Christoph Bühler beobachtete wie hypnotisiert die schlingernde Grenze zwischen Schotterbett und Gras, durch die mit fettigen Fingerspuren verschmutzte Glasscheibe des Bummelzuges. Und während der Zug in Richtung Heimat zu kriechen schien, krochen Gedankenfetzen in seinem Kopf, formierten sich zu Ketten und verblassten schließlich wieder. Er schreckte das erste Mal auf, als der schrullige alte Mann das Abteil betrat, das Christoph bis dahin ganz für sich allein gehabt hatte. Der Alte ließ sich ohne Umschweife auf dem gegenüberliegenden Sitzplatz nieder und schaute neugierig zu Christoph. Dieser setzte sich gerade hin und faltete seine Hände im Schoß. Er kam sich ein wenig ertappt vor, weil er plötzlich meinte, sich allzu leger auf den Sitz gelümmelt zu haben. Vermutlich würde er sich jetzt mit diesem alten Kauz unterhalten müssen oder der würde ihn die ganze Zeit anstarren, wie einen Affen im Zoo.
Dabei konnte Christoph erst selbst kaum den Blick von dem Alten lassen. Ja, zwingen musste er sich, nicht immer wieder in die von Falten zerfurchte Gesichtshaut dieses Fossils zu blicken. Ein merkwürdiger Kauz war das. Es mochte vielleicht auch ein Stück weit an dem Geruch liegen, der sich seit der Anwesenheit des Alten im Abteil breit machte. Es roch nach Mottenkugeln oder Moder. Christoph meinte, diesen Geruch aus dem Keller seiner Großeltern zu kennen, konnte sich aber nicht genau erinnern. Sei‘s drum. Der Alte störte ihn beim Sinnieren und seine mufflige Aura machte jegliches Abschalten unmöglich. Vielleicht würde er sich ja mit der Zeit daran gewöhnen… Es irgendwann nicht mehr riechen, so wie man abgestandenen Zigarettenrauch nicht riecht, wenn man selbst ein starker Raucher ist.
»Stört es Sie, wenn ich mir eine Zigarre anstecke?«, fragte der Alte, als hätte er Christophs Gedankengänge erraten. Christoph reagierte mit einem es-tut-mir-wirklich-schrecklich-Leid-Blick auf das Nichtraucherzeichen an der Schiebetüre des Abteils.
Der Alte kramte eine dicke Brille aus der Tasche und setzte sie sich auf die Nase. Sekundenlang stierte er auf die mit einem roten Querbalken durchstrichene Zigarette, bevor er beleidigt sein Rauchwerk in einem ledernen Etui und dieses in seiner Manteltasche verschwinden ließ.
»Zu Hause durfte ich auch nie rauchen. Helene hat‘s mir immer verboten. Und wehe sie hat mich erwischt, wenn ich‘s doch heimlich getan hab. Dann war der Teufel los… Das kann ich Ihnen sagen… Weiber!«
Christoph versuchte ein müdes Lächeln aus seiner Trägheit zu zaubern, während der Alte ihm eine makellose Zahnreihe vergilbter Dritter präsentierte, als wolle er dafür Werbung machen. Dann presste er im Wechsel seine rissigen Lippen wieder aufeinander.
»Helene… Das war schon eine. Die konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen«, brabbelte er und ließ den Kopf sinken. Christoph nahm diese Geste als willkommenen Anlass und schaute wieder aus dem Fenster.
Und trotzdem vermisst du sie, du alter Sack…, dachte er und hatte im selben Moment Mitleid mit diesem senilen Schwachkopf. Plötzlich kam ihm Wiebke in den Sinn und er dachte daran, was er wohl machen würde, wenn es sie auf einmal nicht mehr in seinem Leben gäbe. Irgendwie würde es schon weitergehen… zwangsläufig, dachte er und bekam dennoch eine Gänsehaut, bei dem Gedanken, ihr könne jemals etwas zustoßen. Sie war einer der wenigen Lichtblicke in seinem Leben. Drei Jahre waren sie jetzt zusammen und er liebte sie immer noch, wie an dem Tag, als sie das erste Mal bei ihm auf der Couch übernachtet hatte. Er war die ganze Nacht wachgelegen und hatte sich vorgestellt, wie er aus seinem Bett aufstand und zu ihr ins Wohnzimmer ging. Erst Wochen später erzählte sie ihm, dass sie selbst in dieser Nacht kein Auge zugemacht hatte.
Es hatte lange gedauert, bis sich zwischen ihnen eine feste Beziehung entwickelt hatte. Beide waren gebrannte Kinder, was diesen Punkt betraf und mehr als vorsichtig, wenn es darum ging, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Doch dann hatte er sie zu sich nach Hause eingeladen und hatte für sie gekocht… vegetarisch, weil sie kein Fleisch anrührte. Er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen. Sie hatte keine fünf Minuten auf seinem Sofa gesessen, als sie ihn fragte, ob sie sich die Wolldecke nehmen könne, die immer griffbereit über der Lehne lag, weil er sich selbst gern zum Fernsehen darunter kuschelte, und plötzlich war es, als wäre das, was in seinen vier Wänden immer gefehlt hatte, auf einmal da…
Eine seltsame Vertrautheit, vor der er überhaupt keine Angst hatte. An diesem Abend hatte er ganze zwei Zigaretten geraucht. Nicht etwa, weil er wusste, dass sie selbst nicht rauchte und den Geruch auch nicht leiden konnte, sondern weil er kaum ein Bedürfnis danach verspürt hatte. Sie schienen die zwei unterschiedlichsten Menschen auf der ganzen Welt zu sein. Sie kam aus einem behüteten Elternhaus, er aus dem schlimmsten Viertel von Stuttgart. Er rauchte und genehmigte sich ab und an einen Schluck Whiskey. Sie rauchte nicht, trank nicht und lebte dazu auch streng vegetarisch. Und dennoch verliebten sie sich, blieben zusammen, schlossen Kompromisse, von denen keiner, am wenigsten sie selbst gedacht hatten, sie würden sie jemals ertragen können. Sie hatten das scheinbar Unmögliche geschafft und ihr Leben aufeinander eingestellt. Sie die ordnungsliebende, korrekte und nüchterne Wiebke, und er, der etwas chaotische Tollpatsch Christoph, der es, wenn er der Wahrheit ins Gesicht sah, nur mit ihrer Hilfe geschafft hatte, sein Medizinstudium zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Heute lebten sie in einer gemeinsamen Wohnung und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er ohne sie machen würde. Es war nicht leicht gewesen, besonders am Anfang, als sie beide gespürt hatten, dass sie sich mochten. Und als aus dem Mögen ein regelrechtes Verlangen wurde, bekamen sie beide vor den Konsequenzen Angst. Es hatte Wochen gedauert, bis er sie in den Arm nehmen konnte, ohne, dass sie bei der ersten Berührung zusammenzuckte. Bis sie sich den ersten Kuss zum Abschied gaben… Bis sie sich von selbst auf dem Sofa in seinen Arm legte… Und es hatte Monate gedauert, bis sie bereit waren, sich einander vollkommen hinzugeben. Und nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, dauerte es weitere Wochen bis es normal war, sich dem anderen gegenüber so zu öffnen. Sich gehen zu lassen… zuzulassen, dass der eine die Blöße des anderen mitbekam, die Scham und die Lust. Christoph erinnerte sich oft an den Abend, als Wiebke zum ersten Mal auf ihn zukam, ihre schlanken Arme um seinen Hals legte und ihm kaum hörbar ins Ohr flüsterte… Lass uns ins Schlafzimmer gehen… Nach einem vegetarischen Essen à la Christoph… Spaghetti Bolognese mit Sojagranulat anstelle des Hackfleischs. Sie war länger im Büro geblieben und Christoph hatte sie mit dem Essen und Kerzen auf dem Tisch überrascht. Er hatte einen Film aus der Videothek besorgt, von dem er wusste, dass er ihr gefiel. Einen Film, bei dem sie hin und weg sein und er auf dem Sofa einschlafen würde… Den sie jedoch an diesem Abend nicht mehr anschauten, sondern erst beim Frühstück am nächsten Morgen. Etwas, was es bei Wiebke früher nie gegeben hatte. Fernsehen zum Frühstück.
