Die letzte Umarmung

René Faller saß in seinem Lieblingssessel und rauchte.
Die Vorhänge an den Fenstern hatte er halb zugezogen. Es war längst dunkel geworden, aber René machte keine Anstalten, das Licht anzuschalten. Lediglich ein fahler Lichtschein einer nahen Straßenlaterne, die an über die Straße gespannten Drähten baumelte, flutete in das Zimmer. Die Pflanzen auf dem Fensterbrett warfen unheimliche Schatten auf den Teppich.
René suchte mit müden Blicken den Tisch ab, fand den Schatten des Aschenbechers und drückte die Zigarette darin aus. Tastend suchte er nach dem Cognacschwenker, nahm ihn und stieß versehentlich an die Flasche, die er sich vor zwei Stunden am Bahnhof besorgt hatte. Das Klirren erschreckte ihn. Es rief Erinnerungen wach. Er hörte Gläserklirren, das schwache Gemurmel einer Menschenmenge, und dann wurde es wieder still in ihm.
Kein Laut im Zimmer, keine Schritte im Treppenhaus. Weit draußen in der Stadt jaulte eine Sirene. René trank aus, und während er seine Augen schloss, hörte er wieder Gläser klirren, das Klatschen der Menge, das schließlich einer Stimme wich. Einer machtvollen Stimme…
»Wollen Sie, René Cornelius Faller, die hier anwesende…«
René hustete schwach.
»… zu Ihrer angetrauten Ehefrau nehmen?«
René hörte wieder ganz deutlich die Gläser, das Klatschen einer feiernden Menge und das Prasseln von Reiskörnern auf dem Parkettboden.
»Ja…« flüsterte René und lächelte.
»Wirklich! Und hast du dir das auch gut überlegt?«
Eine ältere Frau im blauen Hauskittel war in Renés Gedankenwelt vor die Menge getreten, die sich langsam entfernte und im Dunkel seines Unterbewusstseins verschwand. Um die Frau formte sich das Bild einer Küche mit einem Tisch, einem Stuhl, einem Schrank…
»Mutter?« wisperte René und kniff die geschlossenen Lider zusammen, bevor er wieder in die lichte Innenwelt seiner Erinnerungen abglitt. Die Frau streckte ihre Arme nach ihm aus…
»Dann bleibt mir nichts weiter, als dir zu gratulieren. Wann stellst du sie mir vor?«
»Was…?« flüsterte René und erschrak!
»Ich habe gefragt, wie du dir das vorstellst?« brüllte der grobschlächtige Mann im blauen Arbeitsanzug, der jetzt, wo Mutters Gedankenbild verschwunden war, am Küchentisch hockte und ein kleines graues Heft auf den Tisch schlug.
»Du bist und bleibst ein Taugenichts, René!«
»Vater, nein… nicht«, flüsterte René in die Stille und fühlte sich, als sei er just in diesem Moment nicht älter als zwölf. Er war in die Vergangenheit zurückgekehrt. Doch das Bild seines wütenden Vaters schien in René jetzt plötzlich nicht mehr dasselbe Angstgefühl von damals hervorzurufen. Dieses entsetzliche Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, das ihn seine ganze Jugend hindurch begleitet hatte. Zu lange hatte er die Demütigungen ertragen müssen…
»Wie du mit dieser Lebenseinstellung es zu etwas bringen willst, ist mir schleierhaft. Aber mit dieser Iris, der Tochter von diesem asozialen Penner Wissmann, kannst du dich jeden Tag rumtreiben! Ab jetzt wirst du nicht eher das Haus verlassen, bis du in Mathe auf eine Zwei gekommen bist! Und wenn ich dich noch einmal mit dieser Iris sehe, dann Gnade dir Gott!«
»Iris?« flüsterte er und plötzlich schien sie ganz nah zu sein…
»Ja! Erkennst du mich denn nicht mehr?«
Der Küchentisch mit dem Mann im Arbeitsanzug war verschwunden. Ein junges Mädchen mit blonden langen Haaren und Sommersprossen lächelte René an. Seine Gedanken formten eine Umgebung, in der René dem blonden Mädchen gegenüberstand. Er erinnerte sich dunkel an das erste Wiedersehen mit ihr…
»Doch natürlich erkenne ich dich. Seit wann bist du wieder in der Stadt?«
»Seit zwei Tagen. Ich habe gehört, du hast das Abi mit Auszeichnung geschafft?« sagte sie und lächelte wieder auf ihre ganz eigentümliche Art und Weise.
