Der Telepath

Langsam senkte sich die Sonne von Tudor, um hinter der langgezogenen Hügelkette zu verschwinden, die schützend das Wüstenstädtchen von der Nordseite her einrahmte. Dahinter lagen die Ortschaften Seraville und Toppers Risk, die mit dem Auto in einer Dreiviertelstunde zu erreichen waren. Orte, die genauso langweilig waren wie Tudor Falls. Die Sonne ging dort genauso unter wie hier. Wie überall in Nevada.

Erik hatte seine Streife unterbrochen und den Wagen auf einem sandigen Plateau geparkt, um das eindrucksvolle Schauspiel zu betrachten. Das letzte Sichelstück des Feuerballs war verschwunden und Erik fand es ein wenig grotesk, sich vorzustellen, dass der purpurne Himmel im Grunde nur das Ergebnis einer zu kohlenmonoxydhaltigen Atmosphäre war, und dass die Menschheit diese wundervollen Farben der verschmutzten Luft zu verdanken hatten.

Er war jetzt seit drei Jahren Police-Officer im Distrikt Tudor und kam seit drei Jahren regelmäßig hier herauf. Hier war es ruhig. Hier gab es keine Menschenseele. Hier gab es keine Autofahrer, die meinten, sie müssten mit 80 Meilen über die Straßen jagen, keine alten Damen, deren Katze man von irgendeinem Baum herunterholen musste und keine rechtschaffenen Bürger, die sich wegen irgendwelcher Lappalien beschwerten. Zum Beispiel, dass ihnen der Hund des Nachbarn in den Garten geschissen hatte.

Im Radio spielten sie einen Blues und Erik dachte an Cynthia und dass sie schon lange keinen romantischen Abend mehr verbracht hatten. Er beschloss, heute nach dem Dienst in Heddys Blumenladen vorbeizufahren und Cynthia einen Strauß Chrysanthemen mitzubringen.

Wenig später schaltete Erik das Funkgerät wieder ein und setzte seine abendliche Streife fort. Aus dem leisen Rauschen des Empfängers ertönte die Aufforderung der Zentrale zum Rapport und Erik meldete: »Am Sattle-Rock ist alles ruhig…«

»Camron! Warten Sie!«

Chief Morgan schlängelte sich geschickt zwischen Personal und Schreibtischen zu Erik durch, der am Eingang stand und den Türknauf in der Hand hielt. Morgan gehörte zu den bequemeren Vorgesetzten. Zu denen, die froh waren, wenn es nichts zu tun gab. Wenn er seinen Kreislauf mit so einem Tempo belastete, musste es etwas Wichtiges gehen.

»Na, Camron. Alles klar da draußen?«, fragte er und Erik sah sofort, dass er von etwas ablenken wollte.

»Alles in Ordnung, Chief.«

»Es gibt da ein Problem, Erik.« Morgan stockte und rieb sich das Kinn. »Johnny kann die Nachtschicht nächste Woche nicht übernehmen… Hat sich bei irgendwelchen Dummheiten den Arm verrenkt. Könnten Sie einspringen? Sie würden mit Will die Streife fahren.«

»Natürlich, das ist kein Problem. Cynthia wird mir schon nicht den Kopf abreißen.«

»Sehr gut, Erik. Danke.«

Morgan machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte zufrieden in sein Büro, ohne sich zu verabschieden oder Erik einen schönen Feierabend zu wünschen. Erik nahm es ihm nicht übel und eilte hinaus zum Wagen. Lässig ließ er sich auf den Sitz seines alten Chevy-Nova gleiten, als plötzlich ein stechender Schmerz in seine Schläfen schlug. Er presste seine Hände an den Kopf, der zu zerbersten drohte. Flecken formten sich zu Flächen, diese zu Bildern. Gedanken, die aufdrängend Gefahr meldeten.

Seine Brust bäumte sich auf und seine flatternden Lider schlossen sich, als es plötzlich wie ein Schnellzug durch seinen Kopf raste. Er atmete schnell und flach. Plötzlich stieß er die Worte wie Auswurf aus seinem Hals…

»Cynthia! PASS AUF!«

Erik startete den Wagen und schoss rückwärts aus der Parkreihe.

Friedlich reihte sich das weißgetünchte Haus mit der Hollywood-Schaukel auf der Veranda in die Straße, deren Bauten absichtlich in derselben Art gehalten waren. Eriks Chevy schoss um die Kurve der abfallenden Copperfield Road und stoppte abrupt vor seinem Haus.

Die Wagentür abzuschließen schien ihm unwichtig. Er rannte die Stufen hinauf zur Tür, deren Fliegengitter er aufriss und hastig mit dem Schlüssel nach dem Türschloss suchte.

Ohne sich umzusehen, stürmte er durch den breiten Flur die Treppe hinauf und trat die Tür zum Schlafzimmer ein, durch deren Ritzen feiner Rauch quoll.

Ein Blick genügte, um die Situation zu erfassen. Ein Stapel Wäsche auf dem Bügeltisch. Ein Oberhemd, das am Bügeleisen Feuer gefangen hatte.

Erik riss den Stecker des Eisens aus der Wand und rannte aus dem Zimmer ins Bad. Er zog einen Eimer unter dem Waschbecken hervor. Wasser plätscherte, für Erik viel zu langsam, in das Gefäß.

