Das Sauerkraut

Das Sauerkraut, das Sauerkraut

wird in der Küche oft versaut.

Im Darm dann wird es abgebaut

und mit Geräuschen laut verdaut.


Über das Gedicht…

Das Sauerkraut als existenzielle Metapher

Eine tiefenhermeneutische Analyse eines zeitgenössischen Meisterwerks.

Einleitung: Die Wiederentdeckung des Profanen

In einer Zeit, in der die Lyrik zunehmend in selbstreferentiellen Sprachspielen zu ersticken droht, erscheint ein Gedicht von bestechender Klarheit und philosophischer Tiefe. Der anonyme Autor – nennen wir ihn den „Poeta Brassicae“ – wagt es, das Alltägliche zum Gegenstand höchster poetischer Reflexion zu erheben. Sein vierstrophiges Werk „Das Sauerkraut“ ist nichts Geringeres als eine Meditation über Vergänglichkeit, Transformation und die conditio humana im Zeitalter der Gastronomie.

I. Historische Verortung: Sauerkraut als Kulturträger

Um die Tragweite dieses lyrischen Kleinods zu erfassen, müssen wir zunächst die kulturhistorische Bedeutung des Sauerkrauts würdigen. Seit der Antike ist fermentiertes Gemüse ein Sinnbild für den menschlichen Drang, die Natur zu beherrschen und gleichzeitig von ihr abhängig zu bleiben. Die Römer kannten das „acetaria“ – jenes säuerliche Kraut, das bereits Cato der Ältere in seinem „De agri cultura“ erwähnte.

Doch erst in der germanischen Tradition erreicht das Sauerkraut seine volle symbolische Potenz. Es wird zum Inbegriff des Beharrungswillens, der Konservierung – nicht nur von Nahrung, sondern von Identität selbst. Nicht umsonst prägte Bismarck den Ausdruck „Sauerkrautfresser“ als liebevollen Spitznamen für das deutsche Volk.

II. Die erste Strophe: Ontologie der Küche

„Das Sauerkraut, das Sauerkraut
wird in der Küche oft versaut.“

Die doppelte Nennung des Subjekts – eine rhetorische Emphase von geradezu mantrahafter Qualität – etabliert das Sauerkraut nicht als bloßes Nahrungsmittel, sondern als Seinsgewissheit. Hier spricht kein Zweifel: Das Sauerkraut IST.

Doch sogleich folgt der Fall. Die Küche – jener Ort der Transformation, den Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ als „Alchemielabor des Alltags“ beschrieb – wird zum Schauplatz der Profanierung. Das Verb „versauen“ trägt eine doppelte Bedeutung: die kulinarische Fehlleistung und die moralische Degradierung.

Wir erkennen hier eine Parallele zu Heideggers „Gestell“: Die Technik (hier: die Kochkunst) entfremdet das Seiende von seinem eigentlichen Wesen. Das Sauerkraut, in seiner authentischen Fermentation ein Wunderwerk der Natur, wird durch menschliche Hybris „versaut“ – ein Wort, dessen skatologische Konnotation bereits auf die zweite Strophe vorausdeutet.

III. Die zweite Strophe: Verdauung als Existenzprinzip

„Im Darm dann wird es abgebaut
und mit Geräuschen laut verdaut.“

Der Übergang vom Kulturraum (Küche) zum Naturraum (Darm) markiert eine fundamentale ontologische Verschiebung. Was eben noch Objekt menschlicher Gestaltung war, wird nun zum Subjekt biochemischer Prozesse. Das Sauerkraut verliert seine Form, seine Identität – es wird „abgebaut“.

Hier offenbart sich die genuin existenzialistische Dimension des Gedichts: Der Verdauungsvorgang als Metapher für die conditio humana. Wir nehmen auf (Nahrung, Erfahrungen, Wissen), transformieren es in uns, und geben es verändert wieder ab. Sartre hätte seine Freude an dieser Passage gehabt: Das Sein-an-sich (Sauerkraut) wird zum Sein-für-sich (verdautes Sauerkraut), um schließlich im Nichts (Ausscheidung) zu enden.

Bemerkenswert ist die akustische Dimension: „mit Geräuschen laut verdaut“. Der Dichter scheut sich nicht, das Tabu zu brechen. Er konfrontiert uns mit der animalischen Realität unserer Existenz. Hier gibt es keine Verklärung, keine romantische Überhöhung. Die Verdauung ist laut, sie ist hörbar, sie ist – und darin liegt die eigentliche Provokation – öffentlich.

Wir sind erinnert an Luthers berühmtes Diktum: „Wenn ich furze, furze ich für den Herrn.“ Die Körperlichkeit als Ausdruck göttlicher Schöpfung, nicht als deren Widerspruch.

IV. Philosophische Implikationen: Die Dialektik von Kultur und Natur

Das Gedicht entfaltet eine dialektische Bewegung von geradezu Hegelscher Präzision:

These: Das Sauerkraut in seiner kulturellen Form (fermentiert, zubereitet)
Antithese: Die Zerstörung dieser Form durch fehlerhafte Zubereitung („versaut“)
Synthese: Die Auflösung aller Form im Verdauungsprozess

Doch anders als bei Hegel führt diese Synthese nicht zu einer höheren Einheit, sondern zur vollständigen Negation. Das Sauerkraut verschwindet – physisch und metaphysisch. Es bleibt nur der Klang, das Geräusch, als letztes Zeugnis seiner Existenz.

