Ohne eine Regung saß sie am Fenster und starrte ins Nichts. Es regnete. Das monotone Trommeln der Tropfen gegen die Scheibe ließ sie allmählich in einen Zustand träumerischer Lethargie gleiten, sodass die Welt um sie herum langsam verblasste. Der Kaffee in ihrer Hand war längst kalt, doch sie nahm es nicht wahr. Sie saß einfach da, eingehüllt in eine sanfte Starre, die sie wie ein unsichtbarer Schutz vor der Welt bewahrte. In dieser Ruhe durften ihre Gedanken treiben, losgelöst von Angst und Verpflichtung.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ein Schlüssel wurde ins Schloss der Wohnungstür gesteckt, drehte sich, und die Tür öffnete sich mit ihrem vertrauten Knarren. Schritte hallten im Flur, verweilten kurz an der Garderobe, bewegten sich dann langsam auf das Zimmer zu. Schließlich erschien ein junger Mann im Türrahmen, zögerte kurz und trat dann, sichtlich angespannt und schwer atmend, näher. Regentropfen mischten sich mit Schweißperlen auf seiner Stirn. Zögerlich setzte er sich ihr gegenüber auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Zimmers.
»Hast du dich entschieden?«, fragte er stockend.
Sie hatte ihren Blick nicht vom Fenster abgewandt. Sekunden der Stille verstrichen, während die Tasse in ihrer Hand leicht zu zittern begann.
»Ja«, erwiderte sie leise. »Ich habe mich entschieden.«
Sie stand auf und bemerkte nicht, dass etwas Kaffee über den Rand ihrer Tasse schwappte. »Ich werde es nicht tun!«
Der junge Mann erhob sich, und beinahe wie in einer choreografierten Bewegung tauschten sie ihre Plätze. Er ging zum Fenster, sie zum leeren Stuhl. Er blickte hinaus in den Regen, sagte jedoch nichts. Die Tropfen liefen wie silberne Fäden über die Scheibe, während er nach Worten suchte.
»Warum nicht?«, fragte er schließlich. »Kannst du mir wenigstens einen Grund nennen, den ich verstehen kann?«
»Ich will es einfach nicht!«, rief sie aufgebracht und stellte ihre Tasse so heftig auf den Tisch, dass ein Schwall Kaffee über den Rand schwappte. »Ich will es nicht«, wiederholte sie leiser, resigniert und ohne Erwartung, dass er es verstehen würde.
»Aber… Es hängt so viel davon ab. Sie erwarten es.«
»Ach, sie erwarten es also.« Ihr Ton war bitter, und sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Der Einzige, der Erwartungen an mich stellen darf, bin ich selbst. Nicht du, und schon gar nicht die anderen. Es ist ein abgekartetes Spiel, und du weißt das genau.«
»Du verstehst es nicht«, erwiderte er eindringlich. »Du musst es tun. Es gibt keinen anderen Weg.«
Jetzt sahen sie sich direkt in die Augen. Ein Blick, der alles enthielt: Angst, Zweifel, und den Hauch eines Machtkampfs, dessen Ausgang ungewiss blieb. Als er einen Schritt auf sie zuging, sprang sie erschrocken auf und wich zurück.
»Bitte«, flüsterte sie hastig. »Gib mir noch etwas Zeit.«
»Wir haben keine Zeit.«
»Warum kann es niemand anders machen?«, fragte sie verzweifelt, ihre Stimme fast flehend.
»Du weißt, dass niemand außer dir das Geheimnis kennt.«
»Aber auf diese Art haben wir es noch nie versucht.«
»Wir beide wissen, welche Macht du hast.«
»Dann lass mir eine Stunde. Nur diese eine Stunde …«
Er überlegte, quälende Sekunden lang, bis er schließlich zögerlich nickte. Sie sprang auf, eilte zu ihm und fiel in seine Arme.