Cynthia kam die Treppe hinaufgerannt und hielt sich hustend am Geländer, als Erik an ihr vorbei eilte. Ein lautes Zischen und schwarzer quellender Rauch. Erik hatte es geschafft.

Nachdem er das Fenster aufgestoßen hatte, rannte er auf den Flur und schlug die Tür zu, um den Rest des Hauses vor Rauch und Ruß zu schützen. Cynthia fiel ihm weinend in die Arme.

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, beteuerte sie. »Ich war oben, dann hat plötzlich das Telefon geklingelt. Helen war dran und ich…«

»Schon gut! Ist ja noch mal gutgegangen. Wir gehen runter, o.k.?«

Einige Zeit später kauerten sie auf einem Notlager aus Decken im Wohnzimmer und erholten sich von der Aufregung.

»Woher hast du das eigentlich gewusst?«, fragte sie.

»Was?«

»Na das, mit dem Feuer!«

»Hmm…, ich hab den Rauch draußen gesehen.«

Cynthia stutzte.

»Wie konntest du den Rauch von der Straße aus sehen? Das Schlafzimmer liegt hinten raus, und so stark hat es auch nicht gequalmt. Und überhaupt! Woher wusstest du, dass es im Schlafzimmer brennt? Es hätte genauso gut im Gästezimmer brennen können. Als du reinkamst, bist du zuerst hoch ins Schlafzimmer, als ob… Ja, als ob du gewusst hättest, was los ist.«

Erik schwieg eine Zeit, bevor er reagierte. Cynthia drehte sich auf die andere Seite und kehrte ihm den Rücken zu. So, wie sie es immer machte, wenn sie die Eingeschnappte spielte. Erik wusste, dass es ernster aussah, als es war, aber dennoch konnte er es kaum ertragen. Die Vorstellung, Cynthia, SEINE Cynthia könne sich von ihm abwenden oder böse mit ihm sein, brachte ihn fast um den Verstand.

»Cynthia.«

»Hmm?«, schmollte sie, wohlwissend, dass sie mit dieser Masche fast alles bei ihm erreichen konnte.

»Wenn ich dir ein Geheimnis anvertraute, würdest du es für dich behalten?«

»Also, wenn du mich das fragen musst?!«, sagte sie und schaffte es, dass sich Erik sogar ein wenig schämte.

»Ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll. Wir kennen uns jetzt schon so lange. Eigentlich wollte ich es dir schon früher erzählen, aber… Irgendwie hatte ich immer Angst, du könntest denken, ich sei nicht ganz richtig im Kopf.«

Erschrocken drehte sie sich um und musterte ihn.

»Keine Angst, Liebes. Es ist nichts Schlimmes. Sagen wir, es ist eine Art, na ja… Begabung? Mhm… Erinnerst du dich an Will‘s Geburtstag, als Kathy ihre Brille verlegt hatte?«

Cynthia überlegte. »Und du geraten hast, sie wäre hinter dem Sessel, wo sie schließlich wirklich lag?«

»Genau. Ich habe nicht geraten.«

»Wie meinst du das?«

»Mhm… Wie soll ich es dir sagen… Ich wusste, wo sie war.«

»Wieso? Ich meine, woher wusstest du es?«

»Sieh mal, Schatz. Du kennst doch die Geschichten, die sie im Fernsehen immer bringen, über Hellsehen und telepathische Fähigkeiten und so weiter…«

»Und du willst mir jetzt weiß machen, du hättest hellseherische Fähigkeiten.«

»Das will ich dir nicht weismachen. Es ist so!«

Cynthia lachte schallend auf.

»Du gemeiner Kerl. Du hast mich ganz schön hinters Licht geführt. Ich dachte schon, jetzt kommt wer weiß was.«

»Cynthia, ich habe dir die Wahrheit gesagt. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe diese Begabung seit meiner Kindheit.«

»Also, entweder spielst du deinen Scherz gerade hervorragend weiter, oder wir müssen uns nach einem Therapeuten für dich umsehen!«

»Weder das eine noch das andere.«

»Erik, es ist jetzt gut. Du hast mich drangekriegt. Ich möchte jetzt schlafen. Gute Nacht.« Sie drehte sich wieder zur Seite. Erik legte seinen Arm um sie.

»Cynthia. Sag mir, vermisst du vielleicht irgendeinen Gegenstand?«

Sie schmunzelte.

»Lies doch meine Gedanken.«

»Gut. Schließ die Augen und stell dir den Gegenstand vor… So gut es geht!«

Sie tat, was er sagte, mehr aus Jux, als dass sie die Ernsthaftigkeit dieses Spieles erkannte. Im selben Augenblick konzentrierte sich Erik und nach einer Weile begann er, seine Eindrücke zu schildern.

»Der Gegenstand ist klein… sehr klein. Stell ihn dir vor. Zeichne jede Linie in Gedanken nach… Der Gegenstand glänzt… Ein kleiner, runder… glänzender Gegenstand… Ein Ring.«

Erik nahm ihre Hand und starrte ungläubig darauf.

»Unser Ehering!?«

Cynthia riss die Augen auf, starrte erschrocken auf ihre Rechte, dann fassungslos auf Erik.

