Ray Hellenbeck hatte eigentlich keine Beziehung mehr zu seiner leiblichen Mutter. Er hatte während der letzten achtzehn Jahre so gut wie nichts von ihr gehört, geschweige denn an sie gedacht. Manchmal vielleicht, aber dann immer nur für einen kurzen Schreckmoment. Er erinnerte sich an sie, wie man sich an einen ehemaligen Klassenkameraden erinnert, mit dem man eigentlich gar nichts zu tun haben wollte, weil er ein Außenseiter gewesen war. Ray redete auch nicht gern über dieses Thema. Auch nicht mit Betty.
Rays Mutter hatte sich nie sehr um ihren Sohn gekümmert. An Rays zehntem Geburtstag hatten sie sich das letzte Mal gesehen, bevor sie mit einem Südamerikaner nach Brasilien ausgewandert war. Ray wuchs fortan bei seinen Großeltern auf, die ihm irgendwann erzählten, dass er in Brasilien einen Stiefvater und zwei Geschwister hatte. Aber Ray wollte nichts davon hören. Vielleicht, weil der Schmerz von seiner Mutter, die er einmal abgöttisch geliebt hatte, getrennt zu sein, unerträglich war. Vielleicht, weil er nie genau begriffen hatte, warum sie ihn alleingelassen hatte. Das Verlangen, seine Mutter zu sehen, zu erfahren, wer sein leiblicher Vater war, waren ihm fremd. Er konnte es nicht verstehen, wie manche Menschen angeblich Jahre damit zubrachten, verlorene Familienmitglieder zu suchen, um sich dann, nach Jahren der Trennung tränenüberströmt in die Arme zu fallen. Und immer wenn sie im Fernsehen einen solch erschütternden Schicksalsbericht brachten, schaltete er angewidert auf einen anderen Kanal oder verließ das Zimmer, wenn Betty darauf bestand, die Sendung zu sehen.
Die Großeltern hatten damals ihre Erklärung gehabt: Die Umstellung wäre zu groß gewesen. Hier in Tudor hatte er seine Freunde, war er zur Schule gegangen, hier war er aufgewachsen… Für ihn war es jedoch klar wie Kloßbrühe, dass sich seine Mama einen feuchten Scheißdreck um ihr Kind geschert hatte und abgehauen war, weil sie sich von einem dahergelaufenen Kerl den Kopf hatte verdrehen lassen.
Aber all diese Dinge lagen weit zurück. Und hätte Rays bester Freund Tony mit seiner Frau die Flitterwochen nicht in Brasilien verbracht, wäre in Ray vermutlich auch nicht dieses merkwürdig melancholische Gefühl aufgeflammt. Ein Gefühl, das er kannte, jedoch nicht so recht einzuordnen wusste. Ein Gefühl nur, mit dem eine Reihe von Ereignissen in Rays Leben treten sollten, die er niemals für möglich gehalten hätte. Alles begann an einem Freitagabend im September, als Tony seinen Gästen Betty und Ray die Urlaubsdias vorführte, und Lynn, Tonys Frau, nicht damit aufhörte, ihn aufzuziehen…
»Und das ist der Zuckerhut vom Schiff aus!« erklärte Tony und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Bild an der Leinwand. »Im Hintergrund sieht man noch einen Teil vom Festland…«
»Mein Gott, Tony. Wie oft hast du denn das verdammte Ding fotografiert?« fragte Ray.
»Du hättest ihn mal sehen sollen«, erklärte Lynn augenzwinkernd. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe. Gib mir bitte einen neuen Film, Lynn! Halt doch mal das Objektiv, Schatz! Stell dich doch bitte mal an die Reling. – Nein! – Etwas mehr nach links…«
»Jetzt übertreibst du aber, Lynette!«
Alle lachten, außer Tony, der es absolut nicht verstehen wollte, wie man sich nach zwei Stunden Copacabana, Rio und Christusstatue von allen Seiten gelangweilt fühlen konnte.
»Lass gut sein, Tony. Es ist schon spät. Betty und ich müssen nach Hause. Der Babysitter hat nicht die ganze Nacht Zeit.«
»Schon gut, Ray. Aber euer Babysitter wird sich noch etwas gedulden müssen.«
»Warum denn das?«
»Lynn, holst du sie?«
»Klar!«
Lynn stand auf und machte Licht. Der blendend helle Schein schmerzte regelrecht in den Augen. Lynn verschwand im Nebenzimmer und kam mit einem Päckchen zurück, das sie Tony in die Hand drückte. Er setzte eine feierliche Miene auf und rief: »Traraa!«
Er streckte den beiden das Päckchen entgegen, bis Ray es nahm.
»Was ist denn das?«
»Wenn du es aufmachst, weißt du es«, sagte Lynn und kicherte läppisch.
»Na pack schon aus«, drängte Betty und schubste Ray mit ihrem Ellenbogen.
»Moment. Moment…«
Ray wickelte das Papier ab und öffnete den Pappkarton. Er nahm den schweren Gegenstand heraus und wickelte weiteres Papier ab, in das er eingeschlagen war. Zum Vorschein kam…
»Eine Spieluhr!«
»Mein Gott, ist die schön…«, flüsterte Betty. »Ihr seid verrückt, die hat doch sicher ein Vermögen gekostet.«
»Ja, stimmt genau…«
»Tony!« rief Lynn und gab ihrem Liebsten einen Rippenstoß.