Morgen früh werden wir uns mal richtig Zeit nehmen um gemeinsam zu frühstücken, dachte Christoph und überlegte sich, ob er nachher noch in der Videothek vorbeifahren sollte, um einen Film oder auch zwei auszuleihen… Im Dreierpack waren sie günstiger, aber dann würde Wiebke wahrscheinlich die Augen verdrehen und ihn ein großes unersättliches Kind nennen. Ein Kind, das in seiner eigenen Welt lebte und das nie erwachsen werden würde. Und er würde einen blöden Witz dazu machen, einen treudoofen Blick aufsetzen und ihr insgeheim recht geben, weil es die Wahrheit war. Christoph lebte mit der Mentalität eines Kindes in manchen Tagen… fühlte sich ungerecht behandelt, wenn ihn jemand nicht beachtete… Sah Dinge, die er haben musste, weil sie so schön und bunt waren und schmollte, wenn er sie sich nicht leisten konnte. Dann schob er alles auf die verfluchte Klinik, in der er viel zu viel arbeitete, und für das was er leistete viel zu wenig Geld bekam. Schimpfte auf die Welt und ihr krankes System und dass das Leben einfach ungerecht denen gegenüber war, die es eigentlich besser verdient hätten, womit er natürlich keinen anderen meinte als sich selbst. Er war sich dessen bewusst und ihm war klar, dass er oft im Unrecht war, und dass Wiebke dies vor allem wusste. Aber sie akzeptierte es und liebte ihn so, wie er war. Nur das zählte… Sonst nichts.
Er konnte es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um ihr von dem Kolloquium und dem Professor zu erzählen, der ihn behandelt hatte, wie den letzten Dreck.
Der Zug hielt an einem unscheinbaren Nest namens Offerdingen. Kaum ein Mensch war auf dem Bahnsteig zu sehen. Die Minuten, die es dauerte, bis er sich wieder in Bewegung setzte, schienen sich in Stunden zu dehnen. Dann ertönte ein schriller Pfiff, und mit einem dumpfen Knallen schlugen die Türen der Waggons nacheinander zu.
»Müssen Sie noch weit fahren, junger Mann?«, fragte der Alte und Christophs schlimmste Befürchtung, nämlich dass dieser übelriechende Zeitgenosse einen unverbindlichen Smalltalk starten würde, schien wahr zu werden.
»Bis Stuttgart…«, antwortete er und schaute wieder demonstrativ zum Fenster hinaus, in der Hoffnung, der Alte würde die Geste verstehen.
»Da haben wir den selben Weg… Ich fahre meine Enkel besuchen!«
Die Ärmsten tun mir jetzt schon leid, dachte Christoph, zwang sich erneut zu einem Lächeln und nickte dem Alten zu.
»Ich fahr nach Hause…«, antwortete er, weil er nicht unhöflich sein wollte und fügte in Gedanken …zu Wiebke… hinzu. Weil sie der einzige Grund war, warum er die gemeinsame Wohnung sein Zuhause nennen konnte. Der Alte schien plötzlich kein weiteres Interesse an einer Unterhaltung zu haben, denn jetzt starrte er wieder unablässig auf den Linoleumboden, als sähe er in den Abdrücken der Schuhe etwas, was sonst niemand sehen konnte. Christoph selbst glitt wieder in die Lethargie seiner Gedanken, als steige er in ein warmes Bad. Er würde froh sein, wenn er nach Hause kam, wo Wiebke schon auf ihn warten würde. Ihm vermutlich um den Hals fallen und gratulieren würde… zur bestandenen Prüfung!
Das Kolloquium beschäftigte ihn und immer wieder hörte er Prof. Arldt fragen, ob er der Meinung sei, dass seine Doktorarbeit irgendeinen bleibenden Wert für die Menschheit habe. Christoph hatte versucht, so ruhig wie möglich zu bleiben und geantwortet, dass er die Beurteilung seiner Arbeit, an der er sich die letzten acht Monate so manch graues Haar eingefangen hatte, anderen überlassen wolle. Arldt war ein Mistkerl, der es als seine Aufgabe ansah, jeden, der sich promovieren lassen wollte, erst einmal jede Spur von Größenwahnsinn auszutreiben. Vermutlich gab es viele, die sich für einen zweiten Einstein oder für eine zweite Madame Currie hielten. Dennoch hatte Christoph es geschafft und nur das zählte. Der wahre Wert, der wahre bleibende Wert, war der, dass er es überhaupt soweit gebracht hatte. Noch ein kleines Weilchen, dann könnten ihn alle Arldts der Welt am Arsch lecken und sich ihr Schandmaul wund lästern. Er war jetzt ein Doktor der Medizin und wenn er sich nicht ganz so dumm anstellte, würde ihm keiner diesen Titel mehr wegnehmen.
Dank Wiebke…
Er hatte Wiebke während seiner AIP-Zeit im Kolbe-Institut für analytische Psychiatrie kennen gelernt. Sie war Krankenschwester und arbeitete in dem Team von Dr. Hermann, dem er zugeteilt worden war. Hermann war ein eingebildeter Idiot und das Schoßhündchen des Oberarztes. Alle wussten dies und alle lästerten hinter seinem Rücken über ihn und er bekam davon so viel mit, wie eine Tiefseemuräne vom Wetter in den Karpaten.