»Ja. Mein Vater hätte mich auch sonst umgebracht…«
»So? Mir hat meine Mutter erzählt, dass du dich des Öfteren nach mir erkundigt hast.«
René lächelte verlegen. Dann ging er mit Iris in Gedanken noch einmal in die Eisdiele, wo sie sich früher immer getroffen hatten. Dort erzählte sie ihm wieder von dem Kinderheim, in dem sie arbeiten würde. René sprach von seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften, zu dem sein Vater ihn gedrängt hatte. Und wieder sehnte er sich nach einem ganz normalen Job, einer Frau, Kindern… einer eigenen kleinen Familie. Er verliebte sich abermals in die großen blauen Augen des Mädchens, dessen Bild nun langsam verblasste.
René tastete nach den Zigaretten auf dem Tisch. Seine Finger glitten über das Messer. Das Blut an der Klinge war bereits angetrocknet, als wiederum eine innere Stimme von ihm Besitz ergriff…
»René!«
»Stefan?«
René zuckte zusammen. Ein junger Mann mit Baseballmütze grinste ihn an. Plötzlich war es, als wäre René wieder auf dem Campus. Als schlendere er mit einem Packen Büchern unter dem Arm durch die langen Gänge der Universität, wo ein grinsender Junge um ihn herumsprang…
»Sag mal, Faller. Stimmt es, dass du dich mit der kleinen Rothaarigen verabredet hast?«
»Mit wem?«
»Mit dieser kleinen… Du weißt schon. Die mit dem französischen Namen.«
»Du meinst Michelle. Ich habe mich nicht mit ihr verabredet. Sie will nur ein paar Nachhilfestunden. Weiter nichts.«
»Nachhilfe, wie?« Stefan grinste frech und lief rückwärts vor René her.
»Stefan, ich bin so gut wie verlobt!«
»Iris ist hundert Kilometer weg, René.«
»Ein Grund mehr, cool zu bleiben, Kumpel!«
»Hör zu, Faller. Eddie Konrad hat gesagt, sie wäre eine von der ganz scharfen Sorte. Und besonders wählerisch scheint sie auch nicht zu sein. Hauptsache der Typ hat eine ordentliche Karriere vor sich.«
»Da hat sie sich aber den Richtigen ausgesucht. In den Semesterferien werde ich mit meinem Vater sprechen. Ich schmeiß das Studium…«
»Was tust du?«
Das Mädchen mit der dunkelroten Löwenmähne und dem weiten Renegade-T-Shirt lachte laut auf. Seltsam, dachte René. Er hatte völlig vergessen, dass sie einmal T-Shirts und enge Jeans getragen hatte. Und dass sie Komplimente machen konnte… wunderschöne Komplimente.
»Dein Studium schmeißen? Ein Mann mit deinen Talenten? Du hättest eine große Laufbahn im Bankwesen vor dir.«
»Nein, Michelle. Bestimmt nicht«, sagte René und wurde rot.
»Aber… Als wir gerade die Aufgaben durchgearbeitet haben, da…« Michelle feuchtete ihre Lippen an und suchte noch nach Worten. »Noch keiner hat mir das so gut erklärt wie du. Du kannst gut mit Menschen umgehen!«
»Na ja. Ich… weiß nicht so recht. Ich habe ein Mädchen zu Hause. Wir wollen heiraten. Noch dieses Jahr werde ich die Uni schmeißen. Mir hängt das alles so zum Hals heraus.«
»Das ist schade. Ich werde einen guten Lehrer verlieren…«
Ja… Michelle war einmal ganz anders gewesen. Obwohl sie schon damals ganz genau wusste, was sie wollte. Darin war sie ihm ein gutes Stück voraus. René wusste, dass er glücklich sein wollte, aber woher hatte er wissen sollen, wie man glücklich ist, wenn er nicht einmal wusste, was er zum Glücklichsein brauchte.