»Danke. Ich danke dir …«, schluchzte sie und nahm seine Hände. »Ich will ein Bad nehmen, nur ein Bad. Bis in einer Stunde werde ich mich entschieden haben. Ich verspreche es dir.«
Er nickte abermals und versuchte, ein Lächeln zu erzwingen, dann ging sie ins Bad. Er schlurfte zum Fenster und setzte sich auf den Stuhl, den Kopf voll mit Gedanken, die ihn marterten. Die Zeit war knapp. Eine Stunde war das Maximum. Im Hintergrund hörte er Wasser in die Badewanne plätschern, er hörte die Frau, die leise vor sich hinsummend Handtücher und frische Wäsche zurechtlegte, und er hörte, wie sich die Tür zum Badezimmer schloss. Dann wurde es still, und das monotone Prasseln der Regentropfen trieb ihn sanft in die Welt der Tagträumereien.
*
Als er erneut auf die Uhr blickte, war bereits eine Stunde vergangen. Merkwürdig, dachte er. Ihm war es vorgekommen, als seien kaum zehn Minuten verstrichen. Er rieb sich die Augen, gähnte, und erst jetzt fiel ihm die junge Frau wieder ein.
In diesem Moment klingelte schrill das Telefon. Der Mann zuckte erschrocken zusammen, als habe ihn das Klingeln aus einem tiefen Traum gerissen. Zögernd griff er nach dem Hörer.
»Ja?« Seine Stimme klang rau, unsicher.
»Und?«, meldete sich eine neutrale, emotionslose Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ah, Professor. Ja, ich denke, sie macht es. Sie wollte erst nicht, aber sie nimmt gerade noch ein Bad.«
»Sie sind in der Wohnung?«
»Natürlich. Warum fragen Sie?«
Ein kurzes Schweigen, begleitet von leisem Tastengeklapper. »Ist sie noch da?«
Ein eisiges Gefühl kroch seine Wirbelsäule hinauf. »Wie meinen Sie das?«
»Gehen Sie ins Badezimmer und sehen Sie nach.«
»Warum? Was soll das bedeuten?«, stammelte er.
»TUN SIE ES EINFACH!!!«
»Ist ja gut…«
Träge stand er auf und schlurfte zum Bad, wo er sachte an die Tür klopfte.
»Alles ok bei Dir?«
Nichts. Keine Antwort. Er klopfte erneut, diesmal lauter. »Hey! Bist du eingeschlafen?«
Ein plötzlicher Schauer der Angst durchfuhr ihn, ließ ihn wild an der Tür rütteln und sich schließlich mit voller Wucht dagegen werfen. Schloss und Türrahmen splitterten. Atemlos sah er sich um.
Das Badezimmer war leer. Das Wasser in der Wanne lag spiegelglatt da. Handtücher lagen ordentlich gefaltet, unberührt an ihrem Platz. Nichts deutete darauf hin, dass jemand das Zimmer benutzt hatte.
Panisch stürzte er in die anderen Räume der Hotelsuite. Keine Spur von ihr. Die junge Frau war nicht mehr da.
Sie hatte es getan. Sie hatte diese Dimension verlassen. Hatte sich, ihr Bewusstsein und schließlich ihren Körper in eine andere Dimension katapultiert. Sie, die Grenzgängerin. Doch nicht vor laufender Kamera, damit alle es sehen konnten. Die Wissenschaftler, die sensationsgierigen Reporter und der Kerl am Telefon, der ihnen so viel Geld dafür bezahlt hatte.
Sie hatte Zeit und Raum überwunden. Wieder einmal. Nur etwas war anders. Etwas war falsch. Der junge Mann wusste nicht, was es war. Dann eilte er zum Telefon und riss den Hörer an sich.
»Sie ist weg«, keuchte er.
»Wer ist weg?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Sein Herz setzte aus.
»Was?«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Wen meinen Sie?«
Seine Kehle schnürte sich zu. »Sie! Die Grenzgängerin! Sie war hier! Sie hat das Experiment durchgeführt, sie ist …«
Ein leises Tippen auf der Tastatur.
»Tut mir leid. Ich habe keine Informationen darüber, dass irgendjemand bei Ihnen war. Und wie war ihr Name nochmal?«
»Nein… Nein, nein, nein!« Seine Hand zitterte so sehr, dass er den Hörer kaum noch halten konnte.