»Ich hab ihn abgenommen, weil ich einen Kuchen backen wollte… Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn hingelegt habe!«

»Wo mag er wohl sein?«, suchte Erik in Gedanken weiter. »Er ist im Haus… und scheinbar im unteren Teil. Ich glaube, dass er in der Küche ist. Er liegt… auf dem Boden, neben einem Tischbein!« Erik öffnete die Augen. Er schien durch die starke Konzentration müde geworden. Seine Augen brannten, wie Cynthias Neugier. Sie schob die Decke langsam beiseite, ohne den Blick von Erik zu lassen. Sie starrte ihn an, als habe er plötzlich blaue Punkte im Gesicht bekommen.

Zögernd stand sie auf und ging zur Tür. Es schien, als würde sie mit jedem Schritt schneller, je weiter sie sich vom Lager entfernte. Es war ruhig. Erik ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Er konzentrierte sich abermals.  

Als Cynthia wieder an der Schlafzimmertür auftauchte, fragte sie keuchend…  

»Du hast es gewusst, nicht wahr? Du hast gesehen, dass der Ring an meiner Hand fehlt. Du hast ihn gefunden und in die Küche gelegt?!«  

Erik schüttelte den Kopf.  

»Und wo ist er jetzt?«  

Erik öffnete die Augen und lächelte…  

»Du hast ihn in die Zuckerdose gelegt!«  

Erschrocken bedeckte sie den halb geöffneten Mund. Sie lehnte am Türrahmen. Ihr Herz schlug schnell und stark.  

»Mein Gott… Aber… Das ist doch nicht möglich. Wo ist der Trick dabei? Du hast es gehört, nicht wahr? Du hast gehört, wie ich die Dose aus dem Regal genommen hab.«  

»Und woher wusste ich von dem Ring am Tischbein?«  

»Ich weiß nicht. Du hast ihn da versteckt, nicht wahr? Du spielst mir hier einen Streich. Gib‘s zu!«  

Einige Sekunden herrschte Stille. Er streckte ihr den Arm entgegen. Sie folgte verwirrt der Geste und setzte sich zu ihm. Eine Gänsehaut überzog ihre zitternden Beine, die sie fest umklammerte.  

»Sag mir alles, Erik!«  

Und dann begann Erik zu erzählen. Er erzählte von dem Unfall, als er im Alter von sieben Jahren in das Eis des kleinen Parksees eingebrochen war und fast ertrunken wäre. Wie er das Bewusstsein verloren hatte und irgendwann in einem Krankenzimmer erwacht war, wo ihn eine dicke hässliche Krankenschwester namens Margret gerade damit beschäftigt war, irgendwas um seinen Arm zu schnallen. Noch im Krankenhaus hatte es angefangen. Sie hatte dieses komische Ding verlegt, das sie sich immer in die Ohren stopfte, um seinen Blutdruck zu messen, und Erik wusste, dass es in dem Raum nebenan war, wo all die Eimer und das Putzzeug standen. Er hätte ihr die Kammer bis ins Detail beschreiben können, obwohl er noch nie darin gewesen war. Sie begann sich merkwürdig zu verhalten. Eriks Wissen um Dinge, die er nicht wissen durfte, schien ihr Angst zu machen.  

Erik wusste es, wenn seine Eltern unten aus dem Wagen stiegen, um ihn zu besuchen. Er wusste, was es zu essen gab, ohne unter den Warmhaltedeckel zu schauen, und wenn er sich konzentrierte, konnte er Schwester Margrets Gedanken lesen. Sie hatte tatsächlich Angst vor ihm und sie hatte Angst vor seinen Fähigkeiten. Aber sie war nicht die einzige, denn Erik selbst spürte neben der spannenden Neugier eine merkwürdige Furcht. Er beschloss, zunächst niemandem von seinen neuerworbenen Gaben – Gott allein wusste, woher sie gekommen waren – zu erzählen. Es würde sein wohlgehütetes Geheimnis bleiben, bis er einen Menschen finden würde, dem er sich guten Gewissens anvertrauen konnte.  

Er fand diesen Menschen und erzählte Cynthia von Grandma Beth, die einmal im Jahr die Familie besuchte. Seinen Eltern hatte er nichts gesagt, wohl eher aus Angst, sie könnten ihn vor lauter Sorge zu einem Klapsdoktor schaffen. Grandma Beth musste er nichts erzählen. Sie wusste es, als sie vollbepackt zur Tür hereinkam und ihren Lieblingsenkel in die Arme schloss. Sie sagte nichts, sah ihn nur mit leicht zusammengekniffenen Augen an und murmelte leise »Ich wusste es! Es ist soweit… Die Gabe ist erwacht. So wie bei mir vor vieen Jahren.«  

Später, sie hatte Erik versprochen, ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, saß sie in seinem Zimmer und hielt das Buch, das er sich ausgesucht hatte, geschlossen auf ihrem Schoß.  

»Willst du nicht anfangen, Grandma?«, hatte er gefragt und sie hatte nur gelächelt.  