»Ich mach doch nur Spaß… Wie gefällt sie euch?«
»Sie ist… einfach großartig. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, sagte Ray und strich mit den Fingern vorsichtig über das lackierte Ebenholz.
»Na, dann sagen wir… Danke!« sagte Betty und konnte ihre Augen von dem kostbaren Stück nicht abwenden.
»Wir dachten, ihr könntet sie in Susans Zimmer stellen. Kinder mögen doch Gute-Nacht-Lieder.«
»Das ist eine großartige Idee. Mach sie mal auf, Ray.«
»Ja, mach sie auf!« rief Tony und legte seinen Arm um Lynn, die sich an ihn schmiegte.
Ray hob behutsam den Deckel. In dem schwarzen Kästchen war eine Mechanik mit einer Walze aus Messing eingebaut, die sich in Bewegung setzte, nach den ersten zwei Tönen jedoch plötzlich mit einem leisen Quietschen stecken blieb. Ray sah Tony fragend an.
»Du musst sie aufziehen! Ähm… der Schlüssel klemmt innen, an einer Seitenwand.«
Ray entdeckte den Schlüssel, aber jeglicher Versuch, die Spieluhr aufzuziehen, schlug fehl.
»Der Schlüssel lässt sich nicht drehen.«
»Das gibt‘s doch gar nicht. Lass mal sehen…« Tony nahm die Spieluhr, stellte sich aber noch unbeholfener an als Ray.
»Lass es lieber, Tony. Nicht mit Gewalt«, sagte Lynn und lief rot an wie eine Tomate. Das Ganze wurde den Flitterwöchnern jetzt sichtlich peinlich.
»Also, das begreife ich nicht. Vorhin hat sie doch noch funktioniert.«
»Ja, und sie spielte eine ganz bekannte Melodie. Was war das doch gleich?« jammerte Lynn und stieß Ray in die Seite.
»Ja, genau… Es war…«
»Hört zu, Leute. Das ist doch ganz egal. Ich meine, diese Spieluhr ist wunderschön und wir danken euch von ganzem Herzen…«, sagte Ray.
»Ja, das tun wir«, schloss Betty sich an, »… und ich werde sie mal bei einem Uhrmacher vorbeibringen. Ich meine, da ist sicher nur was verklemmt.«
»Wenn sie vorhin noch funktioniert hat?«
»Das hat sie. Ich schwöre es, Betty.«
»Dann kann es auch nicht so schlimm sein.«
»Das hoffe ich«, meinte Tony verlegen und wurde gleichzeitig stocksauer.
»Und wenn doch…«, sagte Ray, »…dann fahrt ihr eben noch mal nach Rio und kauft eine Neue!«
Eine Sekunde herrschte ein Schweigen, in dem sich alle anstarrten. Dann brachen sie gemeinsam in schallendem Gelächter aus.
Auf der Heimfahrt lachten Betty und Ray noch lange über Lynns Witze und Tonys Gesicht, als die Spieluhr sich geweigert hatte zu funktionieren.
»Ich glaube, ich wäre vor Scham im Boden versunken, wenn ich ein Geschenk überreicht hätte, das nicht so funktioniert, wie es soll.«
»Hast du Tonys Gesicht gesehen?« fragte Ray.
»Und Lynns erst. Ich dachte, sie würde ihm gleich an den Hals springen. Ich glaube, er hat sie vorher noch mal aufgezogen und vermutlich überdreht.«
»Ich werde sie gleich morgen zu einem Uhrmacher bringen«, sagte Ray, schaute zu Betty und beide begannen wieder in schallendes Gelächter auszubrechen.
Als sie sich beruhigt hatten und Betty ihre Müdigkeit mit einer Zigarette vertreiben wollte, begann der Wagen plötzlich ruckartig das Tempo zu verlangsamen.
»Was ist denn jetzt los?«
»Was meinst du, Ray? Ist was mit dem Wagen?«
»Ich weiß nicht. Ich…«
Plötzlich machte der Chrysler einen Satz nach vorn und blieb stehen. Als Ray den Wagen wieder starten wollte, gab dieser nur ein klägliches Jaulen von sich.
»Das gibt‘s doch nicht. Er war doch erst in der Werkstatt.«
»Vielleicht ist die Batterie…?«
»Quatsch! Wenn die Batterie im Eimer wäre, würde der Anlasser nicht durchdrehen!« sagte Ray ziemlich unwirsch.
»Das ist kein Grund, mich so anzumaulen.«
Ray schloss die Augen und erstarrte für einen Moment. Dann drehte er sich zu Betty.
»Entschuldige… o.k.? Ich bin ein bisschen nervös. Das ist nicht gerade die angenehmste Gegend hier.«
Betty blickte nach draußen. Um sie herum war nur dichter Wald. Vor ihnen lag die Landstraße, die nur spärlich vom Mondlicht erhellt wurde. Es war unheimlich. Betty wurde mulmig.
»Ray, ich habe Angst.«
»Siehst du. Damit habe ich gerechnet. Leider kann ich nicht…«
»Aaaah!!!« Betty schrie plötzlich auf, als das Radio laut zu spielen begann.
Bye bye Love… bye bye happiness… sangen Simon und Garfunkel laut und durchdringend.