Christoph hatte einige sinnlose Diskussionen über die Behandlung von schweren Psychosen mit Hermann geführt, was seinen Eindruck bezüglich des Schoßhündchens bekräftigte, weil jeder zweite Satz Hermanns ein zitierter Satz von Oberarzt Wild war, von dem Hermann vermutlich nicht einmal verstand, was er bedeutete. Vermutlich war dies bei Arldt nicht anders gewesen, der Christophs Einschätzung nach, jedes Lehrbuch für Medizin auswendig herunterleiern konnte, von Medizin jedoch keine Ahnung hatte.
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit irgendeinen bleibenden Wert für die Menschheit hat???
Die ganze Zeit über spielte er immer wieder den mündlichen Teil seiner Prüfung durch. Die Vorstellung seiner Doktorarbeit, die den hochtrabenden Namen Neue therapeutische Aspekte der Behandlung von Verminderungen des Plasmavolumens und der extrazellulären Flüssigkeit trug. Blut und Wasser hatte er geschwitzt und fettige Fingerspuren auf der Glasauflage des Tageslichtprojektors hinterlassen, die man bei dem an die Wand geworfenen Bild wirklich sehr gut sehen konnte. Wie Wackelpudding hatten seine Hände gezittert und er hatte eine Zigarette geraucht, nach dem man ihn wieder in die Freiheit entlassen hatte. Die Erste seit acht Monaten, die er sich aber seiner Meinung nach jetzt redlich verdient hatte und die so gut wirkte, dass er zuerst einen Hustenanfall und dann Durchfall bekommen hatte.
Der Zug hielt in einem kleinen Kaff namens Schlurbach und Christoph wurde aus seinen Gedanken gerissen, mit einem Nachhallen der Frage im Kopf, die Professor „Klugscheißer“ Arldt ihm immer wieder stellen hörte…
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit irgendeinen bleibenden Wert für die Menschheit hat?
…dann sah Christoph zum ersten Mal den kleinen Jungen auf dem Bahnsteig stehen.
Er stand verloren auf dem Bahnsteig herum, und das auffallendste an ihm war seine Kleidung. Er trug kurze Seppelhosen und eine graumelierte Strickjacke. Seine Füße steckten in schweren Wanderschuhen. Seine Habseligkeiten hatte er in ein rotes Tuch zu einem Bündel zusammengebunden. In seiner Rechten hielt er einen Wanderstock, der ihm viel zu groß geraten war.
Er sah traurig aus… Nein.. eher ernst… fast mahnend. So als klage er mit einem einzigen Blick die Welt um sich herum eines furchtbaren Verbrechens an. Wie angeklebt haftete Christophs ganze Aufmerksamkeit an dem Jungen, und als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, trafen sich ihre Blicke für einen kurzen Moment. Für diesen kurzen Augenblick war es, als wäre eine seltsame Verbindung entstanden… eine sehr enge und intensive Verbindung. Ein Eindruck, der jedoch mit einem Schlage wieder weg war, als Christoph den Jungen aus den Augen verlor. Es war, als habe er die Traurigkeit des Jungen einen kurzen Moment in ihrem vollen Umfang spüren können und für den Bruchteil einer Sekunde kam es Christoph vor, als müsse er in einem Weinkrampf zusammenbrechen…
»Kinder!«, brach der alte Mann plötzlich hervor, als habe er en détail mitbekommen, was mit Christoph geschehen war. »Jetzt lungern sie schon allein auf den Bahnhöfen herum. Das sind komische Zeiten. Früher war das anders… Aber so etwas darf man ja heutzutage schon gar nicht mehr sagen!«
»Sie meinten den kleinen Jungen auf dem Bahnsteig… Sie haben ihn auch gesehen?!«
»Sicher… Ein Streuner! Bestimmt ein Zigeunerkind, dessen Eltern ihre Kinder statt in die Schule auf die Straße schicken, um harmlosen Leuten die Geldbörse aus der Tasche zu ziehen!«
»So wird es wohl sein…«, murmelte Christoph und formulierte einige Schimpfworte gedanklich hinzu, die er dem Alten telepathisch zugedachte.
»Wie meinen Sie?«
»Ich sagte… Das kann schon sein!!!«
»Bestimmt… Früher war das anders… Ganz anders…«, brabbelte der Alte und stierte wieder auf den Boden. Im weiteren Verlauf der Fahrt sprachen sie nichts mehr miteinander. Der alte Schwachkopf schien eingenickt zu sein und Christoph hatte sich langsam an seinen Geruch gewöhnt. Dieser Junge beschäftigte ihn… Christoph hätte zu gerne gewusst, was er so mutterseelenallein auf dem Bahnsteig machte. Vielleicht hat der Alte ja recht, dachte er, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Aus einem seltsamen unbestimmbaren Gefühl heraus wusste er, dass der Kleine kein Dieb war. Ein Ausreißer vielleicht… oder ein Kind auf der Suche nach seinen Eltern. Er konnte das Bild nicht von der Leinwand seiner Gedanken wischen, so intensiv war ihm der Blick des Jungen in Erinnerung geblieben.
Wiebke hatte sich immer Kinder gewünscht. Wenn sie jetzt da wäre und den Jungen gesehen hätte… – Und er wäre ihr mit hundertprozentiger Sicherheit aufgefallen – …würde sie jetzt von nichts anderem mehr reden. Sie würde Christoph in eine endlose Diskussion verwickeln. Ihn mit Fragen traktieren und ihm tausend Mal sagen, dass sie jetzt am liebsten zurückfahren und den Jungen holen und mit nach Hause nehmen würde.
Drei sind genau richtig! … hatte sie ihm einmal gesagt.. Drei Kinder! Und die kurz aufeinander… und Christoph hatte sich bis dahin nicht mal ein einziges vorstellen können.
Lass uns warten, bis ich den Doktortitel in der Tasche habe… hatte er gesagt, weil ihm der Gedanke an eine solche Verantwortung immer noch den Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Jetzt war er ein Doktor der Medizin, beziehungsweise hatte er seinen Teil dazu beigetragen, einer zu werden.
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit irgendeinen bleibenden Wert für die Menschheit hat?
Alles andere hing von ein paar Arschlöchern wie diesem Arldt ab, die ihre hochtrabende Unterschrift unter eine Urkunde setzten, die beglaubigte, dass Christoph jetzt ein Doktor med. war, der nicht mehr nötig hatte einem verdammten Prof. in den Hintern zu kriechen.
Der nächste Halt hieß Gundelfingen und Christoph beschloss, sich auf dem Bahnsteig ein belegtes Brötchen und eine Zeitung zu holen… So kam er für einige Momente von diesem alten übelriechenden Widerling weg und konnte sich gleichsam ein wenig die Füße vertreten. Ihm blieben ganze fünf Minuten, von denen er sich vornahm, sie auszunutzen. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen, obwohl der Ort selbst eher ein unscheinbares Fleckchen Erde zu sein schien.