»Nein… Ich glaube, wir sollten uns lieber einmal über das unterhalten, was du seit einiger Zeit kannst. Ich würde ohnehin an nichts anderes denken, und du würdest das wissen, nicht wahr?«  

Erik hatte sie ein wenig verlegen angesehen, obwohl er ihre Mitwisserschaft gespürt hatte. Sie erzählte ihm von ihren eigenen Erlebnissen und wies ihn an, sich anderen niemals zu offenbaren. Keiner würde verstehen. Die wenigsten würden es versuchen. Die einen würden versuchen, seine Gabe zu missbrauchen, die anderen würden Angst vor ihm haben. Sie sagte ihm auch, dass es eine Gabe Gottes sei und dass er sie niemals missbrauchen dürfe. Das Privatleben anderer ging ihn nichts an, auch wenn er so etwas wie ein Auserwählter unter den Menschen sei. Erik versprach, sich an die Forderungen der Großmutter zu halten. Es hatte keinen Sinn, einen falschen Schwur zu leisten. Sie hätte es in seinen Gedanken gelesen, wie er es in ihren hatte lesen können. Und seine Großmutter zu enttäuschen, dazu liebte Erik sie viel zu sehr.

Er erzählte Cynthia die halbe Nacht von Begebenheiten, bei denen er sich seiner Fähigkeiten bedient hatte. Von Verbrechen, die mit Hilfe seiner Kraft aufgeklärt wurden, von den vermissten Kindern, die er gefunden hatte, dem äußeren Schein nach durch reinen Zufall. Nur er hatte gewusst, dass es keine Zufälle gewesen waren.  

Mit jeder Geschichte wurde ihr Staunen größer, mit jeder Erzählung wuchs Cynthias Interesse an Eriks Fähigkeiten. Er selbst ertappte sich des Öfteren dabei, wie ihn ein Anflug von Stolz überkam. Irgendwann forderten die Mühen des Tages und die Aufregungen der Nacht ihren Tribut und beide schliefen erschöpft ein.

Am nächsten Morgen musste Cynthia ihrem Mann erneut das Versprechen geben, niemandem jemals das Geheimnis preiszugeben, welches Erik seit seiner Jugend bewahrt hatte. Zuviel Schlechtes war in den Menschen. Zuviel Selbstsucht und Unverständnis. Mit dieser Begründung verließ Erik den heimatlichen Herd, in der Gewissheit, Cynthia würde sich an das Versprechen halten. Ihr konnte er vertrauen, so glaubte er jedenfalls. Vielleicht als einzigem Menschen auf dieser Welt.  

Erik machte sich auf den Weg ins Büro und brachte den Tag mit liegengebliebenen Schreibarbeiten über die Bühne. Das Unrecht schien Tudor Falls für heute zu verschonen, und dennoch hatte Erik den ganzen Tag über ein komisches Gefühl. Er hatte sein Geheimnis preisgegeben. Er hatte das Versprechen gebrochen, das er Grandma Beth gegeben hatte.

Cynthia saß zu Hause und dachte angestrengt an das, was sie am Abend zuvor erfahren hatte. Wie ein Film liefen die Erzählungen Eriks vor ihrem geistigen Auge ab. Sie malte sich aus, wie viel Vorteile so ein sechster Sinn doch mit sich brächte, könnte man ihn nur richtig einsetzen. Doch dann drangen ihr wieder Eriks ermahnende Worte in den Sinn, und sie wusste, dass das, an was sie gedacht hatte, in Eriks Augen ein Missbrauch dieser Fähigkeit gewesen wäre.  

Sie begann sich innerlich darüber aufzuregen, wie ein erwachsener Mensch so ein armes Kind unter Druck setzen konnte. Erik hatte seine Fähigkeiten nie zu seinem Vorteil eingesetzt, und das war Grandmas Schuld. Sie war Schuld, dass sie zwei Hypotheken auf das Haus laufen hatten. Sie war Schuld, dass Erik immer noch in den Jeans herumlief, die Cynthia ihm letztes Jahr bei Perrys gekauft hatte. Sie war Schuld, dass Cynthia jeden Penny zweimal umdrehen musste, obwohl sie es satt hatte, auf so vieles zu verzichten.  

Hätte diese alte Schachtel den Jungen nicht so unter Druck gesetzt, wäre dieser schon längst drüben in Vegas gewesen und hätte sich am Roulette-Tisch alle Schulden vom Hals geschafft. Sie würden heute keinen alten Chevy-Nova fahren und den Urlaub bei Cynthias Eltern in Colorado verbringen. Sie würden so vieles tun…, wäre da nicht Grandma Beth gewesen, die nichts besseres zu tun gehabt hatte, als sich vor einem Kind aufzuspielen, als sei sie die Inkarnation von Jesus Christus. 

Cynthia erhob sich und ging hinauf ins Schlafzimmer, um den Dreckstall im Schlafzimmer sauberzumachen. Sie beschloss nachzudenken… Wie man aus Eriks wundersamen Fähigkeiten doch ein wenig Vorteil schlagen konnte. Und wie sie ihm begreifbar machen konnte, dass es durchaus nicht schlimm war, wenn man sich ein wenig um sich selbst kümmert.  

Und dennoch… Sie war Grandma Beth nicht gänzlich böse. Sie dankte der seligen Großmutter, dass sie ihrem Enkel eingebläut hatte, sich nicht um die Angelegenheiten anderer Leute zu kümmern. Auch Cynthia hatte ihre Geheimnisse, und Erik war der letzte, den dies etwas anging.