»Verdammt, Ray. Mach das Radio aus!«
Hello emptyness….
»Es geht nicht. Es…«
I feel like I could die-hie..
»…klemmt.«
Dann war es plötzlich wieder still und Betty bekam einen Wutanfall.
»Spinnst du? Mach das nie wieder, Ray Hellenbeck, sonst…«
»Sonst?« Ray blickte ebenfalls ziemlich böse drein. »Ob du‘s glaubst oder nicht, aber das Radio hätte niemals spielen dürfen, weil es nämlich an die Zündung angeschlossen ist, und ich den Schlüssel gerade abgezogen hatte.«
Ray hielt den Schlüsselbund hoch und Betty starrte ihn mit großen Augen an.
»Aber…«
»Sag nichts, mein Schatz. Hier spukt es nicht. Es ist ein Fehler in der Elektrik.«
»Aber du hast doch auch gerade dran gedacht…«, sagte Betty ruhig und presste ihre Lippen zusammen. Sie mochte es nicht, wenn Ray sich über ihren Glauben an die Existenz von Geistwesen lustig machte. Sie hatte schon zu viel darüber gelesen. Für sie waren die Beweise für ein Fortleben der Seele nach dem Tode, und auch für Reinkarnation unwiderruflich erbracht. Ein Grund mehr, sich jetzt fast vor Angst in die Hosen zu machen.
»Wenn wir uns nur darauf konzentrieren, dann springt der Wagen vielleicht wieder an.«
»Betty… Bitte hör mit diesem Zeug auf. Ich glaube, ich schau mal besser unter die Motorhaube.«
»Versuch es!«
»Betty…«
»Versuch es, Ray!«
»Also gut, dann…«
Ray hatte den Schlüssel herumgedreht und prompt sprang der Wagen an. Ein merkwürdiger Zufall oder…
»Siehst du!!«
»Zufall!« entgegnete Ray, legte den Gang ein und setzte die Fahrt fort. Auf dem Rest des Weges sprachen sie kaum ein Wort miteinander.
Der nächste Morgen verlief so stillschweigend, wie der Abend geendet hatte. Während Ray sich im Bad rasierte, kümmerte Betty sich um das Frühstück. Susan, gerade vier Jahre alt geworden, leistete ihrer Mutter Gesellschaft.
»Hattest du gestern Abend Spaß mit Mrs. Wentworth?« fragte Betty ihre Tochter.
»Mmmh…« summte Susan zustimmend. Den Kopf hatte sie auf ihre Hände gestützt. »Was habt ihr denn gestern so lang bei Onkel Tony und Tante Lynn gemacht?«
»Wir haben Urlaubsdias angeschaut, mein Schatz.«
»Und das hat so lange gedauert?«
»Ja… Weißt du, Onkel Tony hat sehr viele Dias gemacht«, sagte sie und grinste.
»… Und was habt ihr noch gemacht?«
»Wir haben uns unterhalten, etwas gegessen und Wein dazu…«
»Mist, verfluchter!«
Ray kam fluchend in die Küche und hielt sich einen Waschlappen unters Kinn. Dann riss er ein Stück Papier von der Küchenrolle und presste es an seinen Hals.
»Was ist denn mit dir los?« fragte Betty erschrocken.
»Seit vier Jahren rasiere ich mich nass… Und noch nie… NOCH NIE… habe ich mich derart geschnitten. Jetzt sieh dir das an…«
Ray zog das Papier wieder ab und deutete auf einen tiefen blutigen Schnitt in seinem Hals.
»Mein Gott, Ray. Wie ist denn das passiert?«
»Das weiß der Himmel. Ich habe mir eine frische Klinge in den Rasierer getan und fange an, mich zu rasieren, als plötzlich… plötzlich spüre ich diesen stechenden Schmerz. Verfluchter Scheißdreck!«
»Nun reg dich nicht auf. Das heilt schon wieder. Ich werde…«
»Lass mich, Betty. Ich bin schon spät genug dran…«
Ray verschwand so schnell, wie er gekommen war.
»Kein Wunder, dass du dir fast die Kehle durchschneidest bei dieser Hetzerei…«
Ray verschwand eine Viertelstunde später ohne ein Frühstück. Es war das erste Mal, seit sie zusammenlebten…
Bis zum Abend hatte Betty Hellenbeck alle Hände voll zu tun. Während des Tages passierten ihr jedoch merkwürdige Fehlleistungen, die ihr bis dato noch nie passiert waren. So vergaß sie einen Kuchen im Backofen, bis er sich mit schwarzem Qualm, der aus den Ritzen der Backofentür quoll, meldete. Sie stellte das mit schwarzer Kruste überzogene Backwerk auf das Küchenbord zum Abkühlen. Es war nur noch für den Mülleimer gut.
Während des Fensterputzens wäre sie beinahe von der Leiter gerutscht und beim Staubwischen warf sie alles Mögliche um. Eine handbemalte Vase ging zu Bruch. Beim Spülen schnitt sie sich die Hand an einem zerbrochenen Glas und beim Einkaufen vergaß sie die Hälfte der Dinge, die sie mitbringen wollte.
Am Abend, als sie und Ray vor dem Fernseher saßen und Susan längst im Bett war, kam sie schließlich zu dem Schluss…
»Ich hätte heute im Bett bleiben sollen.«
»Wieso denn das?« fragte Ray und legte seinen Arm um sie.