»Hören Sie«, setzte der Mann am anderen Ende der Leitung sachlich nach. »Wenn es ein Problem gibt, melden Sie es der Zentrale. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte – ich habe zu tun.«
Ein Klicken – die Leitung war tot.
Seine Hand sackte langsam nach unten.
Mit einem gehetzten Blick wandte er sich um. Er rannte ins Schlafzimmer, riss den Kleiderschrank auf – leer. Keine Kleidung, keine Schuhe, keine Spur von ihr. Er stürzte zur Kommode. Kein Schmuck, keine Zahnbürste, nicht einmal ein zerknittertes Blatt Papier. Auch das Bild der jungen Frau, das auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, fehlte.
Er drehte sich im Raum, sein Blick irrte umher, suchte verzweifelt nach etwas, das beweisen konnte, dass sie existiert hatte.
»Nein«, hauchte er.
Er stolperte zurück ins Wohnzimmer, riss die Schublade auf, in der sie ihre Notizen aufbewahrt hatte.
Leer.
Er kniff die Augen zusammen. Wie war ihr Name?
Er wusste es. Natürlich wusste er es. Aber das Wort formte sich nicht mehr in seinem Kopf.
Sein Atem stockte, Panik stieg in ihm auf. Er eilte zum Fenster, riss es auf, als könne die kalte Luft draußen seinen Verstand zurückholen. Der Regen prasselte monoton auf die Straße. Er wollte sich erinnern. Musste sich erinnern.
Aber die Konturen ihres Gesichts wurden vage, ihre Stimme ein entferntes Echo, das mit jedem Wimpernschlag leiser wurde. Er versuchte, ihre Geschichte zu rekonstruieren, um sie festzuhalten. Um sie, wie mit einem Meißel, in sein Gehirn zu schlagen.
Sie hatten sich bei einer Vorlesung kennengelernt. Everett, die Viele-Welten-Theorie. Faszinierend, absurd und irgendwie auch erschreckend. Damals hatte er es noch belächelt, bis sie ihm offenbart hatte, dass sie Dimensionen nicht nur sehen, sondern mit ihrem Geist tatsächlich besuchen konnte. Dass sie eine Grenzgängerin war, die die Barrieren zwischen den Realitäten mühelos überschreiten konnte. Anfangs hatte er es nicht geglaubt, doch sie hatte es ihm bewiesen – wieder und wieder.
Heute sollte sie es öffentlich tun, vor Wissenschaftlern, Kameras und Reportern. Doch sie hatte sich entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Sie hatte die Grenzen überschritten, hatte sich selbst in eine andere Dimension katapultiert – und alle Spuren ihrer Existenz aus dieser Realität gelöscht.
Seine Knie gaben nach. Er sackte auf den Stuhl am Fenster, rang nach Atem. Sie war die erste Grenzgängerin zwischen den Welten und hatte sich selbst aus der Welt radiert. War hinübergegangen in eine andere Dimension und hatte sich aus dieser Realität gelöscht.
Sie hatte es allein getan. Ohne die neugierigen Augen der Wissenschaftler, Reporter oder Kameras. Er selbst hatte sie ja auch dazu gedrängt, obwohl er sich in sie verliebt hatte. Er gab sich Schuld und es fühlte sich schrecklich an. Er hatte sich noch nie so allein gefühlt. Dann starrte er zum Fenster.
Draußen tropfte der Regen. Gleichmäßig, ruhig, gleichgültig.
Und plötzlich fragte er sich, was er hier eigentlich machte. Allein in diesem Hotel. Er fragte sich, wie man auf die hirnrissige Idee kommen konnte, ganz alleine in dieser Stadt während eines verregneten Novembers Urlaub zu machen. Aber vielleicht war die Auszeit gar nicht schlecht. Am Montag gingen die Vorlesungen an der Uni wieder los.
Er griff nach einem Lehrbuch über Quantenphysik, das auf dem Couchtisch lag und beschloss, sich in ein Café zu setzen.
Vielleicht würde er ja dort jemandem begegnen. Und wenn nicht, war es auch in Ordnung.
***