One Night Stand

Hartmut hatte sich eine Kanone besorgt. Und als er darüber nachdachte, erschien es ihm im Nachhinein als die einfachste Sache der Welt. Er hatte bei seinen Großeltern vorbeigeschaut. Ganz unverbindlich. Hatte sich Opas Kriegsgeschichten angehört, von denen er überzeugt war, dass sie allesamt erstunken und erlogen waren. Doch er ließ dem alten Herrn seinen Spaß und hörte sich dessen Geschichten zum hundertfünfzigsten Mal an. Wie er in Stalingrad einen Iwan nach dem anderen abgeknallt hatte und ihm dann so ein feiges Russenschwein ein Messer von hinten in die Schulter gerammt hatte. Wie er dem Tod noch gerade mal so über die Schippe gesprungen war und dass er jetzt, mit nur einem Lungenflügel, ein gottverdammtes medizinisches Wunder darstellte. Dass er sich eine Röntgenaufnahme seines Brustkorbes nicht im Schlafzimmer übers Bett hängte, fehlte gerade noch.

Jetzt war Opa Ehrenmitglied im Schützenverein und hatte vor zehn oder zwanzig Jahren einmal Platz neun der deutschen Combat-Schützen-Meisterschaften belegt. Es war widerlich, wie er sich an seiner Schießwut und seiner Treffsicherheit aufgeilte. Hartmut hatte es zwei Stunden im Wohnzimmer des alten Herrn ausgehalten und damit das Maximum an Erträglichkeit erreicht. Wenn er sich vorstellte, dieses perverse Geschwätz sich täglich anhören zu müssen, endeten seine Phantasien immer bei der Vorstellung, Opa solange ein Kissen aufs Gesicht zu drücken, bis er aufhörte japsend zu zucken und als lebloser alter Sack auf seinem Sofa im Wohnzimmer unter den zahlreichen Rehbock-Trophäen liegen blieb.

Oma hatte vor zwei Jahren das Handtuch geworfen. Nach einem Leben voller Entbehrungen und Selbstaufopferung. Bestimmt hatte sie sein Geschwätz auch nicht mehr mitanhören können.

Ein halbes Jahr hatte es gedauert, bis sich Opa eine neue Frau ins Haus geholt hatte. Damals war die Familie aus allen Wolken gefallen. Niemand hätte dem alten Bock noch so etwas zugetraut. Und er hatte sich sogar noch eine ganz nette Person herausgesucht. Rosa war eine alte Schulkameradin von Opa gewesen, auf die er wohl schon damals als junger fescher Panzergrenadier scharf gewesen sein muss. Vierzig Jahre später hatten drei oder vier Telefonate und ein Kurzurlaub in Berchtesgaden gereicht. Dann stand sie mit zwei Koffern vor seiner Tür, bereit den Haushalt zu übernehmen, seine verschwitzten Hemden zu waschen und ihm täglich eine warme Mahlzeit zu servieren. Im Gegenzug behandelte er sie jetzt genauso schlecht, wie er Oma behandelt hatte. Rosa würde es vermutlich auch nicht mehr lange machen, und obwohl Hartmut sie ganz nett fand, war es ihm inzwischen scheißegal.

Er verstand sich gut mit ihr, brachte ihr Blumen und schmierte ihr ab und zu ein wenig Honig ums Maul. Ja, er mochte sie sogar, auch wenn es ihm schwerfiel, dies zuzugeben. Im Grunde mochte er auch seinen Großvater. Er liebte ihn sogar. Er hatte ihn immer bewundert. Er hatte es sogar bewundert, dass der alte Bock sich noch mal eine Frau ins Haus geholt hatte, zum Entsetzen der restlichen Familie. Aber Hartmut war an einem Punkt in seinem Leben angekommen, an dem es egal war, ob er jemanden mochte oder einmal bewundert hatte. Es interessierte nicht.

Es gab nur noch die Wut und die Verzweiflung, weil alles, was ihm einmal wichtig gewesen war, an Bedeutung verloren hatte. Es tat ihm vielleicht sogar in einem dunklen Winkel seiner Seele leid, dass er Rosa belogen hatte. Aber er hatte erreicht, was er gewollt hatte, und auf ihn hatte schließlich auch niemals jemand Rücksicht genommen.
Sie hatte ihm die Pistole aus dem Waffenschrank geholt.

Dieses Wunderwerk der Waffenkunst. Eine Colt Gold Cup mit allerlei Gravuren und Vergoldungen. Die Waffe war so schön, war es da nicht schade, dass Großpapa immer zum Waffenschrank laufen musste, um sie sich anzusehen? Wäre es nicht schön, wenn Opa ein paar schöne Fotografien von seinem besten Stück an der Trophäenwand im Wohnzimmer hängen hätte? Und da Hartmut leidenschaftlicher Hobbyfotograf war, und Rosa es für eine ganz tolle Idee hielt, holte sie heimlich die Knarre aus dem Panzerschrank, packte sie in einen Stapel mit Handtüchern und gab sie dem guten Jungen mit. Denn Opas Geburtstag war schon in zwei Wochen. Heißa, was wird der sich drüber freuen!

Hartmut freute sich zunächst nur über Rosas gottergebene Naivität. Weil Hartmut nie im Leben auf so eine Schnapsidee gekommen wäre, außer natürlich um an eine Waffe zu kommen. Sie hatte ihm sogar das Päckchen Patronen gegeben, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich möchte, dass die passenden Patronen mit aufs Bild kommen!« hatte er gesagt und ihr im Detail erzählt, wie er sich die Waffe auf einem roten Samtteppich vorstellte, davor die glänzenden Patronen, in einer Reihe aufgestellt, wie kleine Soldaten, zur Parade angetreten.