»Heute war der Tag der Missgeschicke. Beinahe alles, was ich angefasst habe, ging schief…«
»Bei dir auch?«
»Ja. Warum?«
»Ich dachte, ich müsste heute entweder früher nach Hause, um mich ins Bett zu legen, oder eine Nachtschicht fahren, um mit dem Verwaltungskram fertig zu werden.«
»Komisch… Was meinst du, woran das gelegen haben mag?«
»Ich weiß nicht. Du bist doch die Expertin für die übernatürlichen Sachen.«
»Mach dich nicht lustig.«
»Keineswegs. Ich habe sogar auf den Kalender geschaut, ob wir nicht Freitag, den 13. haben«, sagte Ray und hielt Betty seine zu Klauen gekrümmten Finger vors Gesicht. »Huhh huuhh…«
»Ray, das ist nicht komisch. Vielleicht…«
»Ja?«
»Vielleicht hängt es ja irgendwie mit der Spieluhr zusammen?«
»Mit der Spieluhr?«
»Seit wir diese Spieluhr haben, passieren uns diese Dinge. Das Auto bleibt stehen, der Kuchen verbrennt, du kommst mit der Arbeit nicht voran… Wir reden stundenlang kein Wort miteinander.«
»Betty, ich bitte dich. Es… tut mir leid, dass ich mich gestern wie ein Arschloch aufgeführt habe. Ich weiß auch nicht, wieso… Aber… Du kannst doch nicht einer kaputten Spieldose irgendwelche übernatürliche Macht zuschreiben.«
»Vielleicht ist sie verflucht oder so was…«
»Hol sie her!«
»Was?«
»Na los… Hol sie schon her. Wir schauen sie uns noch mal genauer an.«
»Wenn du unbedingt willst.«
Betty holte die Spieluhr, die Ray auf ihre Schminkkommode im Schlafzimmer gestellt hatte. Sie tat dies mit Widerwillen, obwohl sie einerseits an den möglichen Zusammenhängen interessiert war, aber andererseits zu sehr an die Existenz von bösen Geistern glaubte. An etwas Böses, das möglicherweise dem Kästchen anhaftete, wie Schimmel an einem Stück Brot, das man vergessen hat wegzuwerfen.
»Hier ist sie«, sagte Betty und stellte das Kästchen vor Ray auf den Tisch, vorsichtig, als handle es sich um eine entsicherte Handgranate.
»Na, dann wollen wir mal sehen…«
Ray nahm die Spieluhr, drehte und wendete sie in seiner Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Schließlich öffnete er vorsichtig den Deckel und schaute hinein, während Betty ihre Augen zusammenkniff, als erwartete sie eine Explosion.
Ray betrachtete sich genau das Innenleben der Spieluhr. In ihrer Mitte lag eine Walze, aus der spitze Zähne scheinbar wahllos angeordnet herausragten. Auf der Walze lag die Feder der winzigen Glöckchen, an der die Zähne beim Drehen der Walze vorbeistreiften. Rechts war die Rundfeder befestigt, die das Spielwerk für eine gewisse Zeit in Betrieb hielt. Auf dieser Seite steckte auch der Schlüssel, der sich weder in die eine noch in die andere Richtung drehen ließ. Ray versuchte die verklemmte Feder zu lösen und steckte seinen Finger in das Spielwerk, als plötzlich…
»Autsch!«
…ein stechender Schmerz seinen Finger hinauffuhr, und Ray ihn sich, dem ersten Reflex folgend, in den Mund steckte.
»Was ist?«
»Ich… hab mir den Finger eingeklemmt…«
»Lass mal sehen…«
Ray hielt Betty den Finger hin, der eine ungewöhnlich tiefe Schnittwunde aufwies. Ray stellte die Spieluhr heftig auf dem Tisch ab.
»Dieses verfluchte Mistding! Ich werde es auf den Müll werfen!«
»Gar nichts wirst du. Du wirst mit mir ins Bett kommen, nachdem ich dir ein Pflaster verpasst habe. Heute ist wirklich nicht unser Tag…«
Ray beschloss nachzugeben und den vergangenen Tag so schnell als möglich zu vergessen. Zehn Minuten später lag er im Bett und schlief ein…
»Ray! Ray!« hörte er eine Stimme, während er durch eine Parkanlage lief, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ray! Ray! Du hast mich doch nicht vergessen…«, hörte er und lief schneller über den englischen Rasen, der von fahlem Mondlicht überflutet wurde. Die wenigen Bäume, die wie wahllos über den ganzen Park verstreut waren, warfen unheimliche Schatten auf die Wiese, die kein Ende zu nehmen schien. Der Horizont schien ganz nah zu sein, und doch, so schnell er auch lief, kam er dem Horizont doch nicht näher.
Es war als… Aber das konnte nicht sein.
