie oft herablassend, was Brocker nur schwer mit ansehen konnte. Es war offensichtlich, dass Valerie unter dieser Beziehung litt, doch sie versuchte, das Beste daraus zu machen. Michael schien kaum Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen, und Brocker musste sich mehrfach zwingen, sich nicht einzumischen. Schließlich musste Valerie selber wissen, was sie bereit war, zu ertragen, nur um nicht allein sein zu müssen.
In all diesen Jahren blieb Brocker selbst distanziert und konzentrierte sich auf sein Unternehmen. Er hatte keine ernsthaften Beziehungen, was teilweise darauf zurückzuführen war, dass er sich nicht erlaubte, sich emotional zu engagieren. Die einzige Frau, die ihm wirklich nahestand, war Valerie, aber diese Nähe war nun mal von professioneller Distanz geprägt. Er beobachtete ihre Beziehungen aus der Ferne, manchmal mit Sorge, manchmal mit Neugier, aber immer mit einem Gefühl der Unantastbarkeit.
Brocker wusste, dass er diese Grenze niemals überschreiten durfte, und Valerie schien sich damit abgefunden zu haben. Doch in stillen Momenten, wenn sie sich bei der Arbeit zufällig berührten oder in einem Gespräch in die Augen sahen, war da etwas mehr – eine tiefe Verbundenheit, die sie beide nie wirklich anerkannten.
Diese komplexe Dynamik definierte ihre Beziehung und machte sie zu einem wesentlichen Teil ihres Lebens, auch wenn sie nie offen darüber sprachen. Und was sollte das auch? Sie würde ihren Job verlieren. Er würde sie verlieren…
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Aus seinen Gedanken gerissen fand sich Brocker wieder in der Stille des Büros wieder. Der Raum ließ das Ticken der Uhr wieder zu Donnerschlägen anschwellen, die sich Takt für Takt tiefer in seine Schläfen frassen. Erst jetzt begann Brocker zu begreifen, was er getan hatte. Was er aufs Spiel gesetzt hatte. Ein Spiel, dachte er, nur ein Spiel, mehr war es nicht. Aber schien nicht sein ganzes Leben auf einmal nicht mehr als ein Spiel? Und ein makabres noch dazu.
Auch das Reiben seiner müden Augen konnte seine Spannung nicht lösen, obwohl es ein wenig gegen das Jucken unter seinen Lidern half. Für einen Moment ließ er die Augen geschlossen und Bilder zogen in seinem Innern auf. Bilder aus längst vergangenen Tagen…
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Brocker lehnte am Regal der Uni-Bibliothek und rieb sich nachdenklich das Kinn. Er sollte lernen, das wusste er. Die Prüfungen rückten näher und…
»Na, grübelst du wieder über deinen Büchern, Danny?«
Killian. Natürlich war es Killian. Er stand grinsend im Gang zwischen den Regalen, die Hände lässig in den Taschen seiner Designerjeans.
»Nicht jeder hat dein Superhirn, Martin«, brummte Brocker, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Ach komm schon.« Killian lehnte sich neben ihn ans Regal.
»Ein Spiel heute Abend? Du weißt, dass du‘s brauchst. Dein Hirn qualmt ja schon.«
»Die Vorlesung fängt gleich an.«
»Seit wann interessiert dich Wirtschaftsrecht mehr als eine Partie mit deinem alten Freund?«, Killian boxte ihm leicht gegen die Schulter. »Außerdem schuldest du mir noch eine Revanche.«
Brocker seufzte, aber er spürte schon dieses vertraute Kribbeln.
»Du gibst nicht auf, was?«
»Niemals!«, Killians Augen blitzten.
»Also? Heute Abend? Doppelter Einsatz?«
»Na schön.« Brocker klappte sein Buch zu. »Aber beschwer dich nachher nicht. Ähm… Warum erst um neun?«
»Ich treffe mich noch mit jemandem.« Killian zwinkerte und schlenderte davon. »Sei pünktlich!« Brocker sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Typisch Killian.
Er war der Star der betriebswirtschaftlichen Fakultät. Er hatte von Anfang an alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen – intelligent, charismatisch und mit einem natürlichen Talent für Zahlen und Analysen. Alle beneideten ihn, und die Damenwelt ließ sich nur allzu leicht von diesem Mann beeindrucken. Anders als bei Brocker, der ständig übermüdet aussah und auf sein Aussehen weniger Wert legte. Er war in allem eher mittelmäßig, außer sie spielten das Spiel. Das Spiel, in dem Killian nicht der Beste war. Das Spiel, in dem Brocker niemand schlug. Und genau das konnte Killian nicht ertragen.