Das Einzige, was Hartmut jetzt Unbehagen bereitete, war, dass Rosa vermutlich an einem schlechten Gewissen sterben würde, wenn sie davon erfahren würde, wozu Hartmut letztlich die Waffe verwendet hatte. Doch er war gewillt, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, weil er jetzt endgültig die Schnauze voll von allem hatte. Er wollte die Sache hinter sich bringen… kurz und schmerzlos. Ein satter Schuss in die Schläfe und alles war vorbei. Nach ihm die Sintflut.
Er hatte sein Leben so satt, wie man sein Leben nur haben konnte. Alles, was er angepackt hatte, war schiefgelaufen. Eine eigene Zeitschrift hatte er herausbringen wollen. Eine Zeitschrift, für die sich aber kein Schwein interessierte. Seinen Job hatte er deswegen aufgegeben, wovon keiner etwas wusste. Mit der Miete war er satte drei Monate im Rückstand. Die Trennung von Cora, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützen wollte, und die er mit seinem besten Kumpel im Bett erwischt hatte, hatte ihm den Rest gegeben. Jetzt saß er in einem Taxi und fuhr nach Hause. Dort würde er tun, was er tun musste. Er hatte alles bis ins Kleinste Detail geplant.

*

Die Frau neben ihm am Steuer des Taxis mochte nicht viel jünger sein als Rosa. Trotzdem war sie anders. Sie trug Jeans und ein weites T-Shirt. Ihr Haupt zierte kein alter Oma-Hut, sondern eine Baseball-Mütze, wie sie jetzt ganz groß in Mode waren. Der Schriftzug auf der Mütze lautete WHILE-E, und Hartmut hatte einen Moment darüber nachgedacht, was das wohl bedeuten könnte, doch er schaffte es nicht, sich darauf zu konzentrieren. Auf seinen Knien lag ein Stapel mit Handtüchern, dazwischen eine vergoldete Colt Gold Cup. Und es sollte jetzt eigentlich nichts mehr geben, über das es sich gelohnt hätte nachzudenken. Er brauchte frische Luft. Im Auto war es stickig, wie in einem Kartoffelsack. Er suchte die Innenseite der Tür nach der Fensterkurbel ab. Die Alte protestierte mit einem Akzent, der sich nach asozialem Milieu anhörte.

»Lassen se mal! Ich mach die Klimaanlage an. Es wird gleich kühl… gleich wird‘s kühl. Richtich kalt sogar.«

»Schon in Ordnung«, sagte Hartmut und legte seine Hand auf die Handtücher.

»Ich hab‘ ‚ne Kieferoperation hinter mir und vertrage den Zuch nicht. Das geht ja auch nicht. Erst schneiden se einem im Gebälk rum und dann Zugluft. Da kann ich ja gleich den Löffel schmeißen!«

»Ist schon gut… Das mit der Klimaanlage ist o.k.«

»Ich habe fürchterliche Schmerzen, das war das letzte Mal, dass ich solche Kurpfuscher an mir rumschnippeln lasse! Wie komm‘ ich jetzt am besten in die… wie heißt die Straße?«

»Finkenstraße… Einfach da vorne rechts rein.«

»Gleich die nächste?«

»Ja… genau!«

Ich könnte dir ja zum Abschied die Schmerzen etwas erträglicher machen, dachte Hartmut und stellte sich vor, wie er der Alten eine Kugel zwischen die Augen setzte. Er musste lächeln, das erste Mal seit Tagen.

»Ich fahre seit über zwanzig Jahren Taxe und kenne mich in Stuttgart wirklich aus. Aber seit sie die alte B14 gesperrt haben und der ganze Verkehr über diesen Scheiß-Tunnel läuft, verfahre ich mich ständig. Oder diese verkehrsberuhigte Zone am Rotebühlplatz… ‚ne Unverschämtheit ist das! Sie sagen mir, wenn ich anhalten soll?«

Hartmut nickte. Der Mercedes bog nach rechts in die Finkenstraße und rollte langsam und kaum hörbar die dunkle Straße hinab.
»Da vorn am Eck können Sie mich rauslassen«, sagte Hartmut und stellte den Stapel Handtücher zwischen seine Füße, um nach dem Geldbeutel zu greifen.

Plötzlich hielt er inne. Plötzlich wurde ihm bewusst, was passieren würde, wenn er jetzt das Taxi verlassen und hinauf in seine Wohnung gehen würde. Er wäre ganz allein da oben und würde wahrscheinlich die angebrochene Flasche Jack Daniels aus der Bar holen. Er würde anfangen, das verfluchte Ding niederzumachen und an einem ganz bestimmten Punkt damit aufhören. Viel wäre dann sicherlich nicht mehr in der Flasche, wenn er an diesen ganz bestimmten Punkt käme, und er würde dann zu der verfluchten Pistole greifen und den Schlitten der 45er nach hinten ziehen, um eine Patrone in den Lauf zu laden. Dann würde er, und das wurde ihm eben jetzt mit entsetzlicher Deutlichkeit bewusst, sich die Pistole an die Schläfe drücken und…

»Hey, schlafen se nicht ein!« unterbrach ihn die Stimme der Taxifahrerin in seiner plötzlichen Bewusstwerdung.

»Ich möchte noch nicht aussteigen«, sagte er schnell, weil es das Einzige war, das ihm jetzt einfiel. »Ich möchte weiterfahren…«, fügte er in einer an Apathie grenzenden Abwesenheit hinzu.