Er rannte schneller und schneller. Sein Schlafanzug klebte an Rays schweißgebadetem Körper. Als er sich umblickte, bemerkte er, dass die Bäume gar keine Baumkronen besaßen, sondern nur abgebrochene Stämme waren. Spitz zulaufende Stämme, so als ob…
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und sah sich um. Hohe Mauern umgaben den Park. Mauern, die jedoch nicht aus Steinquadern gefertigt waren, sondern aus Holz. Und was war plötzlich mit dem Erdboden? Es war, als bewegte er sich. Als würde Ray von der Stelle gezogen, aber nicht nur Ray, sondern der ganze Boden wurde weggezogen, so als handle es sich um…
Ray wurde von einer unsichtbaren Kraft zu Boden geworfen und landete auf dem Rücken, wo er wie ein hilflos strampelnder Käfer liegen blieb. Was er nun erblickte, ließ sein Blut gefrieren. Das riesige Gesicht einer Mumie tauchte am Nachthimmel auf und schob sich vor die Sterne, verdeckte den Mond und grinste ihn mit verfaulten Zähnen an. Ray wollte schreien, doch dann sah er, dass die Mumie etwas machte. Sie machte etwas mit ihrer Hand. Es war, als drehte sie mit einer Art Kurbel, die wiederum die Erde, auf der er lag, bewegte. Er hörte ein markerschütterndes Krachen und drehte sich um. Ein Abgrund tauchte hinter ihm auf, über dem sich riesige Klingen in die Erde gruben. Messerscharfe Schneiden. Und es war, als wölbte sich die Erde über diesen Schneiden und traf es Ray wie einen Blitzschlag.
»Eine Spieluhr! Das ist eine Spieluhr…«
…deren Glockenfedern riesige Messer waren, die sich in die grasbewachsene Walze gruben, und alles, was sich darauf befand, in Stücke rissen. Er klammerte sich an einen der Baumstümpfe, weil die Wölbung jetzt so stark war, dass er ohne einen Halt geradewegs in die Messerschneiden gestürzt wäre. Doch der Baumstumpf, an den er sich klammerte, bewegte sich auch auf die Messer zu, die jetzt bedrohlich näher kamen. Noch fünf Meter, noch vier, noch zwei, noch…
»NEIIIIN!!!« schrie Ray aus Leibeskräften und schnellte schweißüberströmt aus den klatschnassen Laken hoch.
»Was ist?«
Betty drehte sich blitzschnell und sah Ray flach atmend neben sich sitzen.
»Ray? Was ist denn los?«
»Nichts… Ich habe… Ich hatte… einen Alptraum.«
Sie legte ihre Hand auf seinen Rücken, worauf er zusammenzuckte.
»Mein Gott, Ray. Du bist ja ganz nass. Soll ich dir ein Glas Wasser…«
»Nein. Ist schon gut, Betty. Ist schon gut…«
Am nächsten Morgen saß Ray schweigend am Frühstückstisch und bekam keinen Bissen herunter. Er kannte diese Art Träume, wie den, den er in der letzten Nacht gehabt hatte. Aber es war schon sehr lange her, seitdem er sie das letzte Mal geträumt hatte. Er war noch ein Kind gewesen, als…
»Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?«
»Nein, Betty… Danke. Ich muss ins Büro…«
Betty Hellenbeck nahm sich Zeit zum Nachdenken. Nachdem sie sich bei dem Versuch, die Wäsche zu bügeln, einen elektrischen Schlag eingefangen hatte, wusste sie, dass diese merkwürdigen Geschehnisse samt Rays Alptraum letzte Nacht kein Zufall sein konnten. Sie setzte sich im Schlafzimmer auf das Bett und betrachtete die Spieldose sehr lange, bevor sie beschloss, ihre Freundin Kate anzurufen, die sich seit mehr als zehn Jahren mit Okkultismus beschäftigt hatte. Sie würde ihr bestimmt sagen können, was…
»…was es mit diesen merkwürdigen Zufällen auf sich hat?«
»Betty. Wenn es tatsächlich mit dieser Spieluhr zusammenhängt, so müsst ihr versuchen, etwas über ihre Vergangenheit herauszufinden.«
»Bist du verrückt? Wie sollen wir denn die Geschichte einer Spieluhr aus Brasilien herausbekommen, die ein Wandertrödler in der Tasche hatte, der sie aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo einmal geklaut hat?«
»Rede noch einmal mit Tony!«
»Mit Tony?? Der würde mir geradewegs ins Gesicht sagen, dass ich einen Knall habe!«
»Es scheint mir aber die einzige Möglichkeit, Betty. Es könnte sein, dass der ehemalige Besitzer, oder einer davon mit irgendetwas Unnatürlichem in Berührung kam. Vielleicht starb er eines gewaltsamen Todes oder er war einfach ein böser Mensch oder…«
»Was?«
»Oder er hat irgendetwas mit euch gemeinsam. Irgendetwas, das euer Innerstes anspricht. Etwas, das man vielleicht sogar ein geistiges Band nennen könnte. Ein Gegenstand wäre dann in der Lage, Gefühlszustände, Fehlverhalten oder sogar Alpträume auszulösen, wenn ihr offen genug für seine Macht seid.«
»Meinst du wirklich?«
»Was ist mit dir, Betty. Du bist doch sonst aufgeschlossener für das Magische.«
»Bisher ist es mir jedoch noch nie so direkt begegnet, wie in den letzten Tagen, Kate.«
Betty wusste nicht so recht, was sie nun glauben sollte. Gab es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Spieluhr und den unliebsamen Zwischenfällen oder handelte es sich um simple Zufälle, eine vermehrte Strahlung von Sonnenflecken, die angeblich dem Menschen aufs Gemüt schlagen soll, oder hatten sie schlichtweg ein paar schlechte Tage gehabt. Auf alle Fälle verbannte sie die Spieldose aus dem ehelichen Schlafzimmer auf die Kommode im Wohnzimmer. Warum, wusste Betty auch nicht so recht. Erst als Ray am späten Nachmittag aus dem Krankenhaus anrief, hätte sie das blöde Ding am liebsten aus dem Fenster geworfen. Betty fuhr mit Susan in die Klinik und half ihrem Mann in den Wagen, dessen rechter Fuß in Gips gebunden war.
