Miltons Tagebuch

Mein Name ist Martin Stack. Ich gehöre weiß Gott nicht zu den aufregendsten Menschen. Ich hatte nie irgendwelche Abenteuer erlebt oder war besonders interessanten Persönlichkeiten begegnet, ausgenommen natürlich meiner Frau. Auch plante ich damals keineswegs, mein Leben in lebendigere Bahnen zu lenken, als ich das in Leder gebundene Tagebuch fand, welches mir die wohl grausamsten Stunden meines Lebens bereiten sollte.

Es lag ganz harmlos an einer Straßenecke, nicht weit von meiner Wohnung. Der Fußtritt eines achtlosen Passanten oder der Wind mochten es aufgeschlagen haben. Es lag im Staub, wo es wild mit den Seiten flatterte und man unweigerlich darauf aufmerksam werden musste. Ich hob das Büchlein auf und blätterte darin. Zweifelsohne handelte es sich um ein Tagebuch, was man an den Einträgen unter Angabe des Datums erkennen konnte. Die Seiten waren vollgeschrieben, ja fast verziert mit fein säuberlichen Tintenstrichen, und je länger ich darin blätterte, desto neidischer wurde ich auf die Akribie und die schöne Schrift des Autors. Ich kam in Bedrängnis. Sollte ich darin lesen? Schließlich brach ich in die Geheimnisse eines Fremden ein. Andererseits sah ich sonst keine Möglichkeit, den Besitzer zu ermitteln, der das gute Stück bestimmt vermisste.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man ein Tagebuch so sauber führen kann und es dann einfach wegwirft. Vorn und hinten im Umschlag war weder eine Adresse noch ein Name zu finden. Auf dem Ledereinband fand ich die Initialen M. F. Ich schlug eine beliebige Seite auf und fand einen Eintrag, den ich aufmerksam las…

»Heute ist der siebzehnte August. Der Tag, an dem wir uns trennten. An dem sie davonflog. Wie ein Schmetterling, den man gerade noch in den geschlossenen Händen hielt und diese nur einen Spalt weit geöffnet hatte, um nachzusehen, was aus dem kitzelnden Flattern geworden ist. Noch 6 Wochen, dann werden wir wieder vereint sein…«

Ich verstand sehr wohl, dass es hierbei um das unfreiwillige Ende einer Liebschaft des Autors ging. Jedoch musste er über eine prophetische Gabe verfügen. Wie sonst hätte er die baldige Wiedervereinigung vorhersehen können? Oder hatten die beiden schon ein Treffen vereinbart? Die Zeilen hatten mich offen gestanden neugierig gemacht. Also schob ich das Büchlein ein und setzte meinen Weg ins Büro fort, wo ein Schreibtisch voller Arbeit auf mich wartete.

Erst am Abend fand ich Gelegenheit, mich meinem Fund zu widmen. Dazu hatte ich mir die alte Stehlampe neben den Sessel im Wohnzimmer gestellt und mir einen Cognac eingeschenkt. Meine Frau hatte beschlossen, früh ins Bett zu gehen und so räkelte ich mich gemütlich in den Sessel, steckte mir ein Pfeifchen an und nahm das Tagebuch zur Hand.

Schon nach den ersten Seiten hatte ich mir ein Bild über den jungen Autor machen können. Zweifelsohne ein Poet und sehr romantisch veranlagt. Er hatte eine leidvolle Kindheit hinter sich gebracht, wie man sie nur als Adoptivkind erlebt, dessen neue Eltern sich nie ganz sicher schienen, ob es richtig war, sich ein Heimkind ins Haus geholt zu haben. Ein Durchschnittsschüler, der nicht recht wusste, was er einmal werden wollte, aber seinem Adoptivvater zuliebe dessen Handwerk erlernt hatte.

Besonders ausführlich erzählte er von den Frauen in seinem Leben, angefangen bei seiner leiblichen Mutter, die ihn im Alter von zehn Jahren verlassen hatte. Er erzählte davon, wie er das erste Mal verliebt gewesen war, von seinem ersten Kuss… Ich musste unweigerlich an meine ersten Erfahrungen in Sachen Liebe denken.

Milton, so war sein Vorname, schien mit all seinen Sinnen, seinem Körper und Geist zu lieben. Die Trennungen waren Marter für ihn. Er hatte Träume notiert, in denen sich die Schmerzen des verlassenen Kindes widerspiegelten. Eindrücklich war mir jener in Erinnerung geblieben, wo er beschrieb, wie er auf einer kleinen Insel saß und der Wasserspiegel immer höher stieg. Die Boote, die vorbeifuhren und in denen die Frauen saßen, die er liebte, versuchte er verzweifelt zu erreichen, doch keine kam ihm nah genug, um ihn zu retten. Es waren die Zeilen eines armen, einsamen Menschen, der sich auf einer ewigen Suche nach Glück, Geborgenheit und Liebe befand, sie aber nie bekommen hatte.