»Nee nee… Freundchen… Die Tour kenn‘ ich. Erst hamse kein Geld und dann wollnse sich rausreden. Mach schon mit der Knete rüber, Junge. Sonst fahrn wir zu den Bullen… Klar?! Hey, was‘n los mit dir… Biste blau oder was? Ich glaub‘s ja nicht…«

»Ich möchte jetzt bitte weiterfahren. Ich kann das bezahlen… Ich habe genug Geld.« Hartmut betonte jedes Wort und starrte auf den Stapel Handtücher zwischen seinen Schuhen.
»Wenn nicht gleich mit der Kohle rübermachst, gibt‘s Ärger. Mir reißt langsam der Geduldsfaden.«

Hartmut beugte sich nach vorne und schob seine Hand zwischen die Handtücher. Seine Finger legten sich um den Griff der Waffe, als gehörten sie dorthin. Die Colt fühlte sich kalt und stark an, und Hartmut begann zu zittern. Vor Wut zu zittern. Wie redete diese unverschämte Person eigentlich mit ihm? Was fiel dieser schimmligen alten Schlampe mit ihrem blöden Akzent eigentlich ein, so mit ihm zu reden? Hatte er ihr etwas getan? Hatte er sich gegenüber unverschämt verhalten? Er hatte sogar das Fenster zugelassen, wegen ihrem beschissenen Kiefer. Er hatte Rücksicht genommen, obwohl der Kunde doch König war, oder etwa nicht? Und wie redete dieses miese Stück Scheiße jetzt mit ihm? Was fiel dieser dreckigen, verlausten Fotze eigentlich ein, SO MIT IHM ZU REDEN… EINE UNVERSCHÄMTHEIT SONDERGLEICHEN!!!!

»Also weißte, jetzt ist Ende. Jetzt ruf‘ ich die Bullen!«

»Gar nichts wirst du, du blöde Schlampe. Du wirst mich von hier weg bringen und du wirst mich dorthin fahren, wohin ich will, sonst werden sie morgen dein Gehirn von der Scheibe neben dir kratzen. Ist das klar! Und glaub ja nicht, da ich Angst davor geschnappt zu werden, weil ich ohnehin vorhatte, das Ding hier an mir selber auszuprobieren!«
»Is klar… Is o.k. Bleib locker… ja. Ich mach ja, was du willst, Junge.«

Voller Entsetzen starrte Sie auf die Waffe, die Hartmut jetzt auf sie richtete.

»Und wenn du noch einmal JUNGE ZU MIR SAGST, KANNST DU DICH VERABSCHIEDEN, DU DUMME FOTZE. FÜR DICH BIN ICH HERR SCHWEIKHARDT. GEHT DAS IN DEINEN SCHEIßSCHÄDEL REIN?«

»Ja… bitte… bitte… bitte nich schießen. Ich mach ja… Ich mach ja…«

Die Alte stellte sich schlimmer an als eine Fahrschülerin in ihrer ersten Fahrstunde. Erst bekam sie den Wagen nicht an und dann bremste sie zweimal so heftig ab, dass Hartmut schon dachte, es würde sich ein Schuss aus der Waffe lösen. Sie fuhren die Finkenstraße hinunter, vorbei an der Metzgerei, wo er sich immer seine Wurst holte, vorbei an dem kleinen Café, wo er samstags immer hinging, um Tagebuch zu schreiben. Dann rechts in die Böheimstraße, und die Frau am Steuer atmete schnell und flach.

»Du wirst mich auf die Karlshöhe fahren. Ich muss ein wenig spazieren gehen«, sagte er, die Waffe im Anschlag. Sie war nicht geladen. Aber das wusste die blöde Kuh ja nicht. Hartmut wunderte sich nur, wie bereitwillig sie plötzlich das machte, was er wollte. Sie hatte sich ihm doch so überlegen gefühlt. Und jetzt? Jetzt hatte sie Angst um ihr beschissenes Leben. Jetzt machte sie sich keine Sorgen mehr um die verheerende Wirkung von Zugluft. Bestimmt auch nicht über die Quacksalber, die ihr im Gebälk rumgepfuscht hatten. Hartmut hatte ihr Augenmerk auf die Quintessenz des Lebens gerichtet. Eigentlich sollte sie ihm dankbar sein.

»Da oben können Sie mich rauslassen«, sagte er und spürte, wie auch seine Aufregung nachließ. Sie stoppte den Wagen am Rand eines kleinen Parks inmitten der Stadt. Hartmut zog seinen Geldbeutel aus der Jeans, nicht ohne die Waffe für einen Moment herunterzunehmen. Er wusste, dass dieses asoziale Miststück neben ihm nicht vor ihm, sondern vor ihr Respekt hatte.

»Was macht das?«, fragte Hartmut.

»Wie?«

»Ich fragte nach dem Fahrpreis!«, sagte Hartmut scharf und sah den Betrag auf der elektronischen Anzeige, die sie in der Finkenstraße abgestellt hatte.
»Is schon o.k.«, wimmerte sie und war kurz davor loszuheulen. Sie hielt ihm ihren großen Geldbeutel hin, als wolle sie ihm ihr Geld geben. War er ein verfluchter Dieb? Er tat so, als bemerke er es nicht.

»Also sechsunddreißig-achtzig bis zur Finkenstraße«, sagte Hartmut. »Das ist etwa zehn Minuten von hier.« Er zog einen Hundertmarkschein aus der Brieftasche und legte ihn auf das Armaturenbrett.