Christoph rannte mit einem in Zellophanfolie eingewickelten Brötchen, der neusten Ausgabe des Stern unter seinem Arm und einem Stofftier für Wiebke zum Zug zurück. Eine Schildkröte aus braunem Stoff. Wiebke liebte Schildkröten. Warum hatte sie ihm nie so recht erklären können.
Christoph blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, denn ganz am Ende des Bahnsteiges stand der kleine Junge und hielt seinen überdimensionalen Spazierstock in der Hand. Trotz der Entfernung sah Christoph, dass ihn der Junge eindringend anstarrte, so als wolle er ihn mahnen. Christoph ließ vor Schreck das Brötchen fallen, als plötzlich ein Schaffner wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihn zum Einsteigen mahnte…
»Wollen Sie mitfahren oder nicht???«
»Ja… natürlich… sicher..«
»Dann darf ich Sie bitten, in den Zug zu steigen…«
Christoph stieg widerwillig ein und eilte in sein Abteil, wo er das Fenster herunterriss und seinen Kopf hinaus streckte. Der Zug verließ zischend den Bahnhof doch der kleine Junge war weg… Wie vom Erdboden verschwunden…
»Was haben Sie denn, Mann… Ist Ihnen nicht gut???«, fragte der Alte.
»Nein… Nein es ist nichts. Ich dachte nur gerade, ich hätte jemand gesehen… den ich kenne!«
»Ach so… Ja, das geht mir auch öfters so. Ich bin aber auch viel rumgekommen in den letzten vierundsiebzig Jahren.«
»Aha…«, sagte Christoph abwesend und begann zu zittern. Das konnte doch nicht sein. Der Junge musste mitgefahren sein. Andererseits hatte er ihn noch auf dem Bahnsteig stehen sehen, als sich der Zug längst in Bewegung gesetzt hatte. Konnte er irgendwie aufgesprungen sein???
Nein, dass schien Christoph zu absurd. Letztlich konnte er sich seine Begegnung von vorhin nur mit einer Sinnestäuschung erklären. Ja! Genau! Eine Sinnestäuschung… weiter nichts.
Der Geruch im Abteil war wieder stärker, aufdringlicher geworden. Es roch nach Moder oder Mottenkugeln… nur viel stärker, als vorhin. Diesen Eindruck hatte Christoph jedenfalls. Vielleicht hatte der Alte seinen Mantel für einen Moment abgelegt, um auf die Toilette zu gehen, oder etwas Ähnliches in dieser unappetitlichen Richtung.
Unablässig dachte Christoph darüber nach, was es wohl mit dieser seltsamen Begegnung auf sich haben könnte, die ihm jetzt einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.
Der Junge, sein seltsamer Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass er dort, wo er gestanden war, gar nicht hätte stehen dürfen, machten ihn fast wahnsinnig.
Du hattest eine Sinnestäuschung! Wiebke und ihr überdimensionaler Kinderwunsch. Und du hast eine Scheißangst davor, weil du immer noch denkst, dass du im Grunde deines Herzens ein Versager bist. Ja… Im tiefsten deines Innern weißt du, dass du dieser Verantwortung nicht standhalten kannst. Ohne Wiebkes Hilfe hättest du nicht einmal dieses beschissene Kolloquium hinter dich gebracht. Der Junge ist ganz eindeutig ein Abbild deiner Angst…, weil du jetzt einen Doktortitel hast und weil es jetzt zur Sache geht, was die lieben Kinderchen betrifft.
In Christoph machte sich die groteske Vorstellung von einem Chor alter stinkender Männer breit, vor denen der kleine Junge stand und mit seinem Wanderstock dirigierte, während die Alten Ihr Kinderlein kommet auf fürchterlich falsche Art und Weise sangen.
»Was haben Sie denn bloß???«, fragte der Alte und es hörte sich an, als habe dieser zum Sprechen sein Gebiss herausgenommen… Waff baban fiie benn bloff…???
Der alte Mann erschien Christoph blass, und seine Augen waren blutunterlaufen. Mit den Worten des Alten schlug ihm ein Schwall übelriechenden Gestanks ins Gesicht. Christoph musste sich setzen, weil ihm plötzlich ganz flau im Magen wurde. Etwas Seltsames geschah hier… Mit ihm… mit dem Alten… dem ganzen Zug, der jetzt förmlich zu rasen schien. Vielleicht war es auch Christophs Wahrnehmung, die ihm anfing üble Streiche zu spielen. Erst der Junge auf dem Bahnsteig und jetzt das. Christoph verglich es mit Musik, die man normalerweise nicht laut genug hören konnte, und die einem, bei starken Kopfschmerzen, schon bei humaner Lautstärke, den Schädel schier gar zum Platzen brachte. Jeder Sinneseindruck wurde zu einer unangenehmen Belästigung. Der Gestank wurde so unerträglich, dass Christoph das Abteil verließ…
Auf dem Gang wurde ihm auf einmal schwarz vor Augen. Er taumelte und hielt sich an einem der Haltegriffe, die seitlich an den Fenstern befestigt waren. Einen Moment sinnierte er darüber, ob er vielleicht etwas Schlechtes gegessen haben könnte. Dann fiel ihm auf, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Das Kolloquium, Professor Arldt… Der Vortrag.. Ich bin jetzt ein Doktor der Medizin und niemand wird mir diesen Titel wegnehmen… Verdammt noch mal!
Er war ein verfluchter Quacksalber und hatte keinen blassen Schimmer, was ihm fehlte. Christoph torkelte den Gang entlang, blickte auf und begann in sich hinein zu schreien, gleichsam bildete sich ein tischtennisballgroßer Kloß in seinem Hals, der jegliches Schreien heraus zu lassen, unmöglich machte. Der kleine Junge stand keine drei Meter weit von ihm weg und starrte ihn mit großen Augen an. Er hielt seinen Wanderstab wie ein Zepter in seiner Hand. Das Bündel lag zu seinen Füßen und… es bewegte sich.
Irgendetwas Lebendiges schien darin zu sein und der Kloß in Christophs Hals schwoll zu der Größe einer Bowlingkugel an. Dann sah Christoph den Kopf einer Schlange aus dem roten Tuch gleiten… Er erkannte eine Königskobra, über die er während seines Studiums einmal eine Abhandlung gelesen hatte, die sich um den Stab schlängelte und sich langsam daran empor schob. Eine gespaltene Zunge schnellte immer wieder zwischen den schmalen Lippen des Reptils hervor…
Christoph war unfähig sich zu bewegen, er starrte auf den Jungen wie ein erschrockenes Reh, das in die grellen näherkommenden Scheinwerfer eines Lkws starrt. Der Junge blickte eher gleichgültig auf die Schlange und als er seinen Kopf wieder hob, sah Christoph zwei dicke Tränen über die Wangen des Jungen laufen. Christoph zuckte zusammen, denn die Tränen waren rot wie Blut… Ein weiterer Schwall quoll aus den Augenwinkeln des Jungen.