Diese pessimistische Weltsicht erinnert an Schopenhauers Willensmetaphysik: Der Wille zum Leben (hier: zur Ernährung) treibt uns an, doch die Erfüllung dieses Willens führt nur zu neuem Leiden (hier: „Geräuschen“). Ein ewiger Kreislauf ohne Erlösung.

V. Ästhetische Würdigung: Form und Inhalt

Die formale Gestaltung des Gedichts ist von bestechender Schlichtheit. Der Paarreim (versaut/verdaut) erzeugt eine akustische Geschlossenheit, die im Kontrast zur inhaltlichen Offenheit (der Verdauungsvorgang geht weiter) steht.

Das Metrum – ein vierhebiger Trochäus – gibt dem Text einen fast kinderliedhaften Charakter. Doch diese scheinbare Naivität ist pure Ironie. Der Dichter bedient sich der einfachsten Mittel, um die komplexesten Wahrheiten zu transportieren.

Man könnte von einer „kulinarischen Konkretion“ sprechen: Das Abstrakte (Existenz, Vergänglichkeit, Transformation) wird im Konkreten (Sauerkraut, Küche, Darm) erfahrbar gemacht. Damit steht der Text in der Tradition der konkreten Poesie, geht jedoch über diese hinaus, indem er nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt materialisiert.

VI. Intertextuelle Bezüge: Eine Genealogie der Verdauungspoesie

Das Gedicht steht nicht isoliert in der Literaturgeschichte. Wir finden Vorläufer bereits bei François Villon, dessen „Ballade des pendus“ ebenfalls die Körperlichkeit des Verfalls thematisiert.

Näher liegt jedoch die Verbindung zu den Fäkalpoeten des 20. Jahrhunderts. Allen Ginsbergs „Howl“ beginnt mit den berühmten Worten: „I saw the best minds of my generation destroyed by madness“ – unser Dichter könnte antworten: „I saw the best sauerkraut of my generation destroyed by cooking.“

Auch die Dadaisten – man denke an Hugo Balls Lautgedichte – experimentieren mit der Sprengung semantischer Konventionen. Doch wo Ball im Nonsens die Befreiung suchte, findet unser Dichter im Alltäglichsten die ultimative Wahrheit.

VII. Rezeptionsgeschichte und Wirkung

Die Rezeption des Gedichts – bislang unveröffentlicht, da erst kürzlich entdeckt – wird zweifellos kontrovers ausfallen. Konservative Literaturkritiker werden es als vulgär abtun, als unwürdig des Namens Dichtung.

Doch gerade in dieser Provokation liegt seine Stärke. Es zwingt uns, unsere ästhetischen Prämissen zu überdenken. Was ist Poesie? Muss sie erhaben sein, um bedeutsam zu sein? Oder kann nicht gerade das Niedrige, das Ausgeschiedene, zum Gegenstand höchster künstlerischer Reflexion werden?

Die Postmoderne hat uns gelehrt, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt. Was bleibt, sind die kleinen Geschichten – oder in diesem Fall: das kleine Sauerkraut. Und vielleicht ist gerade darin die Größe zu finden.

VIII. Schlussbetrachtung: Das Sauerkraut als Conditio Humana

Was uns dieses Gedicht letztlich lehrt, ist die Akzeptanz der Vergänglichkeit. Das Sauerkraut durchläuft alle Stadien der Existenz: Entstehung (Fermentation), Bearbeitung (Küche), Konsumtion (Essen), Transformation (Verdauung) und Auflösung (Ausscheidung).

Sind wir nicht alle Sauerkraut? Werden wir nicht alle „in der Küche“ des Lebens „versaut“, um dann im großen Darm der Geschichte verdaut zu werden? Und bleiben am Ende nicht auch von uns nur „Geräusche“ – Erinnerungen, Werke, Spuren, die langsam verhallen?

Der Dichter gibt keine Antworten. Er stellt nur fest, mit der nüchternen Klarheit eines Naturwissenschaftlers und der melancholischen Weisheit eines Philosophen: So ist es. So war es immer. So wird es immer sein.

In dieser radikalen Ehrlichkeit, in dieser Weigerung, das Unangenehme zu verschleiern oder zu beschönigen, liegt die wahre Größe dieses kurzen, unscheinbaren Gedichts. Es ist ein Meisterwerk der Anti-Romantik, ein Manifest des poetischen Realismus, ein Denkmal der Vergänglichkeit.

Das Sauerkraut stirbt. Aber das Gedicht bleibt.


Anmerkung des Verfassers: Diese Analyse erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Weitere Forschungen, insbesondere im Bereich der fermentationsphilosophischen Hermeneutik, sind dringend erforderlich. Eine strukturalistische Lesart unter Einbeziehung von Lévi-Strauss‘ Studien zum „Rohen und Gekochten“ steht noch aus, ebenso wie eine psychoanalytische Deutung im Sinne Lacans (das Sauerkraut als Objekt petit a).

Der Verfasser dankt dem Institut für Angewandte Kohlphilosophie für die finanzielle Unterstützung dieser Studie.

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