»Der Rest ist für Sie! Und die Handtücher schenke ich Ihnen. Ich werde sie kaum noch brauchen.«

»Was ham Sie denn vor?«

»Entschuldigen Sie… Aber das geht Sie einen feuchten Scheißdreck an. Sie sollten sich darauf beschränken, sich Ihren Fahrgästen gegenüber etwas freundlicher zu verhalten. Das Leben ist so kurz. Man sollte es nicht dazu benutzen, seinen Frust an anderen auszulassen.«

Sie sagte nichts, starrte ihn nur fassungslos an, wie ein Tier, das kurz davor war, überfahren zu werden. Hartmut öffnete die Tür und stieg aus, die Waffe immer noch im Anschlag.

Wenn ich draußen bin, werden Sie schleunigst hier verschwinden. Ist das klar?«

Sie nickte heftig. Dicke Tränen kullerten auf ihren Wangen hinunter.

Nachdem Hartmut die Tür zugeschlagen hatte, startete sie den Wagen und preschte mit durchdrehenden Reifen davon.

*

Er rannte über die Straße und verschwand zwischen ein paar Büschen, wo er sich übergab. Er sank auf die Knie und kotzte die Aufregung aus sich heraus. Dann suchte er sich eine Bank, auf die er sich niederließ und den Kopf zurücklegte. Er atmete tief die kühle Nachtluft. Sie tat verdammt gut. Dann fragte er sich, was die blöde Taxischlampe jetzt als Nächstes machen würde. Würde sie zur Polizei gehen, oder würde sie nach Hause fahren? Würde sie zu ihrem Chef und kündigen? Passierte das Taxifahrern öfter, dass sie eine Knarre vor die Nase gehalten bekamen?

Hartmut zog das Päckchen Munition aus seinem Parka und lud die Waffe. Mit jeder Patrone, die er in das Magazin steckte, wuchs seine Aufregung. Er machte es voll, obwohl er doch schließlich nur eine Kugel benötigen würde, um der Sinnlosigkeit seines Daseins ein Ende zu setzen.

Was hatte er jetzt eigentlich vor? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass ihm dieser Ort nicht gefiel. Es war kein guter Platz zum Sterben. Er musste jetzt laufen, irgendwo hin. Er schob das angebrochene Päckchen Munition in seine Jackentasche und setzte sich in Bewegung.

Hartmut lief ziellos durch die Straßen. Irgendwann bemerkte er die Waffe in seiner Hand, deren Griff er immer noch festumklammert hielt. Voller Panik schob er sie in seine Jackentasche und ärgerte sich. Gott sei Dank hatte ihn niemand mit diesem Ding in der Hand herumlaufen sehen. Die Vorstellung, jemand hätte ihm begegnen können, trieb ihm die Schamröte ins Gesicht. Die Leute hätten ihn vermutlich für einen ausgemachten Psychopathen gehalten. Aber war er das denn nicht? Hatte er nicht gerade eben eine Frau mit eben jener Waffe bedroht? Hatte er nicht dieses verdammte Ding an die Schläfe gedrückt und ihr noch den schlimmsten Schrecken ihres Lebens zum Abschied eingejagt?
Jetzt im Nachhinein kam es ihm verrückt vor. Nicht im Traum hätte er je daran gedacht, dass er so etwas jemals hätte tun können.

Aber das Schlimmste war, dass er dieses Gefühl der Macht über einen anderen Menschen genossen hatte. So ähnlich musste sich Meister Lembke im Betrieb gefühlt haben, wenn er ihn durch die Halle scheuchte. Wenn er ihn aus einer miesen Laune heraus zur Sau machte, nur um seine Wut an einem Schwächeren auszulassen. Im Grunde war das ja auch nichts anderes, als jemandem eine 45er an die Schläfe drücken und ihm ins Ohr zu flüstern: »Du machst jetzt was ich sage, sonst…«

Die einen hatten den Titel eines Vorgesetzten, die anderen eine geladene Pistole. Die Mittel zum Zweck waren unterschiedlich, das Ergebnis das Gleiche. Man besaß die Macht.
Wie oft hatte er sich vorgestellt, dieses Riesenarschloch Lembke nach Feierabend auf dem Parkplatz abzupassen und ihm ins Gesicht zu schlagen. Wie oft hatte er sich das schon vorgestellt und sich gewünscht, dass er nicht so ein gottverfluchter Feigling wäre. Aber so war es nun mal. Er war ein Feigling. Nur Feiglinge spielen mit dem Gedanken, sich selbst eine Kugel in die Schläfe zu jagen. Männer von Format machten es andersrum… Die drückten einem Gegner oder einer Gegnerin die Waffe an die Schläfe und zählten bis drei. So machten es Männer von Format. So machten es richtige Männer.

Mein Gott… Er hätte von dieser blöden Schlampe alles haben können. Die hatte ihm sogar noch ihren Geldbeutel hingehalten. Schon allein dafür hätte er sie am liebsten auf Wolke Nummer 7 geschossen. Als sei er ein verfluchter Dieb. Er hatte es noch nie nötig gehabt, anderen etwas wegzunehmen. Er hatte immer gut für sich alleine sorgen können.
Was bildete sich diese Schlampe eigentlich ein?

Hartmut blieb stehen und überlegte sich, ob er zurückgehen sollte und der Alten zeigen sollte, was Sache ist, entschied sich aber dann dafür, sich in irgendeine Kneipe zu verziehen. Es ging ihm gar nicht gut. Er musste nachdenken, etwas trinken… zur Ruhe kommen.

Er lief stadteinwärts, jedenfalls hielt er sich in der Richtung, in der er die Innenstadt vermutete. Er war irgendwo im Westen, wo genau, das wusste er nicht. Er würde schon heimfinden. Was dann passierte, würde sich zeigen.