Wenn sie zusammen eine Bar betraten, war es immer dasselbe Schauspiel. Brocker hatte sich daran gewöhnt, wie ein Satellit in Killians Umlaufbahn zu sein. »Hey, Martin ist da!«, würde jemand rufen, und die Köpfe drehten sich. Killian bewegte sich durch den Raum wie ein Stern, der andere Körper in seine Bahn zog. Die Bardame stellte ungefragt seinen Lieblingsdrink bereit, Kommilitonen rückten zur Seite, um Platz zu machen, und die Mädchen am Nachbartisch begannen zu tuscheln und zu kichern.
Brocker folgte in seinem Windschatten, nickte den Leuten zu, die Killian begrüßten, und nahm schweigend den freien Platz neben seinem Freund ein. Manchmal fragte er sich, ob überhaupt jemand seinen Namen kannte. Er war »der Typ, der immer mit Martin abhängt« oder »Killians Kumpel«. Nur beim Spiel war es anders. Dann saßen sie sich gegenüber, und für einen kurzen Moment war Killian nicht mehr der strahlende Stern der BWL-Fakultät, sondern nur ein Gegner, der seine Niederlage akzeptieren musste.
Es war eine seltsame Freundschaft, die auf diesem Wechselspiel von Dominanz und Unterlegenheit basierte. Tagsüber war Killian der unerreichbare Star, der seinen durchschnittlichen Freund großzügig in seinem Glanz sonnen ließ. Abends wurde aus dem Weltmann im Hinterzimmer einer Studentenkneipe ein Verlierer, der seine Frustration hinter einem jovialen Lächeln verbarg.
Brocker gewann. Weil Brocker immer gewann. Und genau das war es, was Killian nicht ertragen konnte. Und Brocker brauchte das Geld. Das Geld für das Studium, für das er mehr aufwenden musste als andere. Er brauchte länger, um zu verstehen. Brauchte mehr Zeit, um zu lernen. Anders als bei Martin Killian.
Bereits im dritten Studienjahr hatte Killian die Aufmerksamkeit eines großen Finanzdienstleisters auf sich gezogen. Die Firma, bekannt für ihre rigorosen Auswahlverfahren und ihre hohen Anforderungen, bot Killian einen Vertrag an, der ihm nach seinem Abschluss eine Führungsposition in einem ihrer Eliteprogramme sicherte. Es war ein Traum, den viele in ihrer Lage nie zu träumen gewagt hätten, und Killian schien auf dem besten Weg zu sein, ein glänzender Star in der Welt der Hochfinanz zu werden.
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Brocker ließ sich in das weiche Leder seines Sessels sinken, dessen Lehne nun von Schweiß getränkt schien, und legte die Hände in seinen Schoß. Vor wenigen Stunden hatte er den Fehler entdeckt. Seinen entscheidenden und vermutlich auch letzten Fehler. Aber es ist noch nicht zu spät, dachte er und versuchte verzweifelt, Realität und Wunsch in seinem Innern so gut es ging zu trennen.
Alles hing plötzlich von ein paar elektrischen Impulsen in mehreren Kilometern verlegten Kabeln ab. Einer verfluchten Telefonverbindung. Sein Geld, seine Firma, sein Leben.
Immer wieder quälten ihn Vorwürfe. Verzweifelt versuchte er die Geschehnisse der letzten Jahre zu rekonstruieren. Wann hatte sich der Fehler in sein System geschlichen? Vor einem Jahr, beim letzten Telefonat? Oder bereits damals, als er dieses lächerliche Abkommen, diesen unmöglichen Vertrag abgeschlossen hatte. Zu einer Zeit, da Verträge bislang nicht zum Tagesablauf gehörten, und als er noch der festen Überzeugung war, ein Versager zu sein. Killian war der mit der Aussicht auf das große Geld. Brocker wollte nur mit Computern arbeiten.