Nach der Hälfte des Buches war mir Milton ein vertrauter Mensch geworden, und ich hatte vermutlich in den letzten beiden Stunden mehr über ihn erfahren, als jeder andere, der ihn persönlich kannte. Schließlich kam ich an die Stelle, wo er zum ersten Mal von Judith erzählte. Sie hatten sich in einem Café kennengelernt und sich für den nächsten Tag verabredet. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen den beiden eine feste Beziehung. Milton schien noch nie so glücklich zu sein. Sie zogen zusammen. Er berichtete von Hochzeitsplänen, Kindern und einer gemeinsamen Zukunft. Judith schien die erste Frau in seinem Leben zu sein, der er uneingeschränkt vertrauen konnte.

Ich wurde müde und beschloss, nach der angefangenen Seite schlafen zu gehen, doch dann folgten die erschütternden Einträge, die mich davon abhielten, meiner Müdigkeit nachzugeben.

Milton berichtete davon, wie man ihm die traurige Nachricht von Judiths Tod überbracht hatte. Sie musste wohl in Unachtsamkeit die Straße überquert haben, als ein Wagen sie frontal erfasst hatte. Milton hatte es wie einen Blitzschlag getroffen, und erst jetzt wurde deutlich, wie sehr er an ihr gehangen hatte. Mit jeder Silbe wuchs die Verzweiflung in diesem Menschen, der mir jetzt so nahe stand, dass ich ihm gerne ein Freund gewesen wäre.

Sein Leben schien ohne sie ein Nichts. Ein klägliches Dasein, voll mit Fragen über den Sinn des Lebens selbst. Manche nennen es Liebe. Er nannte es Hölle. Dann las ich den Eintrag über das Treffen, welches in sechs Wochen stattfinden sollte. Aber wie? Sie war tot. Ein Gedanke kam mir, der mich ahnen ließ, wie es weitergehen sollte. Milton arbeitete auf ein bestimmtes Ziel. Am Jahrestag ihrer Beziehung wollte er seinen Tod erzwingen.

»Es wird ganz leicht sein! Ich kann nicht mehr zurück. Es wird ein Fest, wenn ich an unseren Platz zurückkehre, zum letzten Mal. Ich gehe ohnehin zweimal die Woche dorthin, aber wenn sich unser Tag zum dritten Mal jährt, dann werden wir uns wieder in den Armen liegen. Ich werde mich an ihre warme Seite kuscheln und einschlafen, so wie früher. Auf Engelsschwingen fliege ich in ihre Arme. Ja, ich glaube, dass mir meine Liebe sogar die Fähigkeit zu fliegen verleihen würde…«

Ich blätterte und rechnete nach. Richtig, sie hatten sich am 31. Oktober kennengelernt, abends um halb acht. So hatte er es vermerkt. Ich sah auf das Zifferblatt meiner Armbanduhr und erschrak. Es war der 31. Oktober, 1 Uhr dreißig. Heute vor drei Jahren hatten sich Judith und Milton kennengelernt. Vermutlich würde er sich an dieselbe Uhrzeit halten. Das bedeutete, und nun hasste ich meine Mitwisserschaft, dass mir achtzehn Stunden blieben, um eine Katastrophe zu verhindern. Schlafen konnte ich nun nicht mehr. Ich musste etwas unternehmen. Sollte ich zur Polizei gehen? Ich blätterte wieder in dem Buch. Unglücklicherweise hatte Milton nie ihren gemeinsamen Treffpunkt mit Namen genannt, auch das fiel mir erst jetzt auf…

»Heute waren wir wieder an unserem Lieblingsplätzchen. Es gehört allein uns, auch wenn es andere dorthin verschlägt, so sind wir doch allein. Allein mit uns, und dabei sind wir glücklich. Wir sehen die Wiesen und Felder unter uns, die Türme der alten Sakristei und den Fluss, der sich träge durch die Stadt schiebt und sie in zwei gleich große Teile teilt. Verträumt klebt Dragon Hill auf der anderen Seite an der steilen Felswand. Judith sagte, sie möchte auch einmal dorthin…«

Dragon Hill? Er meinte die Burg, die über der Westseite der Stadt lag und tatsächlich, wenn man sie betrachtete, erhielt man den Eindruck, als klebte sie am Fels. Nach Miltons Beschreibung musste es sich um einen Ort handeln, der einen wunderschönen Ausblick bietet, dachte ich und überlegte. Doch wenn es etwas derartiges in Tudor gab, dann war dies Dragon Hill selbst. Ein anderer Aussichtsplatz war mir nicht bekannt.

