Der Einsiedler


Desmond Carry war im Begriff, verrückt zu werden, dessen war er sich sicher.

Der hagere Endvierziger mit dem schütteren grauen Haar lag mehr in seinem Sessel, als dass er saß. Er drückte den rechten oberen Knopf der Fernbedienung und hielt sie dem Fernseher hin, als wolle er sie ihm zeigen. Der Bildschirm der Videowand flammte auf. Eine junge Frau erschien, lächelnd, ihre Haare straff nach hinten gekämmt, was sie streng, aber nicht unattraktiv wirken ließ.

»Guten Abend, meine Damen und Herren. Mein Name ist Debbie Manson. Es folgen die Acht-Uhr-Nachrichten!«

»Hi, Debbie…«, flüsterte Desmond und kratzte sich im Schritt.

Jeden Abend dasselbe, dachte er. Jeden Abend dieselbe langweilige Kacke. Erst kommen die Nachrichten, dann eine lächerliche Show, in der eine neurotische Hausfrau aus Connecticut Zwanzigtausend Dollar gewinnen wird; in der ein betagter Briefträger aus Oklahoma sich grün und blau ärgert, weil er den Antwortknopf eine Sekunde zu spät gedrückt hat. Und wieder wird Al Finnley, der Showmaster des Jahres 97 mit dem schmierigsten Lächeln seit Jimmy Carter, Millionen Menschen zu Hause an den Bildschirmen eine gute Nacht und schöne Träume wünschen. Bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt…
Wer‘s weiß, gewinnt! Eine Show vom RTM. Mit freundlicher Unterstützung der Molly-Milk-Corporation.
Denn nur Molly Milk heißt und schmeckt so!
Zum Abschluss des Programms eine Wiederholung des Filmes vom Vortag, der sechsmal durch Werbung unterbrochen wird…
Kaufen Sie Molly Milk und genießen Sie den Geschmack, der nur von gesunden texanischen Kühen kommen kann. Molly Milk, die Milch für die ganze Familie!
»Und wenn Sie mit Juckreiz oder Ausschlag auf die makrobiotischen Elemente in Molly Milk reagieren sollten, probieren Sie: Molly Shake! Es wird Ihnen den Rest geben, schnell und ohne Schmerzen!«, lästerte Desmond und kratzte sich die geröteten Stellen an seinem Unterarm.
Gebannt starrte er auf den Bildschirm. Debbie Manson verstand es, ihre Miene auf die kommende Nachricht einzustellen. Wenn man Debbie kannte, wusste man meist schon im Voraus, was jetzt kam. Entweder eine Schreckensnachricht oder etwas Belangloses, etwas zum Totlachen oder was auch immer… Debbie brachte es lebensnah rüber. Debbie war einsame Spitze!
Desmond hatte in letzter Zeit oft nachts von Debbie geträumt. Sie saß im Traum immer an seinem Bett und las ihm Geschichten aus einem dicken alten Buch vor. Manchmal waren es Gruselgeschichten, dann trug Debbie immer einen schwarzen Umhang und einen hohen spitz zulaufenden Hut, wie sie die Feen in den Märchen immer tragen. Bei den Liebesgeschichten trug sie meist ein weißes Sommerkleid und bei den erotischen Geschichten nur ein Negligé oder Reizwäsche mit Strapsen und so.
Dabei hatte sie es in Desmonds Träumen nie geschafft, eine der lasziveren Erzählungen zu beenden. Desmond hatte immer damit begonnen, sie am ganzen Körper zu streicheln, bis sie schließlich das Buch fallen ließ und zu ihm unter die Decke schlüpfte. Sie wälzten sich in den Kissen. Dann riss er ihr den Fummel vom Leib. Nicht weil er eine gewalttätige Ader in seinem Wesen hatte, sondern weil sie es sich in seinen Träumen so sehnlichst wünschte…
Komm schon, Des. Reiß mir den Fummel runter. Komm, Baby, zeig mir, wie stark du bist. Nimm mich doch einfach und gib mir, was ich verdient habe!
Er stürzte sich dann auf sie wie ein Tier, doch noch während er versuchte, in diese unverschämt enge Öffnung zwischen ihren Beinen einzudringen, erwachte er schweißgebadet und fand sich allein in seinem Bett wieder, seinen Ständer in der rechten Hand und diese sehr schnell auf- und abbewegend
Rauf und runter, rauf und runter…