René tastete immer noch nach den Zigaretten. Wieder glitten seine Finger über das Messer, dann über den Revolver, der gleich daneben lag, dessen kalter Stahl ihn für einen Moment erschaudern ließ. René horchte auf. Irgendwo in den Straßen hatte ein Reifen gequietscht, doch nur eine Schrecksekunde lang. Schließlich grub er sich eine weitere Zigarette aus dem zerknüllten Paket und steckte sie an…
René schluckte. Die Bilder in seinem Innern wurden in eine unheimliche Schwärze gesogen, so wie er den Rauch tief in seine Lungen sog. Dann sah er das gealterte, von Falten zerfurchte Gesicht und den jähzornigen Blick seines Vaters…
»Ich muss dir etwas sagen, Vater.«
»So, so. Heiraten willst du also? Deine Mutter hat es mir schon erzählt. Sie freut sich, als wäre es ihre eigene verdammte Hochzeit. Na ja. Du musst wissen, was du tust, René. Wie heißt das Mädchen?«
»Michelle! Michelle Dornstein, Vater. Ich werde selbstverständlich erst mein Studium beenden, bevor…«
…bevor ich sie heirate. Ich tue alles, was ihr wollt, aber lasst mir dieses wundervolle Geschöpf. Nur diesen einen Wunsch habe ich im Leben. Ich weiß jetzt, was ich zum Glücklichsein brauche. Es ist Michelle, Michelle und tausendmal Michelle. René dachte bei sich, dass es zum damaligen Zeitpunkt auch noch etwas anderes gegeben hatte, das ihn in Michelles Arme trieb. Sein Vater selbst. Im Vergleich war es einfach gewesen, ihn von seinen Heiratsabsichten in Kenntnis zu setzen. Aber ihm zu sagen, dass das Studium der schlimmste Klotz an seinem Bein war und er lieber einen normalen, sinnvollen Beruf erlernen, eine Familie gründen wollte, hätte René niemals über seine Lippen gebracht. Vater wollte ihn nicht in einem Arbeitsanzug sehen. Er wollte seinen Sohn als einen nach Geld stinkenden Krawattenträger sehen, auch wenn es für René ein Faktum war, dass sein Vater es niemals hätte ertragen können, dass sein idiotischer Sohn etwas Besseres war als er. Und dann dachte er, dass es leichter gewesen war, ein Mädchen zu heiraten, von deren Geschichte Vater nichts wusste, als die Tochter eines arbeitslosen Alkoholikers. Mit Michelle würde er sich seinen Traum genauso gut erfüllen können… Sie würden eine richtige Familie sein.
»Vergib mir, Iris«, flüsterte René leise. Und plötzlich sah er sie. Iris, und die Erinnerung an einen Nachmittag, den René nie vergessen hatte. Wie oft hatte er sich diesen Moment zurückgewünscht. Hätte er doch nur einmal zu diesem Nachmittag zurückkehren können… Er würde Iris in den Arm nehmen und sie um Verzeihung bitten.
»Es geht nicht darum, ob ich dir verzeihe oder nicht, René. Du bist mit ihr ins Bett gegangen. Okay, es ist nun mal passiert…«
»Iris, bitte.«
»…verdammt, das ist doch kein Grund, unsere Pläne über den Haufen zu werfen. Mein Gott, ich liebe dich, René!«
»Nein. Iris, hör auf…«
»Und dann dieser plötzliche Sinneswandel, von wegen, du möchtest ins Bankgeschäft einsteigen. Siehst du denn nicht, dass diese kleine Schlampe dir den Kopf total verdreht hat. Alles, was für uns einmal wichtig war, lässt du so mir nichts, dir nichts fallen!«
»Hör auf. Es ist nicht so, wie du denkst. Und sprich nie wieder so über Michelle, sonst…«
»…bringe ich dich um«, flüsterte René in die Stille der Nacht. Der Kloß in seinem Hals war in seine Magengrube gerutscht. Dort lag er schwer und unverdaut. René fühlte sich hundeelend.