Daniel Brocker war nie der geborene Akademiker. Während andere Kommilitonen mit Leichtigkeit durch die Prüfungen glitten und ihre Projekte mit Begeisterung vorantrieben, kämpfte Brocker sich durch jedes Semester. Er war kein schlechter Student, aber auch kein herausragender. Seine Noten waren durchweg durchschnittlich, und seine Dozenten beschrieben ihn oft als »talentiert, aber unkonzentriert«. Er war jemand, der das Potenzial hatte, Großes zu erreichen, es aber selten in der Form umsetzte, die das akademische Umfeld verlangte. Darum wechselte er schließlich den Studiengang. Von der Betriebswirtschaft zur Informatik.
Doch auch dieses Studium war für ihn eine zähe Angelegenheit. Während andere sich auf die Theorie stürzten und den mathematischen Modellen folgten, fand Brocker seine Leidenschaft in der Praxis. Er verbrachte unzählige Stunden im Computerlabor, wo er mit Programmiersprachen experimentierte, eigene kleine Projekte entwickelte und versuchte, Lösungen für Probleme zu finden, die in keinem Lehrbuch standen. Doch diese Projekte brachten ihm in der akademischen Welt wenig Anerkennung.
Als das Ende seines Studiums näher rückte, war Brocker von Zweifeln geplagt. Er wusste, dass er knapp vor dem Abschluss stand, aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich die Fähigkeiten besaß, um in der schnelllebigen Welt der Technologie zu bestehen. Er schaffte es, die letzten Prüfungen mit knapper Not zu bestehen und erhielt schließlich sein Diplom – ein mittelmäßiger Abschluss, der wenig beeindruckte. In den Augen vieler war er ein Student, der gerade so durchgekommen war, ohne wirklich zu glänzen.
Er sah sich und seine Zukunft in einer kleinen Zweizimmerwohnung zwischen Computern und leeren Pizzaschachteln. Allein… Und niemand, der ihn wirklich verstand. Dann die Entdeckung… Ein kleines unscheinbares Programm. Eine Idee. Nicht mehr.
Nach dem Studium fühlte sich Brocker verloren. Während seine Kommilitonen Jobs in renommierten Unternehmen fanden oder sich weiterbildeten, zog er sich zurück und begann, an einem kleinen Projekt zu arbeiten, das ihn schon während seines Studiums fasziniert hatte. Es war eine Idee, die ihm in einer dieser schlaflosen Nächte im Computerlabor gekommen war: Wie könnte man den Prozess der Softwareentwicklung effizienter gestalten? Wie könnte man es Programmierern ermöglichen, schneller und mit weniger Fehlern zu arbeiten?
Diese Fragen ließen ihn nicht los. In den folgenden Monaten arbeitete Brocker unermüdlich daran, einen Algorithmus zu entwickeln, der genau das tat. Er wusste, dass er auf etwas Großes gestoßen war, als er begann, die ersten Ergebnisse zu sehen. Sein Algorithmus war in der Lage, Codemodule automatisch zu generieren und zu überprüfen, Fehlerquellen frühzeitig zu erkennen und den Entwicklungsprozess signifikant zu beschleunigen.
Es war eine Entdeckung, die das Potenzial hatte, die Art und Weise, wie Software entwickelt wurde, zu revolutionieren. Brocker, der immer als durchschnittlich gegolten hatte, hatte etwas gefunden, das ihn von der Masse abhob. Aber es war nicht nur die technische Brillanz des Algorithmus, die ihn auszeichnete, sondern auch sein unermüdlicher Wille, an etwas zu arbeiten, das ihn wirklich begeisterte – unabhängig davon, was andere von ihm hielten. Er hatte etwas gefunden, in dem er genauso gut war wie in dem Spiel, das er von seinem Großvater gelernt hatte.
Die ersten, die von seinem Algorithmus erfuhren, waren Freunde und ehemalige Kommilitonen. Viele von ihnen reagierten skeptisch, aber als Brocker ihnen eine Demonstration seines Tools zeigte, änderte sich die Stimmung. Es war klar, dass er etwas entwickelt hatte, das die Softwareentwicklung erheblich verbessern konnte. Einige rieten ihm, das Projekt weiter zu verfolgen und es potenziellen Investoren vorzustellen.
Brocker, der nie viel Wert auf akademische Anerkennung gelegt hatte, entschied sich, einen anderen Weg zu gehen. Er gründete sein eigenes kleines Unternehmen und begann, den Algorithmus weiter zu verfeinern und zu vermarkten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Softwareentwicklungsfirmen auf ihn aufmerksam wurden. Sie erkannten den Wert seiner Entdeckung und begannen, Lizenzen für die Nutzung seiner Tools zu erwerben.