Vielleicht würde er auch einen Abstecher beim alten Lembke machen, ihn auf die Knie zwingen und ihn um Verzeihung wimmern lassen. Er hatte die Macht… Er, Hartmut Schweikhardt, hatte die 45er in seiner Tasche.

Er bog in eine Seitenstraße und sah die Beleuchtung einer Kneipe. Davor standen Leute, und es brannte Licht. Also war sie geöffnet. Dort würde er sich etwas aufwärmen und ein Bier trinken und nachdenken. Sehr lange nachdenken.

*

Die Kneipe, die sich Hotzenplotz nannte, war rustikal und urig eingerichtet. Das Publikum waren jüngere Semester. Hartmut schätzte das Durchschnittsalter der Leute auf 19 oder 20.

Er hätte eigentlich auffallen müssen. Die meisten Jungs trugen Motorradkleidung. Die Mädels Jeans und weite Pullover. Einige der Leute flipperten, andere warfen Pfeile auf eine elektronische Dartscheibe, die entsetzliche Geräusche machte.

Hartmut bestellte sich ein Bier und trank den ersten Schluck viel zu schnell. Irgendwie gefiel ihm dieser Laden nicht, obwohl es gemütlich war. Er mochte die Leute nicht, das war es. Die Menschen um ihn herum waren ihm zuwider.

Außerdem begann er sich mit einem Mal Sorgen zu machen, dass die alte Taxischlampe ihm schon die Polizei auf den Hals gehetzt hatte. Er musste vorsichtig sein. Er durfte nicht auffallen. Noch nicht. Irgendwann im Verlauf dieser Nacht würde er sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Es war also ohnehin alles egal.

Er beobachtete die Leute, sah eine junge Frau, vielleicht 17 oder 18. Nicht älter. Sie hatte blondes schulterlanges Haar und ein süßes Gesicht. Ihre Wangen waren von der Hitze im Raum gerötet. Sie trug Jeans und einen weiten Wollpullover und lachte, nachdem sie ziemlich ungeschickt einen Pfeil neben die Dartscheibe geworfen hatte, der wie eine abgeschossene Rakete zu Boden fiel. Hartmut stellte sich vor, die Kleine im Arm zu halten. Er stellte sich ihre Brüste vor, nicht zu groß und nicht zu klein. Ihren herzförmigen kleinen Arsch und ihre schmale Taille, um die sich seine Hände legten. Er stellte sich vor, wie sich ihre Schenkel um seine Hüften schlingen würden, wie sich ihr Körper unter seinen vor Lust aufbäumte. Und dann dachte er, dass er ein ziemliches Arschloch war, überhaupt so etwas zu denken. Er war zu alt für diese kleine Schönheit. Er war auch um die Hüften rum zu fett für diese Art Mädchen, die es sich leisten konnten, sich den Mann ihrer Wahl selber rauszusuchen. Sie stand vermutlich auf den sportlichen Typ, der im Sommer Surfen und im Winter Skifahren geht.

Hartmut gehörte zum Typ gemütlicher Stubenhocker mit künstlerischen Neigungen, und von solchen Typen wusste man, dass sie allesamt einen Schuss hatten.
Er sah sie an und wusste, dass sie so unerreichbar für ihn war wie der Saturn oder die Venus. Man konnte sie ansehen, sie bewundern, von ihr träumen und sich die tollsten Sachen in seiner Vorstellung über sie ausmalen. Aber erreichbar würde sie niemals sein. Nie!

Vielleicht, wenn er ihr eine Pistole an die Schläfe drücken würde…

Aber das war ja Wahnsinn. So etwas überhaupt zu denken. Er zitterte wieder und kam sich noch widerlicher vor als zuvor. Er war nicht so eine Art Mann. Vielleicht war es auch das, was ihn ankotzte. Andere nehmen sich, was sie wollen, ohne Rücksicht auf Verluste. Er hatte schon ein schlechtes Gewissen, wenn er sich einen Sprudel aus dem Kühlschrank seines Großvaters holte.

Frauen stehen auf Männer, die sich nehmen, was sie wollen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Auf richtige Männer.

Bei der Waffe hatte Hartmut seltsamerweise kein schlechtes Gewissen gehabt. Die war schließlich auch der Schlüssel zur Lösung seiner Probleme. Sooft hatte er nach einem Schlüssel gesucht.
Zum Beispiel als er damals von Meister Lembke zusammengeschissen wurde, als der ihm sein Beurteilungsergebnis bekannt gab. Es gab vier Noten, die vergeben werden konnten. A, B, C und D, wobei A die beste und D die schlechteste Note waren. Ein A im Werkseinsatz zu erreichen war nicht gerade leicht, aber es war auch nicht unmöglich. In der Regel bekamen die Azubis bei Mattes und Bonn ihr A, wenn sie sich nicht gerade wie der letzte Idiot anstellten.
»Ich habe dir ein C im praktischen und auch im theoretischen Teil gegeben, Schweikhardt«, hatte Lembke gesagt und hinter seinem Schreibtisch gesessen wie der ehrwürdige Richter, der über den Angeklagten, so hatte sich Hartmut gefühlt, sein Urteil fällt.

»Warum… Was habe ich denn falsch gemacht? Ich meine… Es war doch immer alles o.k.«

»Es fehlt ein wenig am guten Willen bei dir, Schweikhardt. Du bist noch weit davon entfernt, ein A zu bekommen!« hatte er gesagt, und Hartmut meinte ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht wahrgenommen zu haben.