»Kinder?« hörte er wieder eine Stimme in seinem Innern rufen. Eine Stimme, die langsam näher zu kommen schien. René lächelte, nicht ohne eine schmerzliche Ironie in seinem Blick. Der Rauch in seinen Lungen begann ihn zu schmerzen. Dennoch weigerte er sich, die Zigarette auszumachen. Es war zu spät, um mit dem Rauchen aufzuhören…
»Ich will keine Kinder! Zum allerletzten Mal!«
»Ich verstehe das nicht, Michelle. Als wir uns kennenlernten, sagtest du, du willst erst unsere finanzielle Situation gesichert wissen. Jetzt, wo es soweit ist, sagst du immer noch nein!«
»Mein Gott, René. Ich habe keine Lust, mich Abend für Abend vor dir rechtfertigen zu müssen. Niemand hat mir vorzuschreiben, wann ich meine Kinder zu kriegen habe. Du denkst nur an dich, René. Um mich kümmerst du dich einen feuchten Dreck!« schrie sie und schlug mit der Faust gegen den Schlafzimmerschrank. René stürzte zu ihr und nahm sie in den Arm.
»Ist ja gut, Liebling. Wir machen es so, wie du willst. Ich will keinen Streit…«
»…auf keinen Fall will ich Streit«, flüsterte er, als es plötzlich im Türschloss klackte. René schreckte auf und vergaß seine Gedanken. Instinktiv nahm er den Achtunddreißiger und spannte den Hahn. Den Stimmen nach, die im Flur miteinander flüsterten, waren es zwei. Jemand kicherte. Die Tür fiel ins Schloss. Im Flur ging das Licht an. René fing einige Wortfetzen auf…
»Komm jetzt!«
»Warte noch…«
»Komm her!«
»Warte! Lass uns auf den Fußboden im Wohnzimmer…«
René hatte Herzklopfen. So heftig, wie er es schon lang nicht mehr gehabt hatte. Die Ader in seinem Hals schien zu zerplatzen. Das Licht im Flur wurde wieder gelöscht, die Tür zum Wohnzimmer sprang auf und zwei Gestalten torkelten eng umschlungen in das Zimmer.
Kleidungsstücke fielen zu Boden. René zögerte. Doch dann…
»Hattest du einen schönen Abend, Michelle?« sagte er mit kratziger Stimme.
»Was? Wie… Wer ist da?«
Die Gestalten fuhren auseinander. Eine schaltete das Licht an.
»René!« Michelle zog sich erschrocken ihre Bluse über ihrer Brust zusammen und hielt sie mit einer Hand. Mit der anderen zog sie an dem Reißverschluss ihres Rockes und klemmte sich einen Fingernagel ein.
»Verdammt! René, was machst du hier? Ich denke, du bist…«
»Ja, Michelle, so kann es gehen. Draußen wird es dunkel, Frauen betrügen ihre Männer und Konferenzen werden abgesagt…«
»René, was soll der Revolver?«
»Oh!« René tat, als wäre er erstaunt. »Diesen hier meinst du?«
»Herr Faller, ich kann Ihnen alles…«
»Bleib stehen, Dreckskerl!« Der Fremde, zuerst einen Schritt auf den Ehemann zugehend, war zur Säule erstarrt, als René ihm seine Hand mit dem Revolver entgegenstreckte. »Pack deine Sachen und scher dich aus meiner Wohnung, bevor ich dich abknalle!«
Der Fremde zögerte.
»RAUS!« brüllte René.
Jetzt schien der andere zu verstehen. Eilends hob er seine Schuhe und das Jackett auf und verschwand im Flur. Die Wohnungstür schlug zu. In jenem Moment, in dem der andere fort war und René den Revolver sinken ließ, schien Michelle zum ersten Mal seit langem wieder so etwas wie Achtung oder Respekt vor ihrem Mann zu spüren. Aber vielleicht war es nur die Angst, die jetzt von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie stand wie angewurzelt da und starrte in das eingefallene Gesicht eines Mannes, den sie vielleicht sogar einmal geliebt hatte, auch wenn dies schon vor einer Ewigkeit gewesen sein musste. Ein Mann, der jetzt außer Kontrolle zu sein schien. Sie zitterte. Zitterte um ihr nacktes Leben…
»Mach das Licht aus, Michelle.«
»Warum? Was hast du vor?«
»Ich sagte, du sollst das Licht ausmachen.«
»Ich habe Angst, René.«
»Bitte… Ich bitte dich, Michelle. Mach doch einmal das, was ich dir sage. Nur ein einziges Mal!!!« schrie er und schlug den Revolver auf den Tisch. Ein Stück der Fliesentäfelung des Tisches spritzte heraus und hinterließ eine hässliche rotbraune Narbe. Michelle zuckte zusammen. Zögernd ging sie zur Tür und knipste das Licht aus.
