Mann im Keller
Du hast deinen Vati über alles geliebt. Er war verständnisvoll und zärtlich, wie kein anderer. Aber wenn er diesen Satz zur dir sagte, dann hast du ihn gehasst. Nicht richtig natürlich. Ein kleines bisschen vielleicht und auch nicht sehr lange… Aber dieser eine Satz konnte dir schon den Abend versauen, zumal du ohnehin nach der Tagesschau ins Bett musstest.
»Susi, geh doch bitte in den Keller und hol Sprudel!«
Genau das war er, der Satz. Du hast dich zögernd aus dem Sessel erhoben und bist mit schlurfenden Schritten in die Küche gegangen, wo der Korb mit den leeren Sprudelflaschen stand. Mutti hatte ihn dorthin gestellt. Sie hatte in dieser Hinsicht auch kein Verständnis, obwohl sie sonst eine prima Mutti war.
Ihr hattet diesen Gewölbekeller, in dem man Kartoffeln für den Winter einlagern konnte, der Obst und Gemüse frisch und den Wein kühl hielt. An dessen Decke unzählige Spinnweben hingen, die man nicht entfernte, weil sonst der ganze Sandstein von der Decke gebröselt wäre.
In diesem Keller hatte es nur eine Lampe, deren fahles Licht Mühe hatte, den ganzen Raum zu erhellen.
Es war schummrig da unten, weißt du noch?
Es handelte sich um ein Haus mit mehreren Mietparteien, weshalb der Keller mit Holzlatten in verschiedene Bereiche eingeteilt war.
Man konnte durch einen langen Gang gehen, vorbei an den Latten, die in dem schummrigen Licht der schwachen Birne unheimliche Schatten in die einzelnen Keller warfen. Schatten, die auf die Bierkisten im Nachbarkeller fielen, und auf das Fahrrad im Keller gegenüber. Und du hattest furchtbare Angst. Nicht direkt vor den Schatten, aber vor dem, was sich hinter den Schatten verbarg. Deine Eltern hatten in dieser Hinsicht überhaupt kein Verständnis für dich, nicht wahr?
Ein so großes Mädchen, das immerhin schon in die fünfte Klasse geht, kann schon mal mithelfen und braucht sich auch nicht mehr vor einem dunklen Keller zu fürchten.
Aber den Tatort nach den Nachrichten haben sie dich trotzdem nicht anschauen lassen, obwohl am nächsten Tag die ganze Klasse darüber gesprochen hat. Alles, was nach den Nachrichten kam, war nichts für Kinder. Zu viel Gewalt und Erwachsenenkram.
Auch heute noch denkst du mit einem Schrecken an diese Zeit, und an diesen verfluchten Keller zurück, und an die schlaflosen Nächte, die sich einstellten, wenn es wieder an der Zeit gewesen war, Sprudel zu holen, den guten Ensinger, und meist auch zwei Flaschen Hofbräu für Paps, auch wenn Mutti es nicht leiden konnte, wenn er Bier trank. Dann roch er aus dem Mund und redete dummes Zeug.
Du lagst längst im Bett, die Decke über deine zugekniffenen Augen gezogen. Im Wohnzimmer lief der Tatort, den deine Eltern sich ansahen. Dazu tranken sie den Sprudel und das Bier, das du für sie aus dieser Folterkammer geholt hattest.
»Wie fandest du die Szene, wo Schimi dem Halbstarken die Fresse poliert hat?«, hatte dich Micha Krautter tags drauf schon auf dem Schulweg gefragt.
Ihr seid immer zusammen in die Schule gegangen, weil Micha nur zwei Stockwerke über dir wohnte und ihr ohnehin Klassenkameraden wart. Micha durfte immer den Scheiß-Tatort anschauen. Gut, seine Eltern waren nicht zu Hause. Die gingen abends in die Seemannsklause, eine kleine Kneipe zwei Straßen weiter unten, von der Papi immer sagte, dort würden die Bullen mindestens zweimal in der Woche eine Razzia machen, was immer das sein mochte. Vielleicht war es dort genau so schlimm wie in eurem Keller. Dort hatte noch niemand eine Razzia gemacht. Sie schickten keine Polizei. Sie schickten dich hinunter. Ganz allein.