»Wir werden gute Ärzte brauchen. Jetzt und auch in Zukunft!«, hörte er den Jungen mit einer Stimme sagen, die sich anhörte, als würde er die Worte rückwärts sprechen.
Die Kobra richtete sich breitköpfig auf und öffnete ihr riesiges Maul aus dem zwei lange spitze Zähne herausklappten… Sie zischte und es hörte sich an, wie das Zischen eines bremsenden Zuges. Christoph sah den Jungen und das groteske Bildnis des Äskulapstabes in seiner Hand, als die Schlange plötzlich nach vorn schnellte und ein Fetzen Fleisch aus der Wange des kleinen Jungen riss… In diesem Moment spürte Christoph einen harten Schlag auf seine Schulter der ihn laut aufschreien ließ…
»Meinen Sie, dass Ihre beschissene Doktorarbeit irgendeinen bleibenden Wert für die Menschheit hat!?!?«, hörte er eine kränkelnde Stimme hinter sich sagen und wieder stieg ihm dieser fürchterliche Gestank in die Nase. Christoph fuhr herum und blickte in das eingefallene Gesicht des Alten, der ihn lachend angaffte. Dann stellte er voller Entsetzen fest, dass der Alte kaum noch Zähne im Mund hatte.
»Wie… Was.?? Was haben Sie da gerade gesagt???«, stammelte Christoph.
»Ich habe gefragt, ob Sie hier Wurzeln schlagen wollen. Ich muss vorbei, weil ich mal muss…. Ha Ha Ha…!!!«
»Ja… Bitte gehen Sie… Nein.. Halt!! Da sehen Sie doch, der…«
Christoph drehte sich herum, um den Alten auf das Kind aufmerksam zu machen und erstarrte zur Salzsäule. Der Alte schob sich gemächlich humpelnd an Christoph vorbei und trottete zum Ende des Ganges. Der Junge… Er war weg… Wie vom Erdboden verschwunden. Jetzt hörte Christoph etwas mit einem leisen Klickern zu Boden fallen. Er suchte den Boden ab und sah einen Zahn, der dem Alten aus dem Mund gefallen war.
»Kinder…«, brummte der Alte und verschwand in der Zugtoilette. Christoph wandte sich ab und ging in das Abteil zurück. Der Gestank war noch schlimmer geworden, obwohl sein Verursacher das Abteil verlassen hatte. Christoph versuchte trotz der Schärfe, etwas von dem Geruch, der ihm fast den Magen umdrehte, zu definieren… Es roch nach faulem Fleisch und so, als habe jemand ein Bündel Haare verbrannt. Erneut zog er das Fenster hinunter. Die frische Luft tat gut, half aber nur mäßig gegen dieses Übelkeitsgefühl… Es wurde so schlimm, dass er sich nicht mal darüber wundern konnte, was ihm auf dem Gang widerfahren war… Es konnte sich nur um eine Halluzination handeln. Er wurde verrückt… Das war es, und er konnte sich nicht einmal Sorgen darum machen. Er hasste nur diesen alten Mann und dachte bei sich, dass er am liebsten aus dem Fenster springen würde.
Jetzt wird es ernst. Jetzt bist du Dr. med. Christoph Bühler. Jetzt wirst du Papa!
Über den Lautsprecher wurde der nächste Halt angekündigt und mit einem Mal überkam ihn ein Gefühl der Erleichterung. Plötzlich wurde klar, dass er aus dem Zug musste… Raus aus diesem Zug und dann schnellstens zu einem Arzt oder noch besser in ein Krankenhaus. Er wusste nicht, was hier mit ihm passierte… Was mit dem Alten passierte… Was mit dem ganzen verdammten Zug passierte. Aber er musste hier raus. Und zwar schnell.
Jetzt hörte er Schreie… Sie kamen aus dem Abteil nebenan… Markerschütternde Schreie. Er drehte sich um und sah den Alten, der doch gerade auf Kaisers Thron verschwunden war, auf seinem Sitz liegen. Sein Gesicht war eingedrückt, wie eine Blechdose, so als habe man ihm mit einem Vorschlaghammer den Schädel zertrümmert. Zwischen seinen Beinen rann eine stinkende braune Brühe auf den Boden. Seine Hände waren weiß wie Schnee…
»Nein… Neiiiiinnn… Ich will HIER RAUS!!!!!«, schrie Christoph und stürzte aus dem Abteil und den Gang hinunter. In den anderen Abteilen sah es nicht besser aus… eher schlimmer. Leichen von Männern, Frauen und Kindern lagen verstreut über die Sitze und den Boden wie ein weggeworfenes Kartenspiel. Die wiederholte Lautsprecherdurchsage ließ ihn weiterrennen… zur Tür in die Freiheit. Raus aus diesem Horror.
»Ich will hier raus…«, jammerte er immer und immer wieder und lief die Gänge hinunter von einem Waggon in den nächsten. Die Schreie wurden lauter… und er presste die Hände an seinen Kopf, von dem er meinte, dass er jeden Moment wie ein Luftballon zerplatzen würde.
Er blickte stur geradeaus und hatte zeitweise das Gefühl nicht von der Stelle zu kommen. Er vermied es, in die Abteile zu sehen, weil er wusste, dass das, was sich darin abspielte, sowieso nicht wahr sein konnte. Es konnte… es durfte nicht wahr sein…
So ist es also, wenn man verrückt wird, dachte die eine noch funktionierende Hälfte seines Gehirns. Wenn man den letzten Rest seines beschissenen Verstandes verliert. Wenn das innere Chaos mit der Realität Schlagball spielt… Jetzt ist es soweit!
Jetzt wirst du Papa!
…und trotz deines lausigen Dr. med‘s kannst du nichts dagegen machen…, weil du den Doktor in der Tasche aber nicht in deinem Kopf hast. Dort tobt ein Wirbelsturm der Stärke 8,9 und du kannst nur noch zusehen, wie dir langsam eine Sicherung nach der anderen rausknallt! Vielleicht gibt es noch eine Chance… Du darfst aber nicht in die Abteile sehen. Schau bloß nicht in die Abteile. Tu das besser nicht, dachte er, blieb stehen und blickte in das Abteil neben ihm.