»Warum hat Andi Roth ein A bekommen und ich nicht…« hatte Hartmut gefragt und sich selbst verraten. Roth war der Lehrling, mit dem er zusammen im Gießwerkzeugbau eingesetzt worden war. Und er hatte mit dieser Frage seinem Richter nur einmal mehr Gelegenheit gegeben, ihm eine reinzuwürgen. Es war vom ersten Tag an klar gewesen, dass Lembke in Andreas Roth seinen Liebling gefunden hatte und in Hartmut Schweikhardt seinen Prügelknaben. Niemand wusste, woran es wirklich gelegen hatte.

»Du kannst dich mit jemandem wie Andreas Roth nicht vergleichen, Junge. Du bist weit davon entfernt, an die Klasse dieses Lehrlings heranzukommen!«

Hätte er damals eine Waffe in der Tasche gehabt, hätte er sie seinem ehrwürdigen Meister vor die Nase gehalten und ihn nochmals höflich nach einer Begründung gefragt. Und vielleicht hätte er ihn gebeten, ihn nicht immer wieder »Junge« zu nennen, auch wenn er zum damaligen Zeitpunkt vielleicht einer war.

Und dann dachte Hartmut wieder an sein Vorhaben und wie gerne er vorher noch einmal mit einer Frau schlafen würde. So als Abschluss. Als Henkersmahlzeit… Noch einmal Sex haben. Am besten mit so einer kleinen Blonden wie dort drüben am Dartautomaten. Nur ein einziges Mal. Aber sie war ja unerreichbar… und so drehten sich seine Gedanken im Kreis, wie er selbst sich sein ganzes Leben lang im Kreis gedreht hatte.

Sicher hatte er Freundinnen gehabt. Ihr Aussehen hatte ihn nie besonder interessiert. Für ihn waren sie alle wunderschön gewesen. Aber kams darauf an? Er hatte sie geliebt und hatte sich für jede einzelne den Arsch aufgerissen, doch leider war selbst das nicht genug.

Bei jeder seiner Freundinnen – Hartmut hatte vier verkorkste Beziehungen hinter sich gelassen – war er sich wie der Fischer aus dem Märchen vorgekommen, dessen Frau nicht genug bekommen konnte. Drei der vier Beziehungen hatte er selbst beendet, jedes Mal mit einem Riesendrama, bei dem seine Ex weinend und kreischend auf dem Boden vor ihm lag und ihn anflehte, er solle es sich doch noch einmal überlegen. Sie würden sich auch ändern. Sie würden mehr Rücksicht auf seine Gefühle nehmen und ihn versuchen, nicht wieder wie einen Idioten zu behandeln. Leider kam diese Einsicht immer dann, wenn Hartmut längst das Vertrauen verloren und sich in sein Innerstes zurückgezogen hatte. Er war nun mal der Typ, mit dem man – oder besser Frau – machen konnte, was sie wollte. Der von der Beziehung abhängig war, wie ein Fisch vom Wasser, und der jedes Mal geglaubt hatte, er wäre nun endlich der Richtigen begegnet.

Die vierte und letzte Beziehung hatte sich von selbst erledigt. Hartmut hatte nicht einmal Schluss machen müssen. Cora hatte seinen besten Freund gefickt und war von selbst ausgezogen, mit einem Grinsen im Gesicht. Er wusste es selbst nicht genau, aber manchmal kam es ihm vor, als habe ihm dieses Grinsen weitaus mehr verletzt, als die Tatsache, das sie sich von seinem ehemals besten Kumpel hatte flachlegen lassen.

Das Grinsen erinnerte ihn im Nachhinein an das Grinsen von Meister Lembke. Es erinnerte Hartmut an das Grinsen der Mitschüler, die sich über den Speck an seinen Hüften lustig gemacht hatten, und es erinnerte ihn an das Grinsen seiner Mutter, wenn sie sich einen Typen auf der Straße angelacht hatte, der Hartmut am selben Abend als Onkel Hans oder Onkel Bernd oder Onkel Stephan vorgestellt wurde. Und dann sah Hartmut das Grinsen des Mädchens am Dartautomaten, und er fühlte Wut in sich aufsteigen.
Plötzlich gab es nichts anderes. Nur schwellende, bebende Wut in seinem Bauch, die wuchs und ganz von ihm Besitz ergriff. Er biss die Zähne aufeinander so fest es ging, aber auch das brachte nichts. Es wurde immer schlimmer.

Er stellte sich vor, wie er mit der Waffe in seiner Tasche auf alles schießen würde, was sich bewegte. Wie all die Menschen, denen er es nicht recht hatte machen können, vor ihm auf den Knien herumrutschten, zitternd mit gefalteten Händen und der Angst, die ihnen ins Gesicht gemeißelt war. Er musste aus dieser verdammten Kneipe raus.
Er kramte einen Zehn-Markschein aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tresen. Dann verließ er die Kneipe.

*

Hartmut ging schnell. Er rannte fast und versuchte so den Druck loszuwerden. Diesen unbeschreiblichen Druck, unter dem er stand. Das alles kam ihm plötzlich wie ein Alptraum vor. Ein Alptraum, in dem man vor etwas unbeschreiblich Bösem davonrennt… Es zumindest versucht. Aber man kommt nicht von der Stelle. Egal, wie schnell man rennt. Man kommt nicht von der Stelle… Egal, was man anstellt. Und das Böse kommt näher. Es ist direkt hinter einem und man kann es weder sehen noch hören, aber es ist da. Diese schreckliche Gewissheit ist es, die einen in den Wahnsinn treibt und alles um einen herum verschwindet. So wie jetzt alles um Hartmut herum verschwand. Er bewegte sich in einem dunklen Raum, in dem nur Druck herrschte. Er war wütend, weil er nichts tun konnte. Er war wütend, weil keiner es bemerkte. Weil keiner sah, wie beschissen es ihm ging, und weil es im Grunde auch keinen interessierte. Er rannte die Straße entlang, überquerte eine Kreuzung, ohne auf den Verkehr zu achten und fand sich plötzlich auf einem großen dunklen Platz wieder, in dessen Mitte ein Podest mit einer Statue stand. Er war stehen geblieben und vollkommen außer Atem.