Innerhalb weniger Jahre wuchs das Unternehmen rasant. Der Algorithmus, den Brocker entwickelt hatte, wurde zum Standard in der Branche und revolutionierte die Art und Weise, wie Software geschrieben wurde. Von einem mittelmäßigen Studenten war Brocker zu einem führenden Unternehmer aufgestiegen, dessen Innovation die Tech-Welt im Sturm eroberte. Der Mann, der einst nur knapp seinen Abschluss gemacht hatte, wurde über Nacht zum Millionär.
Mit dem Erfolg kamen jedoch auch neue Herausforderungen. Brocker war jetzt nicht nur ein Entwickler, sondern auch ein Geschäftsmann. Er musste lernen, sein Unternehmen zu führen, Mitarbeiter einzustellen und sich in einer Welt zu behaupten, die viel härter und anspruchsvoller war als die der akademischen Sphäre. Doch all das nahm er an, getrieben von der Leidenschaft, seine Idee in die Welt zu tragen und sie zu etwas Großem zu machen.
Sein Leben hatte sich grundlegend verändert, und Brocker wusste, dass er nicht der Typ war, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhen konnte. Er hatte einen Traum verwirklicht, den er selbst in den dunkelsten Momenten seines Studiums kaum zu träumen gewagt hatte. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass dieser Erfolg ihn auch verwundbarer gemacht hatte – gegenüber der Welt und gegenüber den Menschen, die ihm einst nahestanden.
Die Welt, in die Brocker nun eintrat, war eine, in der Ruhm und Reichtum oft mit Einsamkeit und Misstrauen einhergingen. Und während er sich auf das nächste Kapitel seines Lebens vorbereitete, war er sich bewusst, dass er auf dem Weg dorthin nicht nur Freunde gewonnen hatte. Im Grunde vertraute er niemandem. Außer Valerie.
Ganz anders war es bei Martin Killian gelaufen. Hinter der strahlenden Fassade hatte es gebrodelt. Und keiner hatte es gesehen oder im Entferntesten damit gerechnet.
Der Druck, den perfekten Studenten und zukünftigen Finanzguru zu verkörpern, lastete schwer auf ihm. Killian wusste, dass die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, riesig waren – und dass ein Scheitern nicht infrage kam. Doch während er immer wieder Erfolge feierte, hatte er mit der Zeit Schwierigkeiten, mit dem Tempo und den Anforderungen Schritt zu halten.
Es war in der entscheidenden Phase des Studiums, als die Abschlussprüfungen näher rückten, dass Killian sich in einer verzweifelten Lage wiederfand. Eine besonders schwierige Prüfung, die über seinen Abschluss und somit seine Zukunft entscheiden würde, machte ihm große Sorgen. Er wusste, dass ein Scheitern ihn alles kosten könnte – den Job, den Ruf, die Zukunft, die er sich so hart erarbeitet hatte.
In einem Moment der Schwäche und unter immensem Druck entschied sich Killian für einen folgenschweren Schritt. Er beschaffte sich die Prüfungsunterlagen und bereitete sich mit den unrechtmäßig erlangten Informationen vor. Die Prüfung selbst bestand er mit Bravour, wie von ihm erwartet. Doch der Betrug blieb nicht lange unbemerkt.
Ein Mitstudent, der Killian schon länger misstraute und sich von dessen ständiger Überlegenheit bedroht fühlte, bemerkte Unstimmigkeiten in dessen Prüfungsergebnissen und meldete diese anonym der Fakultät. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, und bald darauf kam ans Licht, was Killian getan hatte. Der Schock in der Universität war groß – der strahlende Star der Fakultät hatte betrogen.
Die Konsequenzen waren verheerend. Killian wurde umgehend von der Universität ausgeschlossen, sein Abschluss wurde annulliert, und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der Finanzdienstleister, der ihm die prestigeträchtige Position angeboten hatte, zog das Angebot sofort zurück und stellte sicher, dass Killian in der Branche keinen Fuß mehr fassen würde. Sein Ruf war zerstört, und seine Karriere endete, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Das Spiel hatte ein Jahr zuvor begonnen. Und Brocker erinnerte sich an Killians ersten Anruf. Brocker hatte Killian gefragt, wie es ihm ginge, wollte wissen, was vorgefallen sei und fragte sich, ob sie diesen bescheuerten Plan nicht einfach in die Tonne kloppen sollten. Aber Killian ließ sich auf keine Unterhaltung ein, nannte seinen Zug und legte auf.