»Wird das heut noch was? Wir wollen zu Abend essen!«, hatte dein Vater gerufen.
»Jaa! Ich geh ja schon…«, hast du gejammert und bist aus der Wohnung getrottet, wie ein Lämmlein, das zur Schlachtbank geführt wird, und bei dem keiner merkt, dass es ganz genau weiß, was ihm bevorsteht.
Micha Krautter saß um diese Zeit bestimmt schon vorm Fernseher mit einer Tüte Chips und ‚ner Flasche Cola. Er machte das öfters, weswegen er auch so einen Ranzen hatte.
Die Krautters hatten ihren Keller direkt neben dem von deinen Eltern, und einmal, als du in den Keller musstest, hast du verstohlen durch die Lattenwand in Krautters Keller geschaut, um nach schmutzigen Heften zu suchen, von denen Papi behauptet hatte, sie lägen dort herum. Aber es waren nur die Auto-Motor-Sport Ausgaben aus den letzten Jahren zu sehen. Und für Autos hast du dich nie interessiert. Der Micha war verrückt nach Porsches, Ferraris und dem ganzen Scheiss. Er hatte vermutlich keinerlei Probleme mit dem Keller. Er musste zweimal pro Tag hinunter wegen seinem Fahrrad. Man hatte ihm verboten, es im Hausflur stehen zu lassen. Zweimal pro Tag ist er die Kellertreppe hinunter. Diese verfluchte steinerne Treppe…
Erinnerst du dich?
Sie führte in einer leichten Biegung in diesen grauenvollen Kerker hinab. Rechts befand sich ein Drehschalter für das Licht.
Klack…
Man musste schon zweimal drehen, bis es Kontakt gab.
Klack…
Und dann ging das Licht an. Ein fahles schummriges Licht. Ein böses Licht!
Du bist da runter, hinab mit schlürfenden Hausschuhschritten, in der einen Hand den Korb mit den leeren Flaschen, die andere um das alte rostige Eisengeländer geklammert.
Und jedes Mal, wenn du heute in Gedanken diese Treppe hinuntergehst, ist es, als erweckst du in deinem Innern etwas Böses. Etwas sehr Böses. Und es ist, als würde die Phantasie zur Wirklichkeit, zur entsetzlichen Realität im Hier und Jetzt.
Du gehst vorsichtig da runter, weil es schon dunkel draußen ist. Je später es ist, desto vorsichtiger gehst du. Und als du den langen Lattengang siehst, bekommst du zum ersten Mal dieses saublöde Gefühl. Du weißt schon. Da ist doch jemand und so… Ist natürlich alles Quatsch!
Wirklich? Ist hier unten wirklich niemand? Oder raschelt da jemand in seinem Keller. Du denkst, bin wirklich allein hier unten oder ist da nicht…
Herr Berner vielleicht, der Kartoffeln holt oder Micha, der sein Fahrrad erst jetzt herunterbringt, der vielleicht schon eine Ohrfeige kassiert hat, weil es so lange im Hof hatte stehen lassen.
Frau Geisel wird sich beschwert haben, weil das Fahrrad so lange im Hausgang stand. Sie wird bei Krautters geklingelt haben, weil Herr Reif, der neue Hausbesitzer, ihr gesagt hat, sie solle als älteste Hausbewohnerin ein wenig auf die Ordnung im Haus achten. Und jetzt spielt sie sich auf, wie Hitler in seinen besten Zeiten. Jedes Mal, wenn sie deinen Vati oder deine Mutti sieht, erzählt sie von früher, vom Krieg und was die Sodaten mit der Else Weber von nebenan gemacht hatten. Und zwar in diesem Keller, in dem du jetzt stehst und dich fragst, ob da nicht doch jemand ist?
Doch dann stellst du etwas fest. Und du weißt nicht, ob du glücklich sein sollst über diese Feststellung, oder ob du in Schreikrämpfen ausbrechen, nach oben hasten, auf der Treppe stolpern und dir das Genick brechen sollst. Aber du bist allein hier unten, das ist die entsetzliche Wahrheit. Hier ist nämlich gar niemand. Verstehst du? Du bist ganz allein. Völlig!