»Bleib stehen, Michelle«, sagte er und sie gehorchte, zum ersten Mal seit langem ohne Widerspruch. René legte seine linke Hand, die er bis dahin geschickt hinter der Sessellehne verborgen gehalten hatte, in seinen Schoß. Mit der Rechten löste er den Druckverband an seinem Handgelenk. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Dann ließ er den blutgetränkten Verband auf den Boden fallen.
Er erhob sich langsam, wankte, aber fand sein Gleichgewicht wieder. Der Druckverband hatte den Blutfluss stark verringert, aber nicht ganz aufhalten können. Mit schleifenden Schritten ging er auf Michelle zu.
»Wie hast du nur denken können, dass ich dir etwas tun will, Michelle.«
Warmes Blut strömte in einem Sturzbach über sein Handgelenk, rann durch seine Finger, an seinem Hosenbein entlang und bildete eine unsichtbare Spur in der Dunkelheit.
»Ich liebe dich doch, Michelle. Hast du das denn immer noch nicht begriffen? Ich bin dir auch nicht böse, Michelle. Ich habe dir doch immer verziehen…«
»René, was redest du?«
»Schon gut, Michelle. Du brauchst nichts mehr zu verheimlichen. Ich weiß alles. Ich wusste von deiner Affäre mit Eddie Konrad während des Klassentreffens und all den anderen, mit denen du ins Bett gegangen bist. Sogar von diesem jungen Maler, dem du immer Geld zugesteckt hast. Jedes Mal, wenn ihr euch getroffen habt… Du konntest nicht anders. Ich kann das verstehen.«
»Mein Gott, René. Du… Du hast das alles gewusst?« René legte die Arme um sie und drückte sie so fest er noch konnte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Sag jetzt nichts mehr, Michelle. Ich will dich jetzt nur noch im Arm halten.«
»Oh Gott, René, ich schäme mich so…«
»Das brauchst du nicht. Ich hätte doch jederzeit etwas sagen können. Aber ich hatte immer solche Angst, dass du mich dann verlässt. Ich meine… Ich liebe dich, wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe. Vor zwei Stunden noch wollte ich dich umbringen… vor einer Stunde wollte ich dich verlassen. Ich kann weder das eine noch das andere. Jetzt will ich dich nur noch einmal in den Arm nehmen.«
»René, ich verspreche dir, dass ich nie wieder so etwas tun werde. Ich habe immer gedacht, es interessiert dich gar nicht, was ich tue. Ich meine… Ich konnte doch nicht wissen, dass… René. Du hast ja ganz feuchte Hände.«
»Nur die Aufregung, mein Schatz. Es ist nur die Aufregung…«, sagte er und wollte nichts sehnlicher, als ihren Lügen ein letztes Mal Glauben schenken. Nur noch ein letztes Mal.
»Du wirst sehen, jetzt wird alles wieder gut«, sagte sie. »Wir können Kinder haben und eine richtige Familie…«
Und er glaubte ihr…, so wie er es immer getan hatte. Er hörte ihr aufmerksam zu und glaubte ihr, dass sie das, was sie sagte, ernst meinte. Jetzt ernst meinte… Morgen würde sie es vergessen haben, aber das war nicht mehr wichtig. Er träumte den Traum eines Augenblicks, so wie er es immer getan hatte… Beide standen noch eine Weile so da, und sie versprach ihm all die Dinge, die er sich so sehr wünschte. Er drückte sie noch einmal ganz fest, bevor er in ihren Armen einschlief, ihren süßen Lügen lauschend, mit dem Wissen, dass es ein Morgen nicht mehr geben würde.


Lesezeit wird berechnet…
Szenen wird erstellt…