Da saß ich nun mit einem leeren Glas Cognac und einem Tagebuch, dessen Autor mir inzwischen vertrauter erschien als mein eigener Bruder. Ich kannte weder seinen vollen Namen noch wusste ich, wo und wie er lebte. Aber eines war sicher… Ich musste versuchen, diesem Menschen zu helfen, egal wie. Ich grübelte nach und während ich meine Gedanken treiben ließ, schlief ich ein…

*

Ich wurde durch ein dröhnendes Schellen wach. Wie gerädert blinzelte ich im Zimmer umher, bis ich den rasenden Wecker vor mir auf dem Schreibtisch stehen sah. Plötzlich tauchte eine Hand aus dem Nichts auf und brachte das nervtötende Folterinstrument mit einem Handgriff zum Schweigen. Die Hand streckte sich aus dem Ärmel eines Bademantels. Ich richtete mich unter stechenden Rückenschmerzen auf und erblickte meine Frau Carol, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl saß und mich fragend ansah.

»Guten Morgen!«, stellte sie fest und verschränkte die Arme.

Ich streckte mich und kniff ein letztes Mal die Augen zusammen.

»Morgen… Wie spät ist es?«

»Es ist sechs Uhr dreißig, mein Schatz. Leider kannst du dich heute nicht noch mal auf die andere Seite drehen. Du würdest nämlich aus dem Sessel fallen!«

»Carol, bitte sei nicht ironisch…«

»Wenn du mich gütigerweise in die Geheimnisse deiner neuen Schlafgewohnheiten einweihen würdest, wäre ich dir sehr dankbar.«

»Was? Oh, mein Gott!«

»Martin?«

Ich schreckte hoch. Jetzt erst fielen mir wieder die Ereignisse der letzten Nacht ein. Das Tagebuch, Milton und sein schreckliches Vorhaben. Ich sprang auf und lief zu dem Tischchen, auf dem das Tagebuch noch immer aufgeschlagen dalag.

»Willst du mir jetzt erklären, was…«

»Carol!«

»Martin?«

»Du wirst es nicht glauben, aber…«

So knapp wie möglich und doch darauf bedacht, keine wichtige Einzelheit auszulassen, erzählte ich Carol, was ich wusste. Sie erfasste die Bedeutung der Geschichte sehr schnell und reagierte…

»Du musst zur Polizei gehen!«

Richard Molligan, der Abteilungsleiter meiner Firma, zeigte einge Zeit später eine Anwandlung von Verständnis und willigte ein, als ich um einen Tag Urlaub bat. Meine kratzige Stimme unterstützte ihn in dem Glauben, dass ich zu krank sei, um der Firma heute von Nutzen sein zu können. Danach machte ich mich auf den Weg zum nächsten Polizeirevier…

*

»Und Sie haben das Tagebuch gestern gefunden?«

»So ist es, Inspektor. Was werden Sie unternehmen?«

»Mr. Stack, es ist äußerst schwierig für uns, überhaupt etwas zu tun. Wir wissen nicht, wer, wo und wann sich umbringen wird. Vielleicht hat dieser Milton es sich anders überlegt. Vielleicht hat er es auch schon getan. Wir wissen es nicht.«

»Aber Inspektor!«, rief ich empört und zeigte auf das Tagebuch. »Da drin steht eindeutig, dass sich ein gewisser Milton F. heute Abend um 19.30 von einem Aussichtspunkt in dieser Stadt stürzen wird! Einen Aussichtspunkt, von dem man Dragon Hill aus sehr gut sieht. Es dürfte doch nicht so schwer sein…«

»Mr. Stack! Ich habe weitaus wichtigere Dinge zu tun, als irgendwelchen Vermutungen nachzujagen. Mein Schreibtisch ist voll mit derartigen Drohungen und Ankündigungen, von denen die meisten nur dazu dienen, uns das Leben schwer zu machen«, sagte er mehr als bestimmend und schlug mit der Hand auf einen Stapel Akten. »Außerdem, was meinen Sie, wie viele Menschen namens Milton F. in dieser Stadt herumlaufen. Die Chancen, den richtigen zu finden, sind gleich null.«

»Ja, aber…«

»Wir werden dieses Tagebuch unserem psychologischen Berater vorlegen….«

Ich setzte erneut zum Sprechen an.