Brocker vermutete, dass es Killian peinlich gewesen war. Und vielleicht war das Spiel etwas, was Killian jetzt Halt geben konnte. Er akzeptierte es und wartete das Jahr ab. In diesem Jahr hatte Brocker die Idee für den Algorithmus. Was Killian in dieser Zeit machte, war ihm egal.
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Er hatte Valerie Anweisung gegeben, keine Anrufe durchzustellen, außer diesen einen, ganz bestimmten. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst. Furchtbare Angst. Sein Körper begann zu zittern, sein Atmen wurde schnell und flach. Schließlich war Killian nicht dumm. Bestimmt hatte er den Fehler bemerkt. Vielleicht vor einem Jahr, vielleicht auch erst vor wenigen Stunden. Jeden Moment würde das Telefon klingeln und er wäre am Apparat – Martin Killian.
Was wohl inzwischen aus ihm geworden war? War er verheiratet? Da fiel ihm plötzlich Jenny wieder ein… Sie war mit Martin eine Zeit lang zusammen gewesen. Mein Gott, wie hatte er Jenny vergessen können? Seine Gedanken schweiften wieder in die Studienzeit ab…
Es war einer dieser nasskalten Novemberabende gewesen, die sich wie ein schwerer Mantel über die Stadt legten. Die Vorlesung über Wirtschaftsrecht war gerade zu Ende gegangen, und Jenny hatte auf ihn gewartet – wie so oft in den letzten Wochen. Sie standen unter dem schmalen Vordach des Instituts, während der Regen auf das Pflaster trommelte.
»Ich kann dich nach Hause fahren«, hatte Brocker vorgeschlagen und seine Hand sacht auf ihren Arm gelegt. Jenny war zusammengezuckt, fast unmerklich, aber er hatte es gespürt.
»Danke, aber… können wir ein Stück gehen? Ich… ich muss mit dir reden, Daniel.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her, durch die Pfützen, die das Licht der Straßenlaternen spiegelten. Brocker beobachtete sie von der Seite. Ihre blonden Haare hatten sich im Nieselregen gekräuselt, und sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe – eine Angewohnheit, die er in den letzten Wochen lieben gelernt hatte.
»Daniel, ich… ich muss dir was gestehen.« Jenny blieb stehen, vermied seinen Blick, starrte auf ihre regennassen Schuhe. »In letzter Zeit… ich meine, je öfter wir zusammen waren, desto mehr…«
Brocker spürte, wie sein Herz schneller schlug. War es möglich, dass es jetzt passierte? Er hatte ihr längst seine Liebe gestehen wollen. Dann bekam er die Wahrheit wie einen toten Fisch an den Kopf geschlagen.
»Ich habe Gefühle für Martin entwickelt.« Die Worte kamen leise, fast entschuldigend. »Ich wollte das nicht, es ist einfach… passiert. Durch dich habe ich ihn erst richtig kennengelernt, verstehst du?«
Die Welt um ihn herum schien für einen Moment stillzustehen. All die gemeinsamen Mittagessen, die Gespräche, in denen sie so interessiert nach Killian gefragt hatte, ihre leuchtenden Augen, wenn er von seinem besten Freund erzählte… Jetzt ergab alles einen Sinn.
»Du hast die ganze Zeit…« Er brach ab, unfähig, den Satz zu beenden.
»Nein, so war das nicht!« Jenny griff nach seiner Hand, aber er zog sie weg. »Du bist ein guter Freund für mich, Daniel. Ein wirklich guter Freund.«
»Ein Freund.« Das Wort schmeckte bitter auf seiner Zunge.
»Versteh doch…« Jenny kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Martin, er… er hat diese Ausstrahlung, diese Ziele. Er weiß genau, was er will.«
»Und ich bin nur gut im Spielen«, murmelte Brocker.