»Wie ist das denn passiert, Ray?«
»Ich bin auf der Treppe umgeknickt.«
»Umgeknickt?«
»Ja! Umgeknickt! Und wenn du es genau wissen willst. Es war auf der untersten Stufe!«
»Ray, du brauchst mich nicht gleich anzuschreien!«
»Ich will nur noch meine Ruhe haben…, mehr nicht. O.k.?«
»Ja, schon gut…«
Noch bis nach dem Abendessen sprachen Betty und Ray kein Wort miteinander. Erst nachdem es Ray sich im Wohnzimmer bequem gemacht hatte, setzte sich Betty zu ihm und brachte ihm einen Scotch.
»Na, wie geht‘s dir?«
»Es geht schon. Tut mir leid, wenn ich dich heute im Wagen so angefahren hab.«
»Schon gut. Ich glaube, wir sind beide etwas mit den Nerven runter.«
»Ja, das stimmt. Ich denke, ich werde nachher ein gutes Buch lesen.«
»Keine schlechte Idee. Hmm… Ray?«
»Ja?«
»Ich habe heute mit Kate telefoniert.«
»Oh, die Magier waren unter sich.«
»Lass das, Ray. Sie hält es für möglich, dass die Spieluhr…«
»Und du? Hältst du es auch für möglich?«
»Ich weiß es nicht, Ray. Aber als ich heute ins Krankenhaus fuhr, fiel mir deine Mutter ein.«
Ray schwieg und Betty glaubte, etwas in seinen Augen lesen zu können, so als…
»Hast du etwa auch daran gedacht?«
»Natürlich ist sie mir eingefallen, als ich die Dias bei Tony sah.«
»Wie lange lebt sie jetzt schon in Brasilien?«
»Zirka 18 Jahre. Ich erinnere mich kaum an sie.«
»Und ihr habt seitdem keinen Kontakt mehr gehabt?«
»Nein.«
»Vielleicht hat sie etwas…«
»Schatz, ich möchte nicht darüber sprechen, o.k.? Ich würde jetzt gerne…«
»Ich weiß… Ich werde dir etwas zum Lesen bringen.«
Nach einer Stunde nickte Ray über Tolstois Krieg und Frieden ein. In seinem Dämmerschlaf stiegen seltsame Bilder aus seinem Inneren auf. Vor seinem geistigen Auge formierte sich das Bild einer jungen Frau, die ihre Arme nach ihm ausstreckte. Sie lächelte und rief mit einer melodiösen Stimme seinen Namen.
»Ray… Ray… Hast du mich vergessen?«
Dann veränderte sich ihr Blick und schien traurig zu sein.
»Ray… Ray, mein Junge… Hast du nie an mich gedacht???«
»Mommy. Wie kommst du denn darauf. Ich liebe dich doch…« flüsterte er.
Ihr Bild begann zu altern. So als wäre es mit einer Zeitrafferkamera aufgenommen. Um ihre Augen und Mundwinkel schlugen sich Falten. Ihre Haare begannen zu ergrauen, bis sie schließlich schneeweiß waren.
»Ray… Du hast mich vergessen.«
»Aber warum hast du mich allein gelassen, Mommy…«
Jetzt fielen einzelne Strähnen ihrer Haare einfach ab. Ganze Büschel, bis sich kein einziges Haar mehr auf ihrem Kopf befand. Das Gesicht war eingefallen und blass… leichenblass.
»Ray, warum hast du mich…«
Die Haut auf ihren Wangen blätterte ab, als handle es sich um verbranntes Papier. Darunter wurde faules Fleisch sichtbar, das ebenfalls von ihr abfiel, bis ihn ein Totenschädel angrinste und voller Inbrunst schrie…
»RAYYYYIIIIIEEEEEE!!!«
Er schnellte aus seinem Schlaf hoch. Sein Herz raste und pumpte wild das Blut durch seine Halsschlagader. Sein Hemd klebte an seinem Körper und er atmete schwer. Doch dann fuhr er wieder zusammen, als plötzlich der Deckel der Spieldose aufsprang und ein Lied spielte. Ein Lied, das ihn an irgendetwas erinnerte. Etwas, das ihm Angst machte. Das Lied hieß Für Elise und Ray wusste nicht, ob die Tatsache, dass die Musikdose plötzlich wieder funktionierte, der Grund für seine Angst war oder das Lied, denn Elise war die Kurzform von Elisabeth, und das war der Name seiner Mutter.
»Ich werde dieses Ding auf den Müll werfen!« rief Ray und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, nach einer weiteren Nacht, in der mumienhafte Gestalten wieder die Protagonisten seiner Träume gewesen waren.