»…dessen Zeit allerdings auch begrenzt ist!«, unterbrach der Polizeibeamte mich bestimmend.

»Na, wunderbar«, murmelte ich und beschloss insgeheim, nie wieder die Hilfe dieser Institution in Anspruch zu nehmen. Ich erhob mich wortlos und war noch nicht ganz zur Tür hinaus, als…

»Mr. Stack.«

»Ja?«

»Und bitte versuchen Sie nicht selbst Sherlock Holmes zu spielen. Dieses Spiel beherrschen wir besser. Einen schönen Tag noch, Mr. Stack.«

Ich nickte dem Inspektor noch einmal zu und ging.

*

»Sherlock Holmes!?!«

»Das waren seine Worte«, sagte ich.

Carol schien nicht nur über das offensichtliche Desinteresse der Polizei entrüstet, sondern auch über den Mangel an Feingefühl, der ihrer Meinung nach dem Ernst der Lage angemessen gewesen wäre.

»So ein arroganter Fatzke!«

»Carol!«

»Er ist ein neunmalkluger Schreibtischhengst. Es gibt keineswegs unzählige Milton F.s in dieser Stadt, sondern nur fünf.«

»Wie bitte?«

»Und dann gibt es noch einen Fuller – M., der heißt aber Marcus.«

»Carol, könntest du mir sagen, woher du das alles weißt?«

»Das Telefonbuch, Martin. Das Telefonbuch!«

Triumphierend über die Einfallslosigkeit der Polizei war Carol zum Schreibtisch gegangen und klopfte auf das aufgeschlagene Telefonverzeichnis.

»Ich habe mir schon gedacht, dass die Polizei sich herzlich wenig für ein Tagebuch interessieren wird. Also habe ich mich selbst bemüht. Es gibt unter dem Buchstaben F, wie ich bereits erwähnte, fünf Männer mit dem Vornamen Milton. Drei von ihnen habe ich telefonisch erreicht. Forsyth, Franklin und Fillings. Keiner von ihnen vermisst ein Tagebuch. Bleiben also zwei.«

Sie drückte mir einen Zettel in die Hand.

»Was ist das?«

»Die Adresse von Mr. Milton Fowler. Aim-Street 16.«

»Was um Gottes willen hast du vor?«

»Nicht ich, mein Schatz. Wir! Du setzt dich in den Wagen und versuchst diesen Fowler zu erreichen. Ich nehme ein Taxi und fahre in die Fleet-Street Nummer 4, zu Mr. Milton Forrester.«

»Moment mal, Carol. Der Inspektor…«

»Der Inspektor hat eine Menge Akten auf seinem Schreibtisch liegen und wir haben einen freien Nachmittag, den wir nutzen sollten.«

*

Und während Martin und Carol verzweifelt versuchen, etwas über Milton herauszubekommen, irrt zur gleichen Zeit ein junger Mann durch die Straßen der Stadt. Ab und zu bleibt er vor einem Schaufenster stehen und betrachtet die Auslagen. Doch seine Gedanken ziehen durch eine andere Welt. Er geht weiter. Ohne Ziel läuft er schon seit Stunden durch die Straßen und grübelt…

»Nicht mehr lang. Dann sind wir wieder zusammen. Dann können wir den ganzen Tag miteinander verbringen und die ganze Nacht. Und das jeden Tag und jede Nacht bis in alle Ewigkeit. Aber gibt es dort, wo du bist, überhaupt Tag und Nacht? Gibt es dort überhaupt etwas? Warum hast du mich nur verlassen? Du warst doch mein einziger Freund. Nachdem du fort warst, hatte ich noch ein Tagebuch. Das teilte meinen Kummer. Aber selbst das ist jetzt weg! Ich hab es verloren. Ich weiß nicht mehr wann und weiß nicht mehr wo. Das zeigt, was für ein schwacher Trost es war. Ich will zu dir…«

*

Carol entwickelte in manchen Dingen einen ungewöhnlichen Enthusiasmus. Besonders dann, wenn sie sich provoziert fühlte. Ich beugte mich also der sanften Gewalt. Einerseits wollte ich auf keinen Fall Streit mit Carol, andererseits war ich ebenso daran interessiert, Milton zu helfen. So fuhr ich in die Aim-Street und klingelte bei Mr. Milton Fowler. Als niemand öffnete, schien mir der Anlass angemessen, und ich klingelte in der Nachbarschaft. Ein Fenster öffnete sich und eine ältere Dame musterte mich misstrauisch.