Jetzt wusste er, warum er besser hätte bleiben lassen sollen. Natürlich hatte er es vorher schon gewusst. Aber da war dieser letzte Rest von Ungewissheit. Diese schwache Hoffnung, dass er vielleicht doch nicht verrückt würde… Doch jetzt war es klar. Weil er Dinge sah, die nicht sein konnten, die nicht sein durften, weil es mit dem von der Kante rutschen jetzt konkreter wurde. Jetzt passierte es! Jetzt wo sie da war und sich an seiner Hinrichtung aktiv beteiligte.
»Warum kommst du nicht herein zu mir, mein Schatz!!!!«, sagte Wiebke, die an einem Fenster Platz genommen hatte. In ihrem Schoß lag der kleine Junge, dem sie die Brust zu geben schien. Christoph schrie nicht… Er hätte in diesem Moment nicht einmal Piep sagen können. Er hatte Mühe damit, seine Beine unter Kontrolle zu halten, dass diese ihm nicht unter der Last seines ausgelaugten Körpers einfach wegsackten. Er verfiel wieder in die lethargische Starre, des Rehs, dass in die Scheinwerfer eines Lkws starrt, der jetzt mit satten 120 Stundenkilometern auf Christoph zuraste…
»Was sagst du zu unserem Sohn… Ich nenne ihn Christoph… nach seinem Vater!«
Jetzt ließ der Junge von Wiebkes Brust und drehte seinen Kopf in Christophs Richtung. Er sah ihn mit seinen großen traurigen Augen an. Sein Mund war blutverschmiert und erst jetzt konnte Christoph sehen, dass Wiebkes Brust abgefressen und schlaff an ihrem Körper hing…
»Ist er nicht süß… unser kleiner Nimmersatt?«
»Kinder!«, schrie der Alte Mann, der Wiebke direkt gegenüber Platz genommen und den Christoph bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Er zeigte mit einem schneeweißen Finger auf die beiden. »So was hätte es früher nicht gegeben!«
(Sowaff bätte eff füher nich bebeben!)
Christoph taumelte rückwärts. Von weit her hörte er die metallene Stimme, die irgendeinen Ort namens HUTSCHELBUTSCHEL ankündigte. Christoph starrte immer noch auf dieses absurde Schauspiel. Minuten oder Stunden später – Christoph sah sich außerstande irgendeine Zeitspanne abschätzen zu können – kam der Zug zum Stehen. Als er dies realisierte rannte er los…
Aus dem Abteil und aus dem Zug. Er rannte den Bahnsteig hinunter, durch die Schalterhalle des Bahnhofes in die Herrentoilette, wo er sich in eine der Kabinen einschloss und zitternd neben einer übelriechenden Kloschüssel in die Hocke sank. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er ließ sich von der tiefschwarzen Ohnmacht übermannen. Er war aus dem Zug… Jetzt konnte er in aller Ruhe ohnmächtig werden. Jetzt wollte er auch nichts anderes mehr… Er wollte nur noch einschlafen, um entweder das Zeitliche zu segnen oder um aus diesem Alptraum wieder aufwachen zu können.
Er würde den nächsten Zug nehmen oder noch besser ein Taxi… Ja! Lieber laufen, als sich noch einmal in einen Zug setzen, dachte er und begann fürchterlich zu frieren und kippte auf die Seite.
Als er erwachte, erschrak er zu Tode. Er hatte lebhaft geträumt, doch der Traum war durch sein Gedächtnis gerauscht wie ein Schnellzug durch einen Durchgangsbahnhof. Es roch ekelhaft und er benötigte einige Sekunden, um zu realisieren, wo er war. Sein Hosenboden fühlte sich nass und aufgeweicht an und als er versuchte aufzustehen, schlug er mit dem Kopf hart gegen die Kante des Spülkastens. Draußen pinkelte jemand und ließ einen Furz, so laut, dass Christoph zusammenzuckte. Unwillkürlich dachte er, dass es sich um irgendeinen alten schwachsinnigen Penner handeln musste, dem es scheißegal war, ob er alleine auf dem Klo war oder nicht. Dann fiel ihm der alte Mann ein und er begann wieder fürchterlich zu zittern. Was, wenn er jetzt die Türe dieser Scheißhauskabine öffnete und der Alte davor stand, stinkend und lachend und ohne Zähne. Oder was, wenn der kleine Junge mit seinem Wanderstock dastand und ihn so traurig und anklagend anstarrte…, wenn sich sein Kopf, in den einer riesigen Schlange verwandelte. Oder Wiebke nackt mit abgefressenen Brüsten, die ihm erzählen würde, wie sehr sie sich Kinder wünschte. Was, wenn sie alle wieder da wären, sobald er die Tür von diesem stinkenden Loch aufmachte… Was wäre wenn???
Christoph ließ sich wieder zurücksinken und fragte sich, woher der nasse Hosenboden kam, mit dem er es zu tun hatte. War die Kloschüssel undicht? Oder hatte jemand in seinem Suff sich daneben entleert. Oder hatte er sich vielleicht sogar selbst nass gemacht, wie ein kleiner ängstlicher Junge… Christoph unterdrückte einige Tränen, die darauf drängten hinausgelassen zu werden, weil er sich schämte. Er schämte sich dafür, wie ein Penner zwischen einer Kloschüssel und einer mit Schweinereien beschmierten Trennwand zu sitzen und zu wissen, dass dies ein Ort war, wo er wenigstens im Moment sicher war. Er war sicher, und das zählte jetzt…
Was passiert, wenn ich die Tür aufmache???
Andererseits würde er irgendwann die Tür aufmachen müssen. Irgendwann würde er sich der Welt und ihrer entsetzlichen Realität stellen müssen, auch wenn es darin von kleinen Kindern, Giftschlangen und alten fauligen Männern nur so wimmelte.
Wenn doch Wiebke da wäre… Die richtige, wirkliche Wiebke, die ihn vor allen Monstern dieser Welt beschützen würde, wie eine Mutter ihr Kind. Ja, im Grunde war doch er derjenige, der eine Mutter brauchte, unter deren Rock man sich verstecken konnte… Bitte Wiebke… Hilf mir… Lass mich bitte nicht alleine hier sitzen.
Draußen schlug eine Tür zu, die für einen Moment die Geräuschkulisse einer Bahnhofshalle in die Herrentoilette hereingelassen hatte. Er hatte keine Schreie gehört. Keine kreischenden Frauen und weinenden Kinder, die vor Monstern davonrannten. Es hörte sich alles normal an… So als wäre da draußen ein ganz normaler Bahnhof… Eine ganz normale Welt.. mit ganz normalen Menschen… Männer, Frauen… Kinder!
Er fasste sich ein Herz und beschloss aufzustehen. Wenigstens aufstehen, um nachzusehen, woher die Nässe an seinem Hosenboden kam… Nur nachsehen, nicht mehr und nicht weniger. Christoph stand auf.