Also gehst du zu eurem Keller und wirst das Gefühl nicht los, dass da einer ist, der dich beobachtet, aber du bist allein hier unten.
Wenn doch wenigstens Herr Berner da wäre, um Kartoffeln zu holen oder Micha sein schepperndes Fahrrad durch den Lattengang schöbe, dann könnte man sagen…
Ja, natürlich ist hier jemand. Der Micha ist‘s, der sein Fahrrad zum Keller schiebt. Sein Vater hat ihm gerade eine geknallt und seine Backe ist noch ganz rot von der Backpfeife.
Aber da ist eben gar niemand und du läufst schneller, weil du dieses beschissene Gefühl nicht los wirst, dass da einer im Keller sitzt und zuschaut, wie du Angst hast. Er sitzt nicht in deinem Keller. Oh, nein! Dann könntest du ihn ja sehen. Nein. Er sitzt dort, wo man nicht hinsehen kann. In einem der anderen Keller sitzt er und grinst… Ja, er grinst den Wahnsinn aus sich heraus. Es ist, als würde er von innen leuchten.
Er sitzt nur da, dieser eklige Kerl, und grinst. Es ist ein böses Grinsen. Ein Grinsen, das einen an die Grenze zum Verrücktwerden bringt. Er kauert auf dem Lehmboden, hat die Beine an seinen dürren Körper gezogen und seine dünnen Arme darum geschlungen. Er weiß, dass man allein hier ist und er weiß, dass man eine Scheißangst vor ihm hat. Er braucht weiter gar nichts zu machen. Er braucht nur dazusitzen und zu wissen, dass man hier unten ist. Allein.
Schleimiger, milchig-weißer Speichel läuft aus seinem Mund. Er hat Hunger. Schrecklichen Hunger hat er. Und er kichert ganz leise, weil jetzt jemand unten ist. Weil er nicht mehr so alleine ist. Und seine Wahnsinnsfreude ist so groß, das er noch mehr sabbert. Er sieht dich, aber du kannst ihn nicht sehen. Egal wie genau du jeden Keller inspizierst. Aber er ist da. Und grinst, den Wahnsinn aus seinen glühenden Augen. Er hat nämlich auf dich gewartet, weißt du?
Natürlich weißt du das. Und du beeilst dich, den blöden Sprudel und das Bier aus dem Keller zu schaffen. Schnell, sonst kommt er und dann…
Susi ist ein großes Mädchen! Alt genug, um sich an den Pflichten im Haushalt zu beteiligen. Nicht wahr, Susi? Du hast doch keine Angst, oder?
Und dabei sehnst du den Augenblick herbei, an dem du die verfluchte Kellertür hinter dir zugemacht hast. Du weißt, dass seine Fingernägel um mindestens fünf Zentimeter gewachsen sind, solange du hier unten warst.
Seine Haare, seine schneeweißen Haare sprießen aus seinem kranken Hirn, so schnell, dass man nur vom Hinschauen verrückt wird. Sie wachsen, solange das fahle Licht im Keller brennt. Hier unten. Wo du alleine mit ihm bist. Wo dich niemand hört, wenn du schreist. Und wahrlich… ein glasspringender Schrei wäre jetzt eines von den Dingen, die dir Entlastung verschaffen könnten. Natürlich lässt du diesen Unfug, denn…
Susi ist ein großes Mädchen, ein tapferes Mädchen, ein wunderschönes Mädchen…
Du denkst natürlich, es sei alles Einbildung. Aber das ist genauso ein Trugschluss, wie Herr Reifs Annahme, Frau Geisel sei die älteste Hausbewohnerin
Scheiße!