»Ja?«

»Entschuldigen Sie, Madam. Aber ich suche Mr. Fowler!«, rief ich und versuchte einen seriösen Eindruck zu erwecken.

»Der liegt im Krankenhaus! Was wollen Sie denn von ihm?«

Kein gutes Zeichen. Überhaupt kein gutes Zeichen! Im Krankenhaus… Aber besser als im Leichenschauhaus.

»Ich wollte ihn nur fragen, ob er etwas verloren hat!«

»Was denn?«

»Ein Tagebuch!«, rief ich, ohne darüber nachzudenken, was ich an Leute plapperte, die das Ganze ja im Grunde gar nichts anging.

Sie winkte ab und deutete an, dass sie herunterkommen würde. Ich erkannte in ihrem Blick ein sensationslustiges Funkeln.

»So, nun erzählen Sie mal«, eröffnete sie ihren Katalog lüsterner Fragen. »Was steht denn in dem Tagebuch? Was Schlimmes?«, fragte sie weiter mit einer kratzigen Stimme.

Es handelte sich ohne Zweifel um eine Frau, die nur darauf wartete, Geheimnisse zu erfahren, die sie dann an andere Klatschtanten weitererzählen konnte.

»Hören Sie, das ist wirklich sehr privat, könnten Sie mir sagen, in welcher Klinik Mr. Fowler liegt?«

»In der geriatrischen Klinik, draußen vor der Stadt.«

»Geriatrie? Wie alt ist denn Mr. Fowler?«

»Er dürfte jetzt auch schon an die 70 sein. Warum?«

»Dann kann er nicht der Mann sein, den ich suche. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich…«

»Sie haben es also gelesen, wie? Was steht denn da drin?«

»Nichts! Leben Sie wohl…«

»Warten Sie…«

Ich hastete zurück auf die Straße. Einerseits froh, dieser unverschämten Alten entgangen zu sein, andererseits enttäuscht, dass ich Milton, meinen Milton, nicht gefunden hatte.

Müde und resigniert fuhr ich nach Hause. Vielleicht hatte es ja doch keinen Sinn, weiter zu suchen. Wenn Carol ebenfalls keinen Erfolg gehabt hatte, lag es an mir, ihr auszureden, weiter nach dem Jungen zu fahnden. Mir graute davor, weil ich wusste, dass Carols Mutterinstinkte geweckt worden waren, die sie bis heute nicht an den Mann hatte bringen können. Wir selbst hatten keine Kinder. Carol konnte nach einem Badeunfall, den sie im Alter von siebzehn Jahren erlitt, keine Kinder bekommen. Sie hatte kaum darüber gesprochen, aber ich wusste, dass sie ihr Leben lang darunter gelitten hatte.

*

Zur selben Zeit schlenderte Inspektor Norman Wheeler den langen Gang seiner Abteilung entlang, bog ins Treppenhaus und fuhr mit dem Aufzug zwei Stockwerke höher. Er ging den Flur entlang und klopfte an der zweiten Tür rechts, mit der Aufschrift Dr. William Harling – Kriminalpsychologe. Nach einer Aufforderung trat er ein und machte die Tür leise hinter sich zu. Vor ihm saß ein gedrungener Mann Mitte vierzig am Schreibtisch über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt.

»Und? Was meinen Sie, Doc?«, fragte Wheeler und schob seine Hände in die Hosentaschen.

»Mm… Ich denke, dass wir es hier mit einem sehr verzweifelten Menschen zu tun haben, der zu allem entschlossen ist«, sagte Harling und schob seine Brille auf die Stirn. »Vom psychologischen Standpunkt ist alles ziemlich klar. Miltons Mutter verließ ihn, als Milton zehn Jahre alt war. Dies war ein traumatisches Ereignis, dessen qualvollen Trennungsschmerz er durch Judiths Tod wieder erlebt. Seine Aggressionen gegen den geliebten Menschen, der ihn sozusagen durch sein Fortgehen im Stich lässt, richten sich gegen Milton selbst, weil er sie anders nicht zulassen kann. Dadurch gibt er sich vermutlich sogar die Schuld dafür. Nicht nur, dass seine Mutter ihn verließ, sondern auch für Judiths Tod, mit dem er eigentlich gar nichts zu tun hat. Das Ganze läuft unbewusst ab. Er spürt nur die Verzweiflung und den Wunsch, sich selbst zu töten. Einerseits um mit dem geliebten Menschen wieder vereint zu sein, andererseits um das Geschehen wieder gut zu machen.«