*

Am Abend, als Erik nach Hause kam, stand das Abendessen schon auf dem Tisch, und ihm schien es, als ob es diesmal reichhaltiger angerichtet war als sonst. Auch gab es eine warme Mahlzeit, was keinesfalls üblich war. Doch Erik war nicht abgeneigt und setzte sich an den Küchentisch, ohne groß darüber nachzudenken. Während sie aßen, erzählte er von den Ereignissen des Tages.  

»Will und Johnny haben eine Gehaltserhöhung bekommen.«  

»Und du?«  

»Du weißt doch… Ich komme frühestens nächstes Jahr dran.«  

»Irgendwie finde ich es aber trotzdem ungerecht.« warf Cynthia ein, »Dein Chief weiß genau, dass wir die Hypothek für das Haus abzahlen müssen. Und schließlich warst du die letzten zwei Jahre am erfolgreichsten im Revier.«  

Erik stutzte.  

»Woher soll Morgan wissen, dass wir eine Hypothek auf unser Haus haben?«  

Cynthia überlegte.   

»So etwas spricht sich doch rum unter Kollegen. Oder etwa nicht?«  

»So gut müsstest du mich eigentlich kennen, Schatz. Ich würde Morgan oder den anderen nie etwas von irgendwelchen Schulden vorjammern. Und überhaupt, was soll das? Wir kommen doch gut zurecht! Oder hattest du bis jetzt einmal Grund, dich wegen mangelnden Haushaltsgeldes zu beklagen?«  

»Natürlich nicht. Aber ich sehe doch, dass du dir überhaupt nichts leistest. Wenn ich dir nicht regelmäßig etwas Anständiges zum Anziehen mitbrächte… Du würdest immer noch in den alten zerrissenen Jeans von vor zwei Jahren herumlaufen. Ich finde, du könntest dich wirklich ein bisschen besser mit deinem Boss stellen.«  

»Weißt du noch, als ich vor drei Monaten nach Atlanta musste, weil es Mutter so schlecht ging? Ohne mit den Augen zu zwinkern, hat er mir Sonderurlaub gegeben. Das sollte Will und Johnny mal einfallen. Der Chief würde so hoch springen!«  

Er hob den rechten Arm hoch in die Luft.  

»Vielleicht solltest du ihm mal das mit deinem Hellsehen…«  

»WAS?!?«  

»Na ja… Es könnte dir Vorteile einbringen. Du weißt schon!«  

»So etwas darfst du nicht einmal denken!«  

»Jetzt beruhige dich… Es war nur ein Vorschlag!«  

»Niemals! Niemals darf irgend jemand je davon erfahren, hörst du!«  

»Ja! Reg dich bitte nicht gleich auf.«  

»Ich möchte nicht zur Attraktion von Tudor Falls werden. Und ich möchte auch nicht weiter darüber reden…«

***

Die Tage vergingen und Erik bemerkte eine Veränderung in seinem Wesen, die ihm Angst machte. Sein Misstrauen gegenüber fremden und auch bekannten Menschen wuchs. War das der Fluch, vor dem ihn Grandma zu warnen versucht hatte? Er hatte sich doch nur Cynthia anvertraut, und wenn es einen Menschen gab, dem er vertraute, dann ihr. Sie war launisch und oftmals schwer zufrieden zu stellen, aber er konnte ihr vertrauen. Jedenfalls dachte er das, bis zu jenem Abend…

Erik kam erschöpft von der Arbeit nach Hause. Cynthia saß mit einer Nachbarin beim Kaffee. Mrs. Creek hockte im halbseidenen Morgenrock und Lockenwicklern in den Haaren am Küchentisch und redete mit übertriebenen Gesten auf Cynthia ein. Als diese ihren Mann erblickte, stand sie auf, nahm ihn beiseite und flüsterte ihm ins Ohr…  

»Hör zu, Liebling. Mrs. Creek hat ihre goldene Brosche verlegt. Könntest du nicht…«  

»Was? Hast du ihr etwa erzählt…«  

»Nein, natürlich nicht. Ich möchte so tun, als ob mir zufällig etwas einfällt. Es war ein Erbstück und sie hängt sehr daran. Was ist denn schon dabei? Nur einmal. Bitte, mach eine Ausnahme.«  

Erik setzte sich.  

»Du hast mir doch versprochen…«  

»Erik! Stell dich nicht so an. Ich hab ihr doch gar nichts verraten. Ich will doch nur, dass sie ihre Brosche wiederbekommt. Seit zwei Stunden jammert sie mir die Ohren voll.«  

Erik wollte den Beteuerungen seiner Frau nicht so recht trauen, trotzdem hatte er die Augen geschlossen und versenkte sich in einer kurzen Meditation. Eine Minute später blickte er zu seiner Frau auf.  

»Sie liegt in einem Wäschekorb, der unter einem Regal im Keller steht. Und jetzt lass mich bitte allein.«  

Cynthia ging zu Mrs. Creek und tuschelte ihr etwas zu. Erik bemerkte nicht, wie die Nachbarin ihr einige Geldscheine in die Hand drückte.