»Das ist nicht fair.« Jenny strich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist brillant auf deine Art. Wenn du spielst… aber das Leben ist nun mal kein Spiel, Daniel.«
Sie standen da, im stärker werdenden Regen, zwei junge Menschen, zwischen denen sich gerade ein unüberwindbarer Abgrund auftat. Brocker sah sie an, dieses Mädchen, das er liebte, das ihn nur als Weg zu einem anderen benutzt hatte – ohne es vielleicht selbst zu merken, was es noch schlimmer machte.
»Ich muss los«, sagte Jenny leise. »Es tut mir leid.«
Sie drehte sich um und ging. Ihre Schritte hallten auf dem nassen Pflaster, während der Regen ihre Spuren verwischte. Brocker blieb stehen, die Hände in den Taschen seiner durchnässten Jacke vergraben, und starrte ihr nach. Er hatte nicht nur Jenny verloren, sondern auch seine letzte Illusion darüber, dass es im Leben nur um ehrliche Gefühle ging.
Das Spiel, das er so liebte, bekam plötzlich eine neue Bedeutung. Es war nicht länger nur ein Zeitvertreib, eine Möglichkeit, seinen Verstand zu fordern. Es wurde zu einem Symbol – für alles, was er erreichen wollte, für jeden, der je an ihm gezweifelt hatte, für jede Manipulation, die er nie wieder zulassen würde. Der Regen wurde stärker, aber Brocker spürte ihn kaum noch.
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Er dachte an den verfluchten Abend, an dem er sich von Killians Arroganz hatte provozieren lassen. Nach dem Spiel hatten sie Blackjack getrunken. Und nicht nur einen.
»Du hast keine Chance, Martin!«
Brocker hatte sich zurückgelehnt. Seine Hände ruhten in seinem Schoß. In seinen Händen das Glas mit Whiskey-Cola. Es tat so gut, sich diesem Arschloch überlegen zu fühlen. Es tat gut, wenigstens in einem Bereich besser zu sein. Überlegen zu sein.
Die Kontrahenten saßen sich mit musternden Blicken gegenüber. Der Rauch ihrer Zigaretten vermischte sich mit dem schweren Dunst des überfüllten Lokals. Irgendwo spielte eine Jukebox »I Just Called To Say I Love You« von Stevie Wonder und Brocker hasste dieses Lied. Eine bittere Ironie, angesichts der Ereignisse der letzten Wochen.
Brocker hatte gewonnen. Wieder einmal. Er konnte sehen, wie es in Killian arbeitete, wie dessen Kiefermuskeln mahlten. Der Star der Fakultät, der Mann mit der goldenen Zukunft, geschlagen von einem mittelmäßigen Studenten.
»Noch einen?« Killian deutete auf Brockers fast leeres Glas. Seine Stimme klang gepresst, kontrolliert. Zu kontrolliert.
»Warum nicht?« Brocker grinste. Der Blackjack machte ihn übermütig. »Vielleicht willst du ja Revanche?«
Killian beugte sich vor, seine Augen glänzten fiebrig im schummrigen Licht. »Wir machen etwas anderes, Brocker. Ich schlage dir ein Geschäft vor, das du nicht ablehnen kannst.«
»Ach ja?« Brocker nahm einen Schluck aus dem frischen Glas, das der Kellner gebracht hatte. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber das Brennen fühlte sich gut an. Siegreich.
»Wir machen noch ein Spiel! Wir telefonieren. Einmal im Jahr, nicht öfter. Jedes Jahr einen Zug. Einmal du, einmal ich.«
»Und wozu das Ganze?« Brocker lehnte sich vor, plötzlich interessiert.
»Denk an deine Zukunft, Brocker.« Killians Stimme wurde leiser, eindringlicher. »Aber denke auch daran, dass ich dich eines Tages schlagen werde…«
»Ja, klar…« Brocker grinste noch breiter.
»Wir setzen etwas ein.« Killian zog ein Blatt Papier aus seiner Tasche. »Der Gewinner bekommt alles.«
»Alles?«
»Alles. Den gesamten Besitz des Verlierers.« Killian lächelte jetzt auch, aber es war kein angenehmes Lächeln. »Du glaubst doch nicht, dass ich für immer der zweite Sieger bleiben will?«
Brocker starrte auf das Papier. Der Alkohol vernebelte seinen Verstand, aber nicht genug, um die Tragweite dieses Moments zu verkennen. Dies war mehr als ein Spiel. Es war eine Herausforderung. Eine Chance, es Killian endgültig zu zeigen.