»Was können wir tun?«

Harling zuckte mit den Achseln. »Es gibt zwar Hinweise über Ort und Zeitpunkt des geplanten Suizids. Aber ich bezweifle, dass dieser Mensch noch in der Lage ist, nach einem Plan vorzugehen. Wie gesagt… Er ist verzweifelt und allein.«

»Was sind das für Hinweise?«

»Nun, Ihr Zeuge hat recht. Dieser Milton hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach vorgenommen, heute Abend gegen 19.30 das Leben zu nehmen. Und zwar an einer Art Aussichtspunkt auf der Nordseite der Stadt. Er will sich vermutlich zu Tode stürzen.«

»Was schlagen Sie vor?«

Harling zuckte wieder mit den Achseln. »Entweder wir schaffen es, diesen ominösen Aussichtspunkt zu finden und schicken um die genannte Zeit einige Beamte dorthin – ganz unverbindlich versteht sich –, oder wir warten solange, bis weitere Meldungen eingehen.«

»Weitere Meldungen?«

»Nun, ob jemand seine Leiche findet…«

*

»Aufgeben? Bist du verrückt? Ich habe ihn gefunden!«

»Carol, du hast niemanden gefunden. Niemand war da, als du bei Milton Forrester geklingelt hast. Nicht mal Nachbarn hast du gefunden, die dir hätten Auskunft geben können.«

»Martin, es waren zwei Möglichkeiten offen. Dein Milton war nicht der Richtige, also muss es meiner sein. Selbst wenn er nicht da war. Ich meine, das spricht doch sogar dafür, dass ich recht habe. Er irrt wahrscheinlich irgendwo herum…«

»Und was willst du jetzt tun?«

»Die Polizei anrufen!«

Als ich mich weigerte, diese Aufgabe zu übernehmen, tat es Carol selbst. Und wenn sie etwas machte, dann machte sie es mit ihrem ganzen Ehrgeiz. Dass sie zehn Minuten später schluchzend auf dem Sofa saß, war im Prinzip nicht schwer vorauszusehen…

»Dieser Nichtsnutz von einem Polizisten hat gesagt, ich solle mich nicht in seine Ermittlungen einmischen!«

»Mmm…«

»Er hat gesagt, dass die Zeiten der großen Detektive vorbei seien, und ich solle mich nicht als Miss Marple aufspielen.«

»Carol, ich…«

»Du brauchst gar nicht erst versuchen, mich zu trösten. Ich werde still sitzen bleiben und mich nirgends mehr einmischen.«

»Und ich werde in die kleine Konditorei an der Ecke gehen und uns ein Stück Kuchen holen!«

Gesagt, getan… Ich hielt es für das Beste, Carol abzulenken. Aber als ich wiederkam, wartete sie im Mantel auf mich…

»Martin, stell den Kuchen in den Kühlschrank. Wir fahren in das Aussichtscafé bei der Wetterstation!«

»Was?!«

»Ich habe eben mit Luise telefoniert, und sie sagte, es gäbe eine andere Aussichtsmöglichkeit auf dieser Seite der Stadt. Sie war letzte Woche mit ihren Enkeln dort.«

»Carol. Vor zwanzig Minuten noch…«

»Papperlapapp! Wir gehen einen Kaffee trinken. Nichts weiter.«

»NEIN!«

»Nein?«

»Du wirst zu Hause bleiben, Carol. Ich fahre allein dorthin. Du bist zu besessen von Milton. Ich bin noch in der Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren.«

»Aber Martin…«

»NEIN! Entweder ich fahre allein, oder keiner von uns fährt.«

Ich bin normalerweise nicht der Mensch, der dazu neigt, seinen Willen auf eine derart bestimmende Weise durchzusetzen. Aber Carol ließ mir keine andere Wahl. Offen gestanden, wunderte ich mich darüber, dass sie einwilligte. Aber ich war froh darüber. So konnte ich meine Aufmerksamkeit auf Milton lenken und musste nicht auf die Nervosität meiner Frau achten.

*

Und während Martin sich auf den Weg macht, steht auf einem Aussichtsplateau ein junger Mann und beugt sich weit über das Geländer. Er blickt hinunter in die Tiefe und kokettiert mit dem Abgrund unter sich. Er stellt sich vor, was wäre wenn…

»…wenn ich jetzt fallen würde. Dann wären wir wieder zusammen. Ich würde fliegen. In deine Arme würde ich fliegen. Es gäbe keine Kluft, keinen Abgrund mehr, der uns trennt. Aber irgendetwas hält mich zurück. Irgendetwas kettet mich an dieses verfluchte Geländer und will mich von dir fernhalten. Vielleicht brauche ich noch etwas Zeit. Vielleicht gehe ich noch ein paar Schritte, bevor…«

Und dann kullern dem jungen Mann ein paar Tränen über die Wangen.