Sekunden später kam er dann immer und sehnte sich nach einem weiblichen Körper, in den er sein Sperma hätte pumpen können. Einen schlanken biegsamen Frauenkörper mit großen einladenden Titten und einem Duft nach Kokos oder Erdbeere, so was, mit dem sich manche Frauen immer einrieben, um ihre Kerle richtig scharf zu machen. Anscheinend gab es auch orientalische Düfte!
Gott, was hätte er für einen solchen Körper gegeben. Für Debbies Körper hätte er sich einen Arm abgehackt. Aber Debbie gab es eben nur auf dem Bildschirm, und so spritzte das Sperma auf seinen Bauch, lief über seine Hand, bekleckerte das Laken. Desmond stöhnte in einem solchen Moment immer laut auf. Es hörte ihn ohnehin niemand. Niemand war da, den es interessierte, ob Desmond sich es laut oder leise, zwei-, drei- oder fünfmal am Tag besorgte. Jedes Mal sank er erleichtert auf sein Laken, griff nach der Decke, derer er sich im Schlaf entledigt hatte, und bedeckte seinen verschwitzten hageren Körper. Er schlief grundsätzlich mit dem Vorsatz ein, dass nächste Mal nicht aufzuwachen, sondern es mit Debbie zu tun. Bis zum Schluss. Aber das hatte er bis heute nicht fertig gebracht.
Jetzt räkelte er sich in seinem Sessel und gähnte. Debbie erzählte gerade etwas über Hungersnöte und Ölkrisen und dass die Lage im Nahen Osten kritisch sei.
»Immer dasselbe«, sagte Desmond. »Du erzählst immer dasselbe, Debbie. Fällt dir eigentlich nichts Besseres ein? Hast du denn nicht auch schon mal von mir geträumt? Sicher nicht… Du hast dich bestimmt von so einem Produzenten ficken lassen, damit du ins Fernsehen kommst und diese Scheiße den ganzen Tag herunterleiern kannst. Was verdient man denn als Tageshure bei Radio Television Minnesota… HÄ?!? WAS ZAHLEN SIE DIR FÜR DIESE SCHEIßE!!!!«
Desmond hatte nicht gemerkt, dass er sich aufgerichtet hatte und den Fernseher anschrie. Betroffen ließ er sich zurück in den Sessel sinken und schämte sich ein bisschen.
Jetzt geht‘s los, dachte er und meinte sich selbst. Jetzt fängst du an auszuflippen. Scheiße. Irgendwann musste das ja passieren. Debbie erzählte etwas über den neuesten AIDS-Skandal und dass man bestimmte Medikamente jetzt auch nicht mehr einnehmen durfte, weil sie als Nährboden für Bakterien wie geschaffen waren.
Desmond stand auf, ging in die Küche und legte sich eine Scheibe kaltes Steak zwischen zwei angeschimmelte Scheiben Toastbrot.
Schon wieder Toast?
Er hätte jetzt gerne eine Pizza verdrückt. So einen von diesen vollbepackten Fladen, wie man sie früher bei Tony kaufen konnte. Er brachte sie einem sogar ins Haus, wenn man draufzahlte.
Früher war alles besser, nicht wahr, old Cowboy?
Er setzte sich wieder in den Sessel und verabschiedete sich mit einem ausgestreckten Mittelfinger von Debbie, die den Zuschauern noch viel Spaß bei »Wer‘s weiß, gewinnt!« wünschte.
Desmond verdrückte den Toast, als handle es sich um einen Cracker, rülpste ausladend und fischte mit zwei Fingern eine Zigarette aus der halbleeren Automatenpackung, die auf dem Mahagonibeistelltischen lag. Es war schon eine noble Bleibe, die er sich da ausgesucht hatte. Einen Tisch aus Mahagoni, einen Ledersessel und eine von diesen neuen Videoanlagen, die sich nur die ganz Reichen leisten konnten. Nachdem er sich Feuer gegeben hatte, nahm er einen tiefen Zug, hustete röchelnd und spie einen bräunlichen Schleimklumpen auf den von Ratten zerfressenen Perserteppich.
Ratten! Ja, Ratten gab es zur Genüge. Nur keine Frauen, denen man den Fummel vom Leib reißen konnte. Desmond stellte fest, dass der Schleim in seiner Lunge einen bedrohlich dunklen Teint angenommen hatte. Er hatte in irgendeinem schlauen Buch einmal darüber gelesen. Brauner Schleim bedeutete, dass sich Blut in seiner Lunge sammelte.