»Du bist betrunken, Martin«, sagte er, aber seine Hand griff bereits nach dem Kugelschreiber.
»Nein, ich bin nur… bereit.« Killian lehnte sich zurück. »Bist du es auch? Oder hast du Angst?«
Angst. Das Wort traf Brocker wie ein Schlag. Er dachte an Jenny, an Killians überlegenes Lächeln, an all die Male, die er sich wie ein Versager gefühlt hatte.
»Gib her.« Er griff nach dem Papier. Seine Hand zitterte leicht, als er unterschrieb.
Draußen hatte es wieder zu regnen begonnen. Das Trommeln der Tropfen gegen die Fensterscheiben klang wie ein fernes Echo der Uhr, die Jahre später in seinem Büro ticken würde.
Killian faltete das Papier sorgfältig und steckte es ein.
»Auf die Zukunft«, sagte er und hob sein Glas.
»Auf die Zukunft«, echote Brocker und trank.
Der Whiskey schmeckte plötzlich schal. Irgendwo in seinem Hinterkopf regte sich ein Gefühl, dass er gerade einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Aber der Alkohol spülte diese Warnung hinweg, ließ nur den bittersüßen Geschmack des vermeintlichen Triumphs zurück.
Sie tranken bis spät in die Nacht, redeten über belanglose Dinge, als hätten sie nicht gerade ihr Schicksal an ein Spiel gebunden. Als Brocker später durch den Regen nach Hause taumelte, hatte er bereits vergessen, wie genau es zu dieser Vereinbarung gekommen war. Nur das unterschriebene Papier in Killians Jackentasche war real. Und der erste Zug würde ihm gehören.
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack…
Brocker rieb sich erneut die Augen, als ihn plötzlich das Klingeln des Telefons zusammenzucken ließ. Er eilte zum Schreibtisch, doch nur zögernd wanderte seine Hand zum Hörer. Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, stoppte Brocker ab.
War es Killian? Natürlich, er musste es sein, denn schließlich hatte Brocker Anweisung gegeben, keine anderen Anrufe durchzustellen.
Wie war seine Antwort? Noch ein Stoßgebet, dann nahm Brocker den Hörer von der Gabel und legte ihn vorsichtig ans Ohr.
Er meldete sich, horchte eine Weile und legte wieder auf. Killian hatte seinen Zug gemacht!
Brocker hatte das Schriftstück zur Übereignung seines Besitzes an Killian schon bereitgelegt. Das Schriftstück, dem eine Kopie des Vertrages beigelegt war, den Killian und Brocker vor vielen Jahren als Studenten abgeschlossen hatten und der besagte, dass derjenige, der das Spiel gewinnt, den gesamten Besitz des anderen erhält. Das Spiel, das sie seit Jahren spielten und das Brocker einst von seinem Großvater gelernt hatte.
Er stand auf und ging zur Bar, wo er sich aus einer dunkelbraunen Flasche einschenkte, bevor er an das kleine Tischchen trat, auf dem das kostbare Schachspiel stand.
Brocker besah sich die handgeschnitzten Figuren ganz genau und aus irgendeinem dunklen Gefühl heraus wusste er plötzlich, dass er es eines Tages wieder schaffen würde. Irgendwann. Er leerte sein Glas und stellte es ab, bevor er an das Schachspiel trat und seinen König auf die Seite legte.
Dann ging er zu seinem Schreibtisch und drückte den Knopf der Gegensprechanlage ins Vorzimmer.
»Valerie?«
»Ja, Mr. Brocker?«
»Hätten Sie einen Moment Zeit? Wir müssen reden…«
Als sie sein Büro betrat, fiel ihr sofort die ungewöhnliche Ordnung auf. Keine Akten, kein Computer – nur das Telefon und das kostbare Schachspiel auf dem kleinen Tischchen. Brocker stand am Fenster, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
»Setzen Sie sich bitte.« Er deutete auf einen der Besucherstühle. Valerie bemerkte den feinen Schweißfilm auf seiner Stirn.
»Valerie, ich…« Er stockte, holte tief Luft. »Ich muss Ihnen etwas gestehen. Etwas, das alles verändern wird.«
In den nächsten zwanzig Minuten erzählte er ihr alles. Von dem Spiel mit Killian, dem verhängnisvollen Vertrag, dem bevorstehenden Verlust der Firma. Mit jedem Wort schien er kleiner zu werden, als würde eine unsichtbare Last ihn niederdrücken.