*

Als Erik am nächsten Tag das Haus verließ, war alles anders geworden. Allem voran das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Unaufhörlich dachte er daran, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn die Nachbarin, die für ihre Geschwätzigkeit bekannt war, auch diesmal ihrem Laster frönen und jedem erzählen würde, was sie erlebt hatte. Immer wieder bekämpfte er diesen Gedanken vergeblich. Großmutter fiel ihm ein und sein Gewissen plagte ihn, wie eine übers Bett schwirrende Stechmücke.

Er wusste nicht, was Cynthia der alten Tratschtante erzählt hatte. Am Abend hatte er jedenfalls kaum ein Wort mehr mit ihr gewechselt, weswegen er sich noch schlechter fühlte. Zum ersten Mal freute er sich auf die langweilige Nachtschicht, auf die leeren Straßen, die sich durch Tudor zogen, und auf die Ruhe, die dann einkehrte.  

Jedes Mal, wenn die Tür zum Revier aufsprang, zuckte Erik zusammen. Jedes Mal sah er jemand auf sich zukommen, der ihn fragte: »Stimmt das, was ich gehört habe…«  

Das Wochenende verbrachte Erik mehr oder weniger auf dem Sofa im Wohnzimmer, auf dem er sich unter einer Decke versteckte.  

Mit Cynthia hatte er sich wieder vertragen, wenn auch nie eine Aussprache über das Vorgefallene stattgefunden hatte. Sie schien begriffen zu haben, wie ernst es ihm war, das Geheimnis für sich zu behalten. Doch es war auch das erste Mal, dass sie eine Meinungsverschiedenheit nicht besprechen konnten. 

Erik sog kühle Luft der klaren Juninacht in seine Lungen. Er hatte das Geschehene weitgehendst verdrängt, und die Erinnerung daran machte sich nur noch als ein drückendes Gefühl in der Magengrube bemerkbar. Behäbig kreuzte die schwere Polizeilimousine durch Tudors Straßen.  

Will Dury saß am Steuer und kaute an seinen Fingernägeln.  

»Was ist? Machen wir ‚ne Pause?«, fragte er und spie etwas aus dem offenen Wagenfenster. Erik, der beschloss, sein Magendrücken als Hunger zu interpretieren, grinste Will an.  

»In Ordnung. Wie wär‘s mit einem Hot Dog?«  

Will wendete ohne etwas zu sagen den Wagen und steuerte geradewegs auf die Hamburgerbude zu, dessen Besitzer nicht daran dachte, sie vor drei Uhr morgens zu schließen.  

Das Funkgerät stand auf Empfang, während sie gemächlich die Würstchen verspeisten. Will ließ sich, trotz angestrengtem Kauens, nicht daran hindern, eine Unterhaltung zu beginnen.  

»Überlegst du dir nicht auch manchmal, was das Ganze eigentlich soll?«  

»Was meinst du?«  

»Na ja… Wir sitzen hier mitten in der Nacht in einem beschissenen Auto und warten darauf, dass jemand nach Hilfe schreit. Und wenn es dann soweit ist, riskieren wir für wildfremde Menschen Kopf und Kragen. Leute, die sich hinterher nicht mal bedanken.«  

Erik antwortete zwischen zwei Bissen.  

»Ich wollte das immer.«  

»Was?«  

»Anderen helfen!«  

»Shit! Du hilfst ihnen, und am Tag drauf kennen sie dich nicht mehr.«  

»Ich weiß nicht. Irgendwo hat es doch einen Sinn, finde ich.«  

»Shit, sage ich! Das Sinnvollste, das ich mir im Moment vorstellen könnte, wäre zuhause bei Kathy im Bett zu liegen.«  

Erik seufzte und dachte sehnsüchtig an Cynthia. Will dozierte weiter…  

»Johnny hat‘s gut. Der hockt jetzt bestimmt in irgendeiner Kneipe und reißt sich dort eine hübsche Braut auf.«  

»Warum heiratet er eigentlich nicht?«  

»Johnny Blakescam und heiraten? Nein, er steht nicht drauf. Er sagt, es gäbe so viele hübsche Frauen, dass ihm die Entscheidung zu schwer fiele.«  

»So, sagt er das? Nun ja… Für ihn dürfte es ja auch wahrlich nicht so schwer sein, eine Frau herumzukriegen. Die meisten laufen ihm sowieso hinterher.«  

»Ich hab ihn mal dabei erwischt, wie er sich an meine Kathy rangemacht hat. Die Ohrfeige hat er bis heute nicht vergessen.«

Plötzlich fuhr es Erik wie ein Blitz durch den Kopf. Johnny war als der Frauenheld von Tudor bekannt. Aus unerfindlichen Gründen drängte sich ihm ein Gedanke auf.  

Sollte er es auch bei Cynthia versucht haben?  

Und wenn schon, dachte er sich. Cynthia war eine Frau, der ein Mann vertrauen konnte. War sie das? Hatte sie sein Vertrauen nicht vor kurzem erst missbraucht? Ein Gedanke jagte den anderen und schließlich fiel ihm ein, dass er sich ja eigentlich nur zu konzentrieren brauchte, um zu erfahren, was Cynthia jetzt gerade in diesem Moment dachte oder tat.  