*

Etwas später drückte ich mich auf der großen Aussichtsplattform zwischen Besuchern herum und beobachtete die Menschen, die sich hier tummelten. Viele waren es nicht. Ich konnte auch den Platz gut übersehen. Eine betonierte Fläche, etwa 20 Meter lang und 10 breit. An der Hausseite standen aufbestuhlte Tische.

Ich beugte mich über das Stahlgeländer und blickte in die Tiefe. Ein steiler Abgrund tat sich vor mir auf, der mich schwindlig werden ließ. Die Betonwand der massiven Befestigung ging in Fels- und Geröllwände über, an deren Fuße ein kurzes Waldstück lag. Man konnte sich leicht ausmalen, was passieren würde, wenn sich jemand in den gut 50 Meter tiefen Abgrund stürzte.

Ich blickte auf die Uhr. Es war soweit. Die Zeit war abgelaufen und jeden Moment musste Milton auftauchen. Da fiel mir plötzlich ein junger Mann auf, der träge zum Geländer schlurfte, die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben. Ich musterte ihn, fixierte ihn und dann wusste ich, dass es Milton war. Er legte seine Hände aufs Geländer und atmete schwer, als…

»Milton! Nein!«, rief ich und rannte. Ich rannte zu ihm und riss ihn vom Geländer weg, über das er sich gebeugt hatte. Wir landeten auf dem harten Betonboden, wo ich mich auf ihn warf. Er wand und wehrte sich unter mir. Umso schwerer hatte ich es, seine Arme auf den Boden zu drücken. Verzweifelt redete ich auf ihn ein…

»Milton, ich habe dein Tagebuch gelesen… Du darfst das nicht tun. Sei vernünftig, sie kommt dadurch nicht zurück…« Dann spürte ich einen dumpfen Schlag auf meinen Hinterkopf und sank in eine tiefschwarze Ohnmacht…

*

»Also noch mal… Sie wollten also Mr. Miller daran hindern, sich von der Brüstung des Plateaus zu stürzen!« Der Inspektor steckte vor mir auf und ab, immer wieder dieselben Fragen stellend. Ich selbst war im Foyer des Cafés auf einer Couch erwacht, wo mich ein Sanitäter als vernehmungsfähig eingestuft hatte. Man hatte mich mitgenommen. Nun saß ich in einem ungemütlichen Zimmer irgendeines Polizeireviers und hielt mir meinen Brummschädel, während ich dem Beamten zum x-ten Male die Geschichte von Milton, dem Tagebuch und der aufregenden Suche erzählt hatte.

»Ich wollte nicht Mr. Miller retten, sondern Milton Forrester!«

»Sie haben aber Mr. Miller das Leben gerettet!«, sagte er ironisch. »Wie, Mr. Stack, erklären Sie sich ferner den Umstand, dass Mr. Forrester, nachdem Sie dem falschen Mann das Leben gerettet haben, nicht doch noch von der Plattform gesprungen ist?«

»Ich weiß es nicht, Inspektor! Nachdem mir einer Ihrer Mitarbeiter auf den Kopf geschlagen hatte, weil er dachte, ich wolle Mr. Miller an den Kragen gehen, war ich bewusstlos. Woher soll ich wissen, wo Milton ist? Meine Brieftasche ist auch weg.«

»Noch ein merkwürdiger Umstand, den es zu klären gilt. Immerhin scheint ja die Adresse von dem Jungen zu stimmen, die Sie uns gegeben haben. Leider war Mr. Forrester nicht zu Hause.« Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den schweren Aktenschrank und schaute mich vorwurfsvoll an.

»Sagen Sie mal, warum haben Sie und Ihre Frau sich nicht aus der Sache rausgehalten?«

»Ich weiß nicht… Vielleicht…«

»Ja?«

»Vielleicht wollte ich…«

»Sherlock Holmes spielen?«

»Hören Sie, ich bin müde, habe Kopfschmerzen und absolut keine Lust mehr, mich über die Vorfälle der letzten vierundzwanzig Stunden zu unterhalten.«