Er stellte mit Erleichterung fest, dass er sich nicht vor Angst in die Hose gemacht hatte. Hinter der Kloschüssel hatte sich eine Lache gebildet. Vermutlich von einer undichten Stelle an einem der Rohre, die beim Betätigen der Klospülung einen Schwall an Wasser freigab.
Gott sei Dank…
Auch war der Fleck an seinem Hintern kleiner, als er ihn sich vorgestellt hatte.
Sehr gut…
Es würde nicht allzu lange dauern, bis er einigermaßen wieder trocken sein würde. Und selbst wenn, ein fleckiger Rand übrig bliebe, so wäre dies immer noch besser, als zu wissen, dass man sich in die Hose gemacht hatte, wie ein…
kleiner Junge!
Er rieb mit der flachen Hand über seinen Hintern in der Hoffnung, dass es den Trockenvorgang beschleunigen würde. Noch ein paar Minuten würde er warten und dann hinausgehen. Dann würde sich zeigen, ob dies ein ganz normaler Bahnhof war, oder wieder ein Tor, das zur Hölle führte, so wie dieser verdammte Zug. Christoph ließ die Bilder an seinem geistigen Auge vorbeiziehen, die schrecklichen Erinnerungen an die Fahrt… und an den kleinen Jungen, dessen trauriges Gesicht er jedoch im Moment nicht in seine Vorstellung zurückrufen konnte. Hatte er ein Grübchen am Kinn gehabt? Sommersprossen? Wie war noch einmal seine Haarfarbe? Wie war die Farbe des Bündels aus der die Schlange gekommen war? Christoph konnte sich nicht mehr daran erinnern, und fragte sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war… In diesem Moment drehte er ruckartig das Schloss der Türe auf und öffnete sie. Erst nur einen schmalen Spalt, durch den er wie ein gejagter Verbrecher linste, der nachsah, ob die Luft rein war.
Er trat in die Welt hinaus, und seine Beine zitterten bei jedem Schritt. Er hatte Schmerzen, die er unwillkürlich auf die unbequeme Lage zurückführte, in der er sich befunden hatte… Wie lange eigentlich? Er sah auf seine Armbanduhr und musste feststellen, dass sie um Viertel nach sechs stehen geblieben war. Eine Zeitspanne einzuschätzen machte ihm Schwierigkeiten. Es war nicht so schlimm… Auf jedem Bahnhof hatte es Uhren an jedem Gleis. Alles war ok… Draußen waren keine Monster und nur das zählte. Und ganz offensichtlich war es mit diesem psychotischen Schub vorüber… Kein kleiner Junge…
Wie sah er doch gleich aus??
…keine alten Männer und keine Horrorvisionen, die einen mit dem Gedanken spielen ließen, aus dem Fenster eines fahrenden Zuges zu springen. Alles war auf einmal nicht so schlimm, weil der Zug und seine Insassen weit weg waren… weit weg. Christoph verließ die Herrentoilette.
In der Schalterhalle des kleinen Bahnhofes herrschte reges Treiben. Menschen, die Koffer auf Rollen und Hunde an Leinen hinter sich herzogen. Pärchen, die Arm in Arm zum Ausgang schlenderten… Ein junger Mann, der einen überdimensionalen Rucksack geschultert hatte, und eine Ausrüstung mit sich trug, die auf eine wochenlange Tour schließen ließ. Eine Mutter schimpfte ihr Kind… Es weinte, vermutlich weil es kein Eis bekam.
Über einen kleinen Lautsprecher wurde irgendein Zug aus München angekündigt, der sich auf dem Weg nach Freiburg befand. Christoph lief los und schaute immer wieder die Menge ab, ob darin nicht ein kleiner Junge stand, der seltsame Gegenstände mit sich führte, an die Christoph sich im Moment nicht mehr erinnern konnte. Wie war er eigentlich hierher gekommen… Ach ja, der Zug… Irgendetwas war geschehen… Ihm war plötzlich schlecht geworden… Irgendetwas hatte nicht gestimmt… Er wusste, dass er fürchterliche Angst gehabt hatte.
Da war ein alter Mann gewesen… und Wiebke! War sie nicht auch da gewesen? Er wusste es nicht mehr… Er wusste nur, dass er das Gefühl hatte aus einem schrecklichen Alptraum erwacht zu sein und aus irgendeinem unerfindlichen Grund den Zug verlassen hatte. Und er wollte zu Wiebke… Wollte sich in ihre Arme werfen und weinen, weil sie die einzige war, bei der er das konnte. Nicht einmal, wenn er alleine war, konnte er weinen, vermutlich weil er sich vor sich selbst am meisten schämte. Aber vor Wiebke schämte er sich nicht und er brauchte sich auch vor ihr nicht zu schämen. Sie würde ihn ganz festhalten und mit ihm gemeinsam ausharren, bis die Tränen alle waren. Bis alles wieder gut war… Ich komme Wiebke. Ich weiß nicht warum ich hier bin, aber ich mache mich sofort auf den Weg zu dir… Ich hole mir jetzt eine neue Fahrkarte und…
Sie würde sich bestimmt schon Sorgen machen, weil er nicht mit dem vereinbarten Zug angekommen war. Christoph sah auf die Uhr und bekam einen Schreck. Er hätte vor über einer Stunde in Stuttgart sein sollen. Er musste sie anrufen! Jetzt gleich… Ihr Bescheid geben, dass alles in Ordnung war. Er tastete nach seiner Brieftasche… Jetzt erst realisierte er, dass er sein gesamtes Gepäck im Abteil vergessen hatte, ließ es aber gut sein, und beschloss sich nicht darüber aufzuregen. Er hatte seine Brieftasche, in der sich noch 270 Mark und sein Personalausweis befanden. Mehr brauchte er nicht, um nach Hause zu kommen. Der Rest war unwichtig… ersetzbar.
Christoph ging zu einer Telefonzelle am anderen Ende der Halle und schaute sich immer wieder um… Immer noch kein kleiner Junge, der einen komisch ansah. Kein grinsender alter Mann. Er steckte ein Fünfmarkstück in den Fernsprecher und wählte die Nummer ihrer Wohnung. Nach dem fünften Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter und es tat gut Wiebkes Stimme zu hören, die ihn bat Namen und Nummer zu hinterlassen. Er sprach eine kurze Nachricht auf das Band, nachdem er einige Male ihren Namen gerufen hatte. Sie war nicht zu Hause… Er hatte es gewusst, just in dem Moment, als sich der Anrufbeantworter eingeschaltet hatte. Sie war nicht der Typ, der es Klingeln ließ, um zu schauen, wer da am anderen Ende war. Vermutlich stand sie noch am Bahnhof und wartete. Machte sich Sorgen, um ihren kleinen Tollpatsch mit dem treudoofen Blick.