Nachdem er die Zigarette zu Ende geraucht und den Stummel aus dem offenen Fenster geworfen hatte, stand er wieder auf und eilte auf die Toilette, wo er das Sandwich wieder von sich gab. Er kehrte zurück, legte sich in seinen Sessel und schlief schließlich ein, während der Postbeamte aus Oklahoma sich schon wieder grün und blau ärgerte, weil die blöde Schlampe aus Connecticut schneller auf den großen roten Antwortknopf gedrückt hatte. Desmond erwachte während des Spätfilms, ohne sich daran erinnern zu können, etwas geträumt zu haben.
Edward G. Robinson erschoss seinen Widersacher auf der Mattscheibe zum hundertsechzigsten Mal, und Desmond wusste, dass Debbie jetzt gleich das Programm unterbrechen würde, um die Schreckensmeldung über den Äther zu schicken.
Arme Debbie, dachte Desmond. Das war deine letzte Nachricht… Das Nachobenficken hat sich nicht gelohnt!
Der Bildschirm wurde dunkel und nach Sekunden flammte er wieder auf. Debbie saß aufgeregt im Studio und kämpfte mit den Tränen. Stockend verlas sie die Meldung, die sie kurz zuvor erreicht haben musste…
»Verehrte Zuschauer. Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Mitteilung. Die Krise im Nahen Osten hat in den letzten Stunden ihren Höhepunkt erreicht. Die russische Staatsführung hatte sich nicht bereit erklärt, ihre Truppen aus den von US-Einheiten besetzten Gebieten abzuziehen. Nachdem russische Einheiten das Feuer auf amerikanische Truppen eröffneten, ordnete der Präsident den Erstschlag an. Russische Mittelstreckenraketen vom Typ SS20 sind unterwegs und werden binnen weniger Minuten in folgenden amerikanischen Städten einschlagen: Washington, New York, Los Angeles…«
Desmond drückte auf den Knopf der Fernbedienung und spulte die Kassette im Videorecorder zurück. Den Rest kannte er schon.
Zwei Monate ist das jetzt schon her…
Er hatte Glück gehabt, wenn man das Glück nennen konnte. Er war nach einem Ein-Mann-Besäufnis in seinem Keller eingeschlafen. Ein sehr stabiler Keller. Im Radio hatten sie eine Liveübertragung des Spieles gebracht, in dem sich die Redskins gegen die Tigers behaupten konnten, und wenn das kein Grund war, ein Fass aufzumachen, was dann?
Als er wieder zur Besinnung gekommen war, war der Keller über ihm zusammengebrochen. Wie durch ein Wunder hatte er sich aus diesem Loch herausbuddeln können. An der Oberfläche angekommen, realisierte er, dass er alleine war. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, und der Rest der Stadt war weggeweht worden. Ein verfluchtes Gemäuer am anderen Ende des Trümmerfeldes, oder zumindest ein Teil davon, stand noch, und dort wohnte er jetzt. Es musste sich um die Residenz irgendeines Geldkackers gehandelt haben. Dort hatte er die Videowand und den Recorder gefunden, in dem die Kassette steckte, die er sich seitdem jeden Abend ansah.
Vielleicht gab es ja doch noch andere Überlebende, aber diese zu suchen, war sinnlos. Er klappte nach zehn Metern schnelleren Gehens zusammen und kotzte alles, was er zu sich nahm, nach einer Viertelstunde wieder raus. Irgendwo musste es noch Menschen geben. Gott allein wusste, wo sie waren, und Gott allein wusste auch, woher der Strom aus der Steckdose kam. Desmond wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Gott sei Dank!
Die Strahlung… Das ist die verdammte Strahlung…
Die Haare auf seinem Kopf waren bis auf zwei Büschel ausgefallen. Die Rötungen an seinem Körper bedeckten jetzt schon das meiste seiner Haut. Es war ihm bewusst, dass Debbie ihn bald holen würde. Vielleicht würde sie ihm dann eine Geschichte vorlesen; vielleicht würde er sie streicheln, vielleicht würden sie dann zusammen träumen…


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