Du bist dir sicher: Die älteste Kreatur in diesem verfluchten Altbau muss dieser Kerl sein, der weitaus mehr Falten im Gesicht hat, als Frau Geisel in zehntausend Jahren haben wird. Der sicher älter ist als alle Hausbewohner zusammen. Der bestimmt schon hier war, bevor dieses Scheißhaus gebaut wurde. Der als einziger im Haus das Bombardement im zweiten Weltkrieg überlebte, weil er da noch unter dem Lehmboden vergraben gewesen war. Erst als sie aufgehört hatten Bomben zu werfen, kam er aus dem Boden gekrochen und hinterließ einen Haufen aufgeworfener Erde. Er hatte grinsend zugesehen, wie zwei Soldaten die Else Weber von nebenan im Keller vergewaltigten. Einer der Soldaten hatte, während sich sein Kamerad mit Elschen vergnügte, in das Loch gepisst und die aufgeworfene Erde mit seinen Stiefeln wieder reingedrückt. So hatte niemand das Loch entdecken können.
Der Verrückte hatte zugesehen, wie Elschen sich vier Monate später im Keller aufhängte, weil sie schwanger war und ihr Mann in Stalingrad vermisst wurde, bevor er sich wieder ein Loch buddelte, um darin zu verschwinden, bis ein nächstes Elschen kommen würde, das er beobachten könnte. Elschen war nämlich nicht die einzige, die hier unten verrückt geworden ist.
Fühlst du dich nicht auch ein wenig seltsam?
Du stehst in deinem Keller, legst sorgsam die Sprudelflaschen in dein Körbchen und weißt, dass dieser Verrückte hier irgendwo lauert. Du schließt zitternd die Lattentür zu eurem Keller ab und gehst eilig den Lattengang entlang. Plötzlich wird dir mit entsetzlicher Deutlichkeit bewusst, dass er hinter dir steht… grinsend, mit langen krummen Fingernägeln, die nicht aufhören wollen zu wachsen. Sie wachsen so schrecklich schnell, dass das Blut an den Nagelbetten heraustritt, an den krummen Nägeln entlangsickert und auf den Lehmboden tropft. Du wagst es nicht, dich umzudrehen, weil du weißt, dass du dann wahnsinnig wirst. Du läufst einfach nur schneller. Doch es scheint, als kämst du gar nicht von der Stelle, wie in einem beschissenen Alptraum. Und er steht hinter dir… Du weißt schon… mit blutigen Fingernägeln. Wenn du genau hinhörst, hörst du in seinem sabbernden Zischen, dass er einen alten Kinderreim ausspuckt…
»Seht ihn an da steht er… PFUI! Garst‘ger Struwwelpeter!…«
…und dann springt er an die gewölbte Sandsteindecke und kommt wie eine Spinne auf dich zugekrabbelt.
»…an den Händen beiden, ließ er sich nicht schneiden…«
Du wagst es nicht dich umzudrehen, sondern du beginnst zu rennen. Immer schneller…
»… seine Nägel…«
…kratzen an der Decke und der Sandstein prasselt auf den Lehmboden. Du eilst in panischer Angst die Kellertreppe hinauf, stolperst, verlierst einen Hausschuh. Doch du rennst weiter die Stufen hoch. Hinter dir wetzt der Wahnsinnige immer noch den Sandstein der Decke, der kiloweise zu Boden bröselt.
Immer noch!!!
Mach bloß schnell, sonst…
Du stößt die Kellertür auf, stürzt ins Treppenhaus und ziehst die verdammte Tür wieder zu. Schnell der Schlüssel. Den Sprudel hast du abgestellt. Mit der einen Hand hältst du die Kellertür zu, mit der anderen fummelst du den Schlüssel aus deiner engen Jeans. Du ziehst ihn aus der Hosentasche. Doch weil deine Hände wie Wackelpudding zittern, fällt er auf den Boden.
Hinter der Tür? Irgendwas ist hinter der Tür, verdammt noch mal.
Dann hast du die Tür endlich abgeschlossen und ein großer Felsbrocken fällt dir vom Herzen. Du gehst schnell nach oben, stellst die Flaschen in der Küche ab und machst, dass du ins Bett kommst.
Du versuchst erst gar nicht, deinen Eltern klar zu machen, was mit dir los ist. Warum du keuchst, wie ein Asthmakranker. Sie würden es nicht verstehen. Nicht einmal verstehen wollen.
Du sitzt beim Abendessen und mit der Zeit vergeht dieses saublöde Gefühl. Du beruhigst dich. Bis zum nächsten Mal, wenn du runter in den Keller musst. Wo er sitzt und wartet…
Der Mann im Keller.