»Ray, findest du das nicht ein wenig überstürzt. Ich meine… Ich glaube, dass es da einen Zusammenhang zwischen den Vorfällen der letzten Zeit und der Spieluhr gibt, aber… vielleicht sollten wir es versuchen zu verstehen.«
»Da ist nichts Übernatürliches. Es ist nur in unseren Köpfen, Betty. Verstehst du das nicht. Solange wir dieses Ding im Haus haben, passieren uns diese Missgeschicke, weil wir in unserem tiefsten Innern glauben, es müsste so sein. Werfen wir sie auf den Müll, dann ist endlich Ruhe…«
»Jetzt, wo sie wieder funktioniert?«
»Sie hat nur einmal kurz gespielt. Eine Minute lang vielleicht. Seitdem ist sie wieder stumm wie ein Fisch und nicht in Gang zu bringen. Ich möchte sie nicht mehr im Haus haben«, sagte Ray und wurde durch ein lautes Poltern, das aus dem Flur kam, unterbrochen. Betty ließ vor Schreck die Tasse Kaffee, die sie in der Hand hielt, fallen.
»Susan!«
Betty rannte in den Flur, wo Susan am Fuß der Treppe regungslos lag.
»Susan, mein Schatz. Was ist passiert? Mein Gott, sag doch etwas…«
»Was ist los, Betty?« rief Ray und stemmte sich schwerfällig aus dem Sessel, ohne sich um sein Gipsbein zu scheren.
»Ich weiß nicht, Ray. Susan ist die Treppe heruntergefallen und rührt sich nicht mehr…«
Betty nahm ihr Töchterchen und trug es ins Wohnzimmer auf die Couch.
»Ich muss Dr. Maidland anrufen…«
»Atmet sie?«
»Ja, sie ist nur bewusstlos… Oh, Ray. Hoffentlich… ist nichts Schlimmes passiert. Sie hat eine Beule am Kopf.«
Der Arzt, der eine halbe Stunde später eintraf, diagnostizierte eine leichte Gehirnerschütterung und verordnete Susan Hellenbeck strenge Bettruhe. Er bemerkte noch, dass sie großes Glück gehabt hätte und machte eine scherzhafte Bemerkung, dass sich Betty in acht nehmen solle. Wenn sie auch noch einen Unfall hätte, wer sollte dann die Familie versorgen.
Ray war überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt und humpelte zu der alten Kommode, auf der die Spieluhr stand. Er nahm sie und hielt sie Betty hin.
»Hier! Wirf sie in die Mülltonne!«
»Ray, ich…«
»BITTE!« befahl er und zog die Brauen tief ins Gesicht.
Er konnte selbst verstehen, dass er, der Glücks- und Unglücksbringern sowie anderen okkulten Lügenmärchen normalerweise keinen Glauben schenkte, seine Missgeschicke einem Gegenstand zuschrieb, auch wenn er es nur ungern zugegeben hätte.
Es ist alles nur in unseren Köpfen…
Aber war es da wirklich? Oder hatten ihn die Geschehnisse der letzten Zeit eines Besseren belehrt? Er wusste es selbst nicht recht. Er wusste nur, dass er diese Spieluhr nicht mehr haben wollte. Er hasste sie und hätte sie am liebsten einem albernen Ritual gleichend zerschlagen, verbrannt und die Asche mit Salz bestreut.
»Bitte… Wirf sie in die Mülltonne.«
Betty nahm wortlos das Kästchen und ging nach draußen. Ray ließ sich in seinen Sessel fallen und nickte ein. Diesmal kamen keine Mumien, keine Spieluhren oder zerfetzende Messer in seinen Träumen vor. Als er erwachte, konnte er sich an gar nichts erinnern, als ihn plötzlich das Schellen des Telefons aufschrecken ließ. Er rieb sich blinzelnd die Augen und sah Betty den Hörer von der Gabel nehmen…
»Hellenbeck… Bitte? Ja, er wohnt hier… Entschuldigen Sie, aber Sie sind nur sehr schwer zu verstehen. Ja, er ist hier…«
Sie nahm das Telefon und stellte es an Rays Sessel. Dann hielt sie ihm den Hörer hin…
»Ist für dich. Ein gewisser Ramirez. Man versteht ihn kaum…«
»Ramirez?« flüsterte Ray und nahm den Hörer. »Ja?«
»Hallo? Spreche ich mit Mister Raymond Hellenbeck?« hörte er eine weit entfernte blecherne Stimme aus dem Rauschen der Leitung.
»Ja? Wer ist denn da?«
»Mein Name ist Carlos Ramirez. Ich weiß nicht, ob Sie mich noch kennen. Ich habe vor achtzehn Jahren Ihre Mutter geheiratet.«
»Ich erinnere mich dunkel, Mister Ramirez.« sagte Ray und spürte Wut in seinem Bauch, von der er nicht wusste, wohin er sie packen sollte.
»Raymond, ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Ihre Mutter ist leider heute Nachmittag verstorben.«
Ray blieb still. Jetzt war es doch Nachmittag, dann fiel ihm die Zeitverschiebung ein. In Brasilien, von wo Ramirez aller Wahrscheinlichkeit anrief, musste es jetzt wohl mitten in der Nacht sein.