»Das kann ich mir allerdings vorstellen.«

»Könnten wir nicht… ich meine, könnten wir nicht morgen weitermachen?«

»Mr. Stack, ich will Sie nicht länger hier behalten als nötig. Mr. Miller wird von einer Anzeige absehen, da Sie sich immerhin bei ihm entschuldigt haben. Ich wollte lediglich sichergehen, dass Sie draußen nicht auf den nächsten losgehen. Im Prinzip ist die Sache von meiner Seite aus erledigt. Was Milton betrifft, bleibt uns nichts weiter, als abzuwarten. Ich will Ihnen und Ihrer Frau jedoch den guten Rat geben, sich das nächste Mal herauszuhalten. Sie ersparen sich eine Menge Ärger. Die Beule wird Sie noch eine Weile daran erinnern, dass auch die Polizei nicht untätig ist. Unsere Beamten sind schließlich zu denselben Ergebnissen gekommen wie Sie. Also, das nächste Mal…«

»Ich weiß! Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mir so etwas noch einmal passiert…«

Ich fuhr mit dem Taxi nach Hause. Mir war es inzwischen egal, ob Milton tot oder lebendig war. Ich wollte nur noch schlafen. Zu Hause angekommen, stand ich vor meiner Haustür und kramte nach dem Schlüssel, als plötzlich die Tür aufsprang. Carol stand vor mir und sah mich verstört an.

»Martin, da ist jemand, der mit dir sprechen möchte. Es ist Milton.«

»Was?« Ich stand wie angewurzelt da und wusste nicht, ob ich vor Freude ins Haus stürzen und ihm um den Hals fallen oder ihm eine kräftige Ohrfeige verpassen sollte.

Schweigend betraten wir die Wohnung und gingen ins Arbeitszimmer, wo Milton bereits wartete. Als er mich erblickte, stand er auf. Ich deutete ihm an, dass er sitzenbleiben könne. Carol, die vermutlich schon ausgiebig mit ihm gesprochen hatte, setzte sich etwas abseits.

Eine ganze Weile saßen wir schweigend da. Milton schluckte und begann dann doch zögernd zu erzählen, vermutlich weil er die drückende Stille nicht länger ertragen konnte.

»Ich war da… Heute Abend, meine ich, auf der Aussichtsplattform, als Sie versucht haben… mir das Leben zu retten. Sie haben während der Rauferei Ihre Brieftasche verloren. Ihre Adresse stand drin. So kam ich hierher.«

Mit zitternder Hand legte er die Geldbörse auf den Tisch.

»Sie können nachzählen. Es fehlt nichts!«

»Das glaube ich Ihnen auch so.«

»Das, was geschehen ist, tut mir leid.«

»Ich weiß, Milton. Aber denken Sie lieber an sich. Durch einen Selbstmord laufen Sie doch nur vor dem davon, was Sie ohnehin nicht mehr ändern können.«

»Bis vorhin dachte ich vor allem, dass es niemanden interessieren würde, ob ich tot oder lebendig bin. Ich habe eigentlich niemanden…«

»Vielleicht sind Sie es auch, der niemanden an sich heranlässt? Wir wussten nur von Ihren Qualen, weil ich meine krankhafte Neugier nicht zügeln konnte!«

Milton lächelte verhalten. »Kann sein… Vielleicht sollte ich mich wirklich mehr öffnen.«

»Und vielleicht sollten Sie das bei jemandem tun, der etwas mehr vom menschlichen Seelenleben versteht.«

»Hmm… Vielleicht.«

Noch heute erinnere ich mich an diese Nacht, als wäre es gestern gewesen. Wir redeten noch sehr lange, und am nächsten Tag begann unsere Suche nach einem geeigneten Therapeuten für Milton. Er lernte andere Menschen kennen und vertiefte die Kontakte. Meist zu denen, die ähnliche Probleme hatten wie er.

Mit der Zeit fand Milton wieder einen Sinn im Leben. Und selbst als sein Analytiker ihm offenbarte, dass es wohl noch Jahre dauern würde, bis er ein völlig freies Leben führen könne, erzählte er uns, dass er trotz allem nicht mehr so schnell aufgeben wolle.

Carol und ich hatten ebenfalls sehr viel dazugelernt. Dass es sich immer lohnt zu kämpfen. Selbst wenn der Kampf im ersten Moment sinnlos erscheint. Es war, als hätte uns das Schicksal einen Sohn geschenkt. Milton besuchte uns noch sehr oft und eines Tages stellte er uns seine neue Freundin vor, die er ein Jahr später heiratete. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Carol und ich lagen abends im Bett. Sie konnte sich nicht auf ihren Kriminalroman konzentrieren…

»Martin?«

»Ja?«

»Miltons Freundin ist nett, oder?«

»Ja. Sehr nett.«

»Hmm…«

Ich drehte mich zu ihr und sah ihr einen Moment tief in die Augen.

»Du bist doch nicht eifersüchtig, oder?«

Sie lächelte.

»Ich glaube, Mütter sind nun mal so…«

***

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