Schlafen wird sie, was sonst, dachte er und schämte sich. Und außerdem würde es gegen seine Prinzipien verstoßen, andere, einer niederen Neugier wegen, auszuspionieren. Er liebte seine Frau und war überzeugt, dass diese Liebe von ebensoviel Vertrauen begleitet sein musste.

Wo hätten sich Johnny und Cynthia denn schon kennen lernen sollen? Auf dem Polizeiball letztes Jahr? Unwahrscheinlich, wenngleich nicht unmöglich.  

Denkbar…, aber unwahrscheinlich. Erik hatte ihn Cynthia nie vorgestellt. Zur Ablenkung stieg Erik aus dem Wagen und beseitigte die Abfälle des mitternächtlichen Mahls.  

Weiterhin quälten Erik erneut die Zweifel der Unwissenheit. Nur ein einziges Mal, dachte er und versuchte sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Nur, um sicher zu sein, und als er wieder im Wagen saß und Will für einen Moment das Fahrzeug verließ, ließ Erik die Augenlider sinken…   

Es dauerte einen Moment, bis Bilder in ihm aufzusteigen begannen, und er wunderte sich noch, wie gut es funktionierte, obwohl er am ganzen Leib vor Aufregung zitterte.

Als Will wieder in den Wagen stieg, sah er, wie Erik den Kopf auf das Lenkrad gelegt hatte, ihm Tränen aus den Augen quollen und er immer wieder mit verzweifelter Stimme:  

»Warum? Warum nur?« aus sich herausdrückte.  

»Was ist denn los, Erik?«, fragte Will, der verständlicherweise nichts von dem begriff, was sich vor seinen Augen abspielte.  

»Lass mich in Ruhe!«, brüllte Erik.  

Er hatte sie gesehen, in den Armen eines Anderen. Wie sie ihren Körper einem Mann hingab, für den sie ohnehin nur ein weiteres Stück in seiner Sammlung von Liebschaften war.  

»Verschwinde!«   

»Hey Kumpel, würdest du mir bitte sagen…«   

Erik riss die Pistole aus dem Halfter und richtete sie auf seinen Kameraden.  

»Raus! Raus aus dem Wagen! Sofort!« Will brachte keinen Ton mehr heraus und starrte wie gebannt in die Mündung der Waffe, während er sich langsam zurückzog. Erik legte den Revolver weg und startete hastig das Fahrzeug, um mit heulendem Motor im Dunkel der Nacht zu verschwinden.

Will sah ihm nach und meinte noch gehört zu haben, wie Erik »Ich bringe ihn um!« schrie. Er selbst rannte los, in Richtung Revier.

Langsam aber stetig tänzelte die Tachonadel immer höher. Von unsagbarer Verzweiflung getrieben, jagte Erik durch die Straßen, das Gaspedal seines Wagens bis an den Anschlag gedrückt. Schweißperlen traten aus seinem Haaransatz und bahnten sich einen Weg durch die von Falten zerfurchte Stirn.  

Klares Denken war für Erik unmöglich, der es nicht fassen konnte, dass Cynthia, seine Cynthia, ihn betrog. Von Panik getrieben, wie ein weitwund geschossenes Tier, krallte er sich in das Steuer.  

Die Lichter im Haus waren erloschen, als Erik vorfuhr und nichts von dem Lärm wahrnahm, den er mit dem Wagen verursachte. Er erblickte den Polizeiwagen auf der anderen Straßenseite und sah seine Vision bestätigt.  

Schäumend vor Wut, den Revolver in der Hand, stürmte er ins Haus und die Treppe zum Schlafzimmer hinauf.   

Ich bringe ihn um, war das einzige, was er denken konnte. Kein anderer Gedanke hatte Platz. Es gab keine Gerechtigkeit mehr. Es gab nur noch Hass und die Tatsache, dass sein Vertrauen mit Füßen getreten worden war.  

Als er die Tür aufgestoßen hatte, sah er Cynthia, die sich den entblößten Körper mit dem Bettlaken bedeckte, im Bett sitzen, während eine Gestalt durch das offene Fenster die Flucht ins Freie ergriff. Kurz visierte er den Schatten an.  

»Erik, nein!«, schrie sie, dann zerriss ein Schuss die Stille der Nacht.  

»Hör auf!«, kreischte sie.  

»Du verfluchtes Schwein…«, keuchte er, hastete zum Fenster und legte erneut auf den Schatten an, der nun, sich den Arm haltend, durch den Garten rannte. Wieder donnerte ein Schuss.   

»Erik! So hör doch!«, flehte Cynthia ihn an. Erik drehte sich um und richtete den Revolver auf seine Frau. Bevor Cynthia noch etwas sagen, bevor Erik begreifen konnte, was er tat, drückte er ab. Von der Durchschlagskraft des 38er-Projektils erfasst, schlug ihr zierlicher Körper gegen die Wand, sackte in sich zusammen und erstarrte.  

Zitternd ließ Erik die Waffe sinken, als ihm klar wurde, dass er den einzigen Menschen umgebracht hatte, der ihm je etwas bedeutet hatte. Er schluckte. Tränen drängten sich in seine leeren Augen.

*

Ein Motor wurde gestartet, und ein Wagen fuhr davon. Erik rannte hastig die Treppe hinunter, auf die Veranda. Von dem zweiten Polizeifahrzeug war nichts mehr zu sehen.  