»Raymond, sind Sie noch da…«
»Ja, ich… Entschuldigen Sie, aber ich weiß gar nicht, was ich sagen soll…«
»Raymond, ich weiß, dass Sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr miteinander hatten, aber glauben Sie mir, Raymond… Ihre Mutter hat Sie niemals vergessen. Sie hatte seit einigen Jahren Krebs und wir wussten beide, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Immer wieder hat sie von Ihnen erzählt und sehr viel geweint, weil sie es bereut hat, Sie damals zurückgelassen zu haben. Wir sind nicht sehr reich, Raymond, und leider gibt es keine große Hinterlassenschaft. Aber Ihre Mutter wollte Ihnen im Falle ihres Todes etwas zukommen lassen. Es war eine Spieluhr, Raymond. Es war eines der wenigen Dinge, die sie damals aus Amerika mitgenommen hatte. Doch etwas Schreckliches ist passiert. Ich hatte mir in dem Krankenhaus, in dem Ihre Mutter die letzten Wochen gelegen hatte, ein Zimmer genommen, und in dieser Zeit, in der unsere Wohnung leer stand, wurde bei uns eingebrochen. Unter anderem haben die Diebe die Spieluhr mitgenommen… Raymond? Sind Sie noch da?«
»Ja… ähm ich…«
»Raymond. Ich kann den letzten Willen Ihrer Mutter leider nicht mehr erfüllen. Aber sie hat Sie immer geliebt. Sie hat Ihnen nur nie geschrieben, weil sie der Meinung war, Sie würden sie für das, was sie getan hat, immer noch hassen. Ein bisschen böse war sie schon, aber nie wirklich. Sie scherzte sogar noch, dass sie sich am liebsten durch ein paar deftige Streiche von Ihnen verabschieden würde… Die letzten Tage verbrachte sie im Koma und hat immer wieder Ihren Namen laut gerufen!!!«
»Mister Ramirez, können Sie mir sagen, welches Lied die Spieluhr spielte?«
»Es war ein Stück von Mozart. Es heißt: Eine kleine Nachtmusik.«
Ray atmete schwer und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er beendete das Gespräch mit seinem vermeintlichen Stiefvater, den er nie gesehen hatte, und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er erzählte Betty so ruhig als möglich alle Einzelheiten des Gespräches erst später, nachdem er mühevoll einige Tränen, die sich durch die dicken Mauern seines Innern, die er im Laufe der Jahre errichtet hatte, gequält hatten, zugelassen hatte.
»Vielleicht ist es ja dieselbe Spieluhr.«
»Nein, Betty. Sie spielt doch ein völlig anderes Lied. Aber merkwürdig ist das schon. Vielleicht habe ich es irgendwie wahrgenommen. Ihren Tod, meine ich. Mein Hass aus den alten Tagen hemmte mich völlig und verschaffte mir dazu auch noch Alpträume. Bleibt aber nur noch die Frage offen, warum ihr, du und Susan, auch von den Missgeschicken betroffen wart?«
»Glaubst du denn, ich hätte deine Mutter nicht gehasst?«
»Warum denn das?«
»Ray, du und Susan, ihr seid die Menschen, die ich am meisten liebe. Glaubst du, dass ich deine Mutter, die dich so verletzt hat, nicht ebenso gehasst habe, wie du es getan hast? Sicher hatte sie ihre Gründe, aber daran denkt man doch im ersten Moment gar nicht. Ich meine, man spürt doch immer zuerst die Wut, bevor man an so etwas wie Verständnis denkt?«
»Und Susan?«
»Ich glaube, das war meine Schuld. Sie fragte mich neulich, warum es dir schlecht ginge. Ich wusste nicht, wie ich ihr das mit der Spieluhr erklären sollte. Ich hab ihr die Geschichte mit deiner Mutter erzählt, und dass es dich manchmal noch sehr mitnimmt. Vielleicht war das ein Fehler, aber… Susan sagte spontan, dass deine Mutter eine böse Frau gewesen sein muss.«
»Das dachten wir alle, und dabei hat sie vermutlich mehr darunter gelitten als wir… Betty?«
»Ja?«
»Würdest du mir einen Gefallen tun und die Spieluhr noch einmal reinholen?«
»Sicher…«
Sie küsste Ray zuerst auf die Stirn und dann auf den Mund. Ray schmunzelte, denn das hatte seine Mutter immer getan, als er noch klein war.
Betty kam mit der Spieluhr zurück und wischte sie mit einem Tuch ab, bevor sie ihm den vermeintlichen Unglücksboten gab. Er öffnete den Deckel und begann zu weinen. Er weinte, wie er seit achtzehn Jahren nicht mehr geweint hatte. Betty war sprachlos und nahm ihren Mann in die Arme. Auch über ihre Wangen rollten Tränen, als sie die Melodie hörte, die die Spieluhr spielte. Es war Mozarts kleine Nachtmusik.
Seit dieser Zeit passierten den Hellenbecks keine Missgeschicke mehr. Weder Alpträume noch Schweißausbrüche begleiteten Rays Nächte und die Spieluhr steht seit damals auf der Kommode im Wohnzimmer, dort, wo sie das erste Mal eine Melodie spielte, die ihr niemals vorgegeben worden war. Nach weiteren Erklärungen suchten Ray und Betty nicht mehr. Für beide hatte sich lediglich die Welt und ihre Ordnung von Grund auf geändert. Im Jahr darauf besuchte Ray zum ersten Mal das Grab seiner Mutter und er wusste, dass sie ihm verziehen hatte, wie er ihr. Sie hatte sich auf ihre eigene Art und Weise von ihrem Sohn verabschiedet.
Für Elise
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