»Haben Sie diesen ominösen Vertrag von ihren Anwälten prüfen lassen?«, fragte Valerie und blieb ungewöhnlich gefasst.
»Natürlich, Valerie. Er ist wasserdicht«, entgegnete Daniel.
»Sie waren betrunken!«
»Ist unerheblich. 5 Anwälte haben das Ding geprüft. Die Firma ist weg. Vielleicht ist es auch gut so. Aber ich habe vorgesorgt«, sagte er schließlich und zog einen Umschlag aus der Schreibtischschublade. »Hier drin ist eine Überweisung. Zwei Millionen Dollar. Ich habe sie vor Jahren schon auf die Seite gelegt. Für Sie.«
Er legte den Umschlag auf den Tisch, und Valerie starrte ihn an, als habe sich Brocker vor ihren Augen einen Finger abgeschnitten.
»Sie werden eine neue Stelle finden«, sagte er. »Eine bessere Stelle. Sie sind brillant, Valerie. Sie waren immer mehr als nur meine Assistentin. Sie waren…« Er brach ab, unfähig, die richtigen Worte zu finden.
»Daniel.« Es war das erste Mal in acht Jahren, dass sie seinen Vornamen benutzte. »Das ist wirklich nicht nötig.«
»Doch, das ist es.« Sein Blick senkte sich. »Sie waren immer da. Sie haben immer zu mir gehalten.«
Sie überlegte einen Moment, fasste all ihren Mut und sagte: »Dann lass uns das Geld nehmen und irgendwo hingehen.«
»Was?!« Brocker schreckte auf. »Ich versteh nicht…«
Sie blickte ihn an und lächelte. Man sah ihr an, dass ihr Herz raste.
»Wenn wir schon dabei sind, die Karten auf den Tisch zu legen, können wir es auch gleich richtig machen.«
Sie stand auf, ging zur Bar, nahm sich ein Glas und schenkte sich einen Whiskey ein.
»Weißt du, im Grunde bin ich froh. Jetzt stehen die Firma und unsere Positionen nicht mehr zwischen uns. Es hat damals, nachdem ich hier angefangen habe, nicht mal eine Woche gedauert, dass ich mich in dich verliebt hatte.«
Er starrte sie an.
»Valerie! Warum hast du nie etwas gesagt?«, fragte er und nahm einen großen Schluck, der wie Feuer in seinem Mund brannte.
»Um dann in die Firmengeschichte einzugehen, als die Tippse, die sich vom Chef hat flachlegen lassen? Nein danke«, sagte sie und grinste. »Weißt du, warum ich so lange hier war? Wegen dir. Weil ich an dich geglaubt habe und immer noch glaube. Der Mann mit den genialen Ideen, der nur leider…« Sie lächelte sanft. »… manchmal vor lauter Arbeit und Schachspielen das Leben übersieht.«
»Was ist mit…«
»Michael?«
Brocker nickte.
»Ich habe mich von ihm vor zwei Wochen getrennt. Normalerweise hättest Du das mitbekommen. Aber dieses Spiel hat dich so eingenommen, dass du gar nichts mehr mitbekommen hast.«
»Ich habe dich immer geliebt, Val.«
»Und warum hast du nie etwas gesagt?«, fragte sie und trank ihr Glas in einem Zug aus. Auch in ihrer Kehle brannte der Whiskey, aber mehr noch brannte ihr Verlangen nach einer Antwort. Sie stellte das Glas ab und sah ihn an. »All die Jahre?«
»Weil ich eine Scheißangst habe!«, sagte er. »Auch jetzt.« Dann lächelte er bitter, als eine Träne sich ihren Weg über seine Wange bahnte.
»Dann lass uns zusammen Angst haben«, sagte sie, stand auf, lehnte sich über den Schreibtisch und nahm seine Hand. Brocker blickte auf seinen umgelegten König, dann zu Valerie. »Ja. Lass uns ganz von vorn anfangen.«
»Ja«, sagte sie und zog ihn sanft zu sich. »Lass uns genau das tun.«
Später verließen sie das Büro Hand in Hand. Die alte Uhr tickte noch immer, aber zum ersten Mal seit Jahren hörte Brocker sie nicht mehr.
Das Spiel war vorbei.