Das war der Schillerplatz.

Wie war er hierher gekommen?

Wie viel Uhr war es?

Er hob seine linke Hand, und sie zitterte. Er warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es Viertel nach zwei war. Er war fast eine ganze Stunde ziellos durch die Stadt geirrt. Jetzt war er hier. Auf dem Schillerplatz, und der Typ, den sie als Denkmal hier aufgestellt hatten, war demnach auch Schiller. Er sah an ihm hinauf. Vor ihm thronte die dunkle steinerne Gestalt des Dichters und blickte auf ihn herab. Sie schien ihn anzuschauen, so als wolle sie sagen: »Na, mein Junge? Drehen wir gerade ein wenig durch?«

Hartmut schloss die Augen und ging in die Knie. Er wollte nicht mehr laufen. Er wollte sich jetzt am liebsten ins Bett legen.

Er ließ ein paar Minuten verstreichen, in denen er überlegte, was er jetzt tun sollte. Welchen Weg er nehmen sollte. Die Bullen würden wahrscheinlich hinter ihm her sein, nachdem er diese Taxinummer abgezogen hatte. Diese hysterische Fotze war mit hundertprozentiger Sicherheit zum nächsten Polizeirevier gefahren und hatte Anzeige erstattet. Hartmut hätte sie umbringen sollen, dachte er im Nachhinein. Sie suchten ihn ohnehin. Er sah auch keinen Unterschied zwischen dem Bedrohen mit einer Schusswaffe und dem letztendlichen Gebrauch derselben. Natürlich gab es da einen Unterschied, aber den Bullen war das doch ohnehin scheißegal. Dem Richter würde es egal sein und ihm war es auch wurscht. Es hatte auf eine gewisse Art und Weise Spaß gemacht und nur das zählte. Es hatte ihm gefallen, wie die Taxischlampe sich vor Angst fast in die Hosen gemacht hatte, nachdem sie zuerst gemeint hatte, sich aufzuführen, wie der Bundespräsident persönlich. Was die Mündung einer Pistole doch ausmachte, die einem vor die Nase gehalten wird, dachte er und fand es wieder schade, dass er Opas Knarre nicht bei anderen Gelegenheiten in der Tasche gehabt hatte.

So oft hatte er erleben müssen, wie man ihn falsch eingeschätzt, mit Vorurteilen abgestempelt und belächelt hatte. Er war der typische Durchschnittstyp, an dem man seine Launen ausließ. Zu dem man nett war, wenn man etwas von ihm brauchte. Den man wie den letzten Scheißdreck behandelte, wenn einem danach war. Im Grunde war es egal, ob er lebte oder tot war, denn zwei Wochen nach seinem Abgang würde kein Hahn mehr nach ihm krähen. Beiläufig dachte er, dass es vielleicht sogar ganz hilfreich sein könnte, ein paar Leute abzuknallen. Dann würde er zumindest als Mörder noch ein Stück weit an Bedeutung gewinnen.

Hartmut hatte gern irgend etwas Bedeutendes getan. Einmal das Gefühl haben, dass man wichtig war. Das sein beschissenes Leben irgendeinen verdammten Sinn hatte. Früher hatte er geschrieben. Hatte davon geträumt, ein großer Schriftsteller zu werden. Er hatte es zu dem Leidwesen seiner Neider sogar geschafft, einige Kurzgeschichten zu veröffentlichen, hatte es geschafft, eine eigene Zeitschrift herauszubringen, doch nachdem Cora sich von ihm getrennt hatte, hatte er keine vernünftige Zeile mehr zustande gebracht. Es funktionierte einfach nicht mehr. Das Schreiben war immer ein Ventil für ihn gewesen. Etwas, das sein Leben als etwas Sinnvolles erscheinen ließ. Etwas, das ihm geholfen hatte, über die Traurigkeit des Alltags hinwegzukommen. Ja, es hatte sogar eine Zeit in seinem Leben gegeben, in der es ohne tägliches Schreiben gar nicht gegangen wäre. Eine Zeit, in der er das Schreiben brauchte, wie die Luft zum Atmen.

Er vermisste diese Zeit mehr, als er Cora vermisste.

Jetzt brauchte er das Schreiben nicht mehr. Es schien, als habe sich die Welt ins Gegenteil verkehrt, denn jedes Mal, wenn er sich hinsetzte, sich überwand, starrte er auf ein leeres Blatt Papier, das weiß und leer blieb. Er konnte nicht mehr schreiben. Er wusste nicht, worüber er hätte schreiben sollen. Wozu eine Geschichte erfinden, die sowieso keinen Menschen interessiert? Das Schreiben hatte ihm einmal Ruhe vermittelt. Die Ruhe, die ihm die Ausgeglichenheit gab, die er zum Leben brauchte. Der krasse Gegensatz zu seiner Arbeit im Gießwerkzeugbau, der nur dazu diente, die Miete zu bezahlen.

Jetzt vermittelte ihm nur noch der Gedanke an einen Schuss in die Schläfe ein seltsames Gefühl von Ruhe. Doch den Gedanken in die Tat umzusetzen, erzeugte wiederum ein Gefühl der Zerrissenheit. Er wollte sterben, konnte es aber nicht. Die Angst davor jagte ihn jetzt durch die Stadt.