Er wusste, wo Johnny wohnte, und er machte sich auf, um sein blutiges Werk zu vollenden.  

Erik hatte seine Gutmütigkeit und Nächstenliebe verloren. Gleich Mr. Hyde, der aus dem hintersten Winkel Dr. Jekylls gekrochen war, kämpfte Erik mit einem anderen Ich. Einem Teil seiner Persönlichkeit, den er bis dato nicht gekannt hätte. Alles, was den jungen gerechtigkeitsliebenden Polizisten als Menschen ausgezeichnet hatte, war ins Gegenteil verkehrt.  

Bei Johnny brannte Licht. Erik hielt sich nicht mit Klingeln oder Klopfen auf. Er hatte den Revolver neu geladen und feuerte auf das Türschloss, das den Einschlägen der Kugeln nachgab und aufsprang. Erik stürmte die Treppe hinauf. Johnny war auf den Flur gerannt, den Arm in eine Bandage gehüllt. Erik erblickte ihn, verlor keine Zeit und feuerte den Rest seiner Munition auf den vermeintlichen Rivalen. Erst als nur noch ein leeres Klicken im Treppenaufgang hallte, gab Erik auf, am Abzug der Waffe zu ziehen.  

Langsam ging er auf die blutüberströmte Leiche seines Widersachers zu, klappte die Trommel aus dem Revolver und ließ die leeren Hülsen auf die Dielen prasseln. Zögernd lud er nach. Im Hintergrund nahm er nur schwach die Sirenen und das Blaulicht wahr, welches in gleichmäßigen Intervallen den Flur durch ein halbgeöffnetes Fenster erleuchtete.  

Schritte polterten die Treppe herauf. Will Dury stand plötzlich hinter ihm. Keuchend. Er musste den ganzen Weg von der Burgerbude gerannt sein, einer bösen Ahnung folgend, nachdem er Erik von der Sache mit Becky und John erzählt hatte…

»Erik! Nein!« Ein letzter Schuss zerriss die angespannte Stille und Eriks Kopf, an dessen Schläfe er den Revolver gesetzt hatte.  

Will hatte sich abgewendet und lehnte an der Wand in Erwartung, sich jeden Augenblick zu übergeben. Eisern drückte er den sich aufbäumenden Inhalt seines Magens die Speiseröhre hinunter. 

Schritte auf der Treppe, die sich näherten. 

Der Chief, dessen rechter Arm von einer blutverschmierten Bandage eingehüllt war, stakte in den Flur. Angeschossen von Eriks Kugel, nachdem er aus Cynthias Fenster geflohen war. Wie erstarrt blieb er stehen vor dem schrecklichen Anblick, der sich ihm bot. Will hatte sich gefasst und starrte Morgan hasserfüllt an.  

»Du Schwein! Du dreckiges, verfluchtes Schwein!«, keuchte er und versuchte krampfhaft, seine Tränen zu unterdrücken.  

»Du hast sie auf dem Gewissen!« Morgan hielt sich den Arm und wendete sich angeekelt ab.  

Die wieder eingekehrte Ruhe lockte die neugierigen Nachbarn aus den Wohnungen.  

»Bist du jetzt zufrieden?«, schrie Will verzweifelt.  

»Mein Gott, Will. Hören Sie auf! Die Leute…« 

Will packte ihn am Kragen des zerschlissenen Hemdes und drückte ihn an die Wand.  

»Wir alle wussten es. Alle, außer Erik. Aber niemand hat etwas gesagt, weil du der verdammte Chief bist. Warum konntest du nicht deine Drecksfinger von ihr lassen? Erik hat dir vertraut. Und zum Dank hast du dich an seine Frau rangemacht, während er weg war. Schade, dass er dich nicht erwischt hat. Aber keine Bange, Kumpel. Ich sorge dafür, dass du das kriegst, was du verdienst.«  

Will rannte die Treppe herunter. Die Umstehenden starrten den Polizeichef entsetzt an.

Bei Eriks Leiche standen zwei alten Damen, die den Polizisten erkannten.  

»Ist das nicht der nette Officer, der uns neulich geholfen hat?«  

»Ja, du hast recht. Mein Gott, der arme Mann.«  

»Man erzählt sich, er hatte das zweite Gesicht gehabt.«  

»Einen sechsten Sinn?«  

»Ja, genau. Hannah Creek hat erzählt, dass er ihre Brosche gefunden hat, von der sie gedacht hatte, sie sei ihr gestohlen worden. Und das nur mit seinen hellseherischen Fähigkeiten!«   

»Ehrlich?«   

»Ja, meine Tante konnte das auch. Sie brauchte nur an etwas zu denken, und schon wusste sie, wo es war. Sie konnte auch die Gedanken anderer Menschen lesen. Aber nicht immer. Und sie sagte mir auch oft, dass man sehr vorsichtig mit dieser Gabe umgehen muss. Wenn man nicht die nötige Ruhe mitbringt, schleichen sich Fehler in die Visionen, und man erkennt dann manches nicht richtig.«  

»Weißt du Martha«, sagte die eine, sich bekreuzigend.  

»Ich kann das mit diesem sechsten Sinn nicht so recht glauben…«

***

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