Er hängte auf und eilte zum nächsten Fahrkartenschalter. Er stellte sich an die kürzeste Schlange und begann plötzlich wieder zu zittern. Er hatte ein schlechtes Gewissen… hoffentlich würde Wiebke nicht böse auf ihn sein. Hoffentlich machte sie sich nicht allzu verrückt.
Aber sie war nicht der Typ, der sich verrückt machte… Er war es immer gewesen, der sich und andere verrückt machte. Er, Christoph Bühler, der frischgebackene Doktor, der zuweilen Züge verlässt, weil er Panikzustände bekommt, der zwei Stunden später auf einem Bahnhofsklo aufwacht und sich an kaum etwas erinnert, außer an seltsame Fragmente eines verblassenden Traumes. Und wieder war es, als müsse er jeden Moment in einem Weinkrampf zusammenbrechen.
»Wollen Sie hier Wurzeln schlagen!«, hörte er eine schrille Stimme sagen, und zuckte zusammen. Als er sich umdrehte, sah er in das Gesicht eines älteren Mannes in Anzug und Trenchcoat und einem Hut auf dem Kopf.
»Was??«, fragte Christoph verdattert und glaubte sich verhört zu haben. Irgendwie hatte es sich angehört wie…
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit einen bleibenden Wert für die Menschheit hat?
»Sie sind dran, junger Mann. Oder wollen Sie keine Karte?«
»Karte? Doch natürlich…«, Christoph eilte die fünf Schritte vor und wurde rot, weil ihn die junge Frau hinter der Glasscheibe genervt und verständnislos anstarrte.
»Wohin bitte?«, fragte sie und tippte mit einem Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage.
»Ich hätte gerne eine einfache Fahrt nach Stuttgart.«
»Tut mir leid… aber heute fahren leider keine Züge mehr. Der letzte war der 17.01 aus Freiburg.«
»Hmm… Fährt denn heute gar kein Zug mehr?«
»Nicht heute… Nicht nach Stuttgart. Sie haben es wohl nicht mitbekommen?«
»Was?«
»Es gab ein schlimmes Zugunglück. Der 17.01 ist verunglückt. Kurz vor Stuttgart. Es gab anscheinend über zweihundert Tote und was weiß ich wie viele Verletzte. Das schwerste Zugunglück der letzten zwanzig Jahre. Es kann einige Tage dauern, bis die Strecke wieder in Betrieb genommen werden kann. Mein Gott, was haben Sie denn? Sie sind ja ganz blass!«
»Verunglückt sagen Sie??«, murmelte Christoph und hielt sich am Rahmen des kleinen Kabuffs fest, weil ihn ein Schwindelschauer übermannte.
»Ja… Hören Sie, soll ich vielleicht einen Arzt…«
»Nein! Ich bin Arzt.. Ich… Ich.. Ich glaube… ich nehme besser ein Taxi… Mir ist nämlich gar nicht gut…«, murmelte er und torkelte zur nächsten Bank, auf die er sich niederließ.
Dort saß er etwa eine halbe Stunde und zitterte, weil die Erinnerungen plötzlich wieder da waren, wenngleich er sich erinnerte, wie an einen Film, den er vor Jahren einmal gesehen hatte. Er dachte an den kleinen Jungen… den alten Mann und all die Menschen, deren Schreie er gehört hatte. Der Geruch von verbrannten Haaren war ihm für einen Moment in die Nase gestiegen.
Die Bilder, die blitzlichtartig vor seinem geistigen Auge aufgetaucht waren, verblassten schnell und so sehr er sich auch anstrengte, die Erinnerungen entschwanden wieder so schnell wie sie ihm in den Sinn gekommen waren, als ihm die junge Frau am Schalter die Schreckensmeldung wie einen Baseballschläger um die Ohren geschlagen hatte. Doch so unmöglich es ihm erschien, sich an die letzten Minuten im Zug zu erinnern, so klar war ihm, dass er nur deshalb noch am Leben war, weil dieser Alptraum über ihn hereingebrochen war. Plötzlich schlug ein Gedanke seinen Kopf, wie eine Axt in einen Baumstamm… Wiebke!
Wiebke wusste nicht, dass er ausgestiegen war… Dass er sich in einem fürchterlich desolaten Zustand befand, aber noch am Leben war. Sie würde vor Sorge sicherlich die Wände hochgehen. Er musste zu ihr und zwar schnell…
Er erhob sich und eilte aus dem Bahnhof, vor dem einige Taxis standen. Nur einer der Taxifahrer, der letzte, den Christoph angesprochen hatte, willigte ein, ihn nach Stuttgart zu fahren für schlappe 170 Mark. Er ließ sich bis vor die Haustür bringen, wo er ausstieg und ins Haus rannte. Auf der Treppe kam ihm Wiebke entgegen und fiel ihm um den Hals. Sie drückte ihn, wie sie ihn noch nie gedrückt hatte und schluchzte seinen Namen… immer wieder mit einem kaum verständlichen Du lebst… Du lebst!!! Jetzt begann auch er zu weinen. Jetzt konnte er… durfte er… Jetzt war er zu Hause, bei ihr… bei Wiebke. Und plötzlich kam ihm der verrückte Gedanke, wie schön es wäre, Kinder mit ihr zu haben… am besten drei auf einmal. Sie saßen noch eine ganze Weile auf der Treppe, bevor er sie nach oben trug.
Zweimal begegnete Christoph dem kleinen Jungen seither noch einmal. Einmal nachts… Da sah er ihn am Straßenrand der Autobahn stehen. Nur für einen kurzen Moment. Er bremste ab, was sich als nützlich erwies, weil er sonst vermutlich in ein Rudel Rehe gerast wäre, das gerade die Straße überquerte. Das andere Mal kurz vor einem Flug in die Vereinigten Staaten, wo er einen Vortrag über Neue therapeutische Aspekte der Behandlung von Verminderungen des Plasmavolumens und der extrazellulären Flüssigkeit hätte halten sollen, den er verschob, weil er den Jungen zwischen spielenden Kindern an der Zollabfertigung erblickt hatte. Er hatte seinen großen Wanderstock in der Hand und das rote Bündel lag zu seinen Füßen. Christoph war zu einigen Passagieren, darunter ganze Familien, geeilt und hatte sie zu warnen versucht… Hatte versucht, sie zur Umkehr zu bewegen. Vergeblich.
Er hatte geweint, als die Polizeibeamten ihn wegschleppten, wie einen Wahnsinnigen. Keiner hatte letztlich auf ihn gehört… Keiner hatte den Jungen mit einem Wanderstock gesehen und das Unglück der Maschine, die bei Seattle abgestürzt war, überlebt. Christoph nannte den Jungen, an dessen Bild er sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr erinnern konnte, in Gedanken manchmal seinen Schutzengel… und manchmal nannte er ihn den Tod.
Express in die Hölle
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