Früher hatte man ihn seiner Interessen wegen immer belächelt oder es hatte niemanden interessiert. Nachdem er seine erste Kurzgeschichte verkauft hatte, interessierte es die Leute plötzlich. Er wurde interessant.

Auch Cora fand ihn interessant, den Schriftsteller, den Träumer, der es geschafft hatte, seine Träume in Geld zu verwandeln. Leider hatte Cora sich sonst für gar nichts interessiert, und Hardi war auf die älteste Neigung des Menschen hereingefallen.

Sie hatten sich nächtelang über Literatur unterhalten, hatten nächtelang herumgefickt, und Hardi war für eine kurze Zeit das, wovon er immer geträumt hatte. Jemand von Bedeutung. Doch dann kam die Krise… weil Coras anfängliche Bewunderung in Neid umschlug. Sie wollte so sein wie er, und als sie es nicht schaffte, begann sie ihn und sein Werk systematisch zu zerstören! Die Trennung hatte nichts geholfen. Sie hatte es geschafft, hatte letzten Endes doch gewonnen. Nachdem er mit Schreiben aufgehört hatte, war er uninteressant geworden.

Früher hatte er geschrieben, weil es ihm Spaß gemacht hatte, weil er die Macht hatte, die Dinge so geschehen zu lassen, wie er es für richtig hielt. Plötzlich musste er Storys an den Mann bringen, die dem Leser gefielen, und jetzt konnte er die Dinge nicht mehr so laufen lassen, wie es ihm passte… Es hatte keinen Sinn zu schreiben, wenn man nicht das tun und lassen konnte, was man wollte. Als Hardi dies begriffen hatte, war es bereits zu spät. Er hatte die Fähigkeit zu schreiben bereits in sich eingemauert. Jetzt fand er sich auf einem dunklen, kalten Platz wieder. In seiner Hand eine Colt Government, er hatte sie geladen.

Er starrte auf die Waffe in seiner Hand. Er sah, wie ein Daumen, von dem er nicht wusste, ob er zu seiner Hand gehörte, den Sicherungshebel auf den roten Punkt schob. Jetzt war sie scharf. Die Kugel, die das ganze Desaster beenden konnte, steckte im Lauf und wartete darauf, abgefeuert zu werden.
Jetzt ist es soweit, Hardi. Sag Lebewohl und lass die anderen den Scheiß wegräumen.

Er führte die Waffe an seinen Kopf und drückte die Mündung fest an seine Schläfe. Sie fühlte sich kalt und hart an. Hardi zitterte, obwohl der Druck an seinem Kopf gut tat. Er erleichterte das Pochen in seinem Schädel. Das Pochen, das von seinem Herzen kam und das Blut schwer durch die Adern an seinem Hals pumpte, die sich wie Schläuche anfühlten. Er hatte schreckliche Angst.

Tu es, Hartmut, dann hast du Ruhe. Endlich Ruhe. Und keiner wird dir wegen irgendeinem kindischen Scheißdreck Vorwürfe machen können.

Dann erschrak er. Er hörte Stimmen und Schritte. Die Stimmen wurden lauter. Die Schritte kamen näher. Es waren männliche Stimmen, die lachten und unverständliche Laute von sich gaben.

Er schnappte einige Wortfetzen auf: »Geil… Maschine… ficken!«

In einem Zug sicherte er die Waffe und ließ sie in seinem Parka verschwinden. Er zitterte jetzt noch viel mehr. Doch es war nicht die Kälte der Nacht, sondern ein Konglomerat aus Wut, Angst und Verzweiflung. Was interessierte es ihn denn jetzt überhaupt noch, wenn sich ein paar besoffene Arschlöcher die Nacht um die Ohren schlugen?
Ich will alleine sterben, dachte er. Ich will in Ruhe mit mir selbst die Sache zu Ende bringen. Ohne irgendwen, der womöglich noch einen Klugscheißerkommentar dazu abgeben würde. Mein Tod geht niemanden etwas an… Niemanden!

Dann sah Hartmut die Kerle, und sie sahen ihn. Sie blieben stehen, und einer von ihnen kam ein paar Schritte auf Hartmut zu.

Man sah es ihren pockennarbigen Visagen an, dass es sich bei den Kerlen um fünfhundertkarätige Scheißkerle handelte. Hartmut saß immer noch auf dem Mäuerchen und starrte auf den Boden. Er hatte beschlossen, sie einfach nicht zu beachten. Sie würden schon weitergehen. Er wollte nur seine Ruhe haben. Es waren Skins oder Punks oder sonstiger Abschaum, den sich Hartmut gut in einem Fußballstadion vorstellen konnte. Er betete, dass sie schnell vorbeigehen würden, doch es schien, als zöge er Unglück und Abschaum in dieser Nacht wie ein Magnet an.

»Was haben wir denn da?? Ist das etwa ein Türkenschwein?« hörte er einen der Drei laut sagen. Jetzt war es klar. Es waren Skins und sie waren angesoffen, und zumindest einer von ihnen suchte Streit. Es war nicht das erste Mal, dass man Hartmut für einen Spanier, Türken oder Italiener gehalten hatte. Mit seinen fast schwarzen Haaren und dem Dreitagebart war das schon öfter passiert. Er musste vorsichtig sein. Ein Freund, mit dem er sich durch die Ausbildung bei Mattes und Bonn Maschinenbau gequält hatte, war mal von solchen Arschlöchern ziemlich übel zugerichtet worden. Und das am helllichten Tag, an einer Straßenbahnhaltestelle, wo es von Leuten nur so wimmelte. Keiner hatte Jürgen, den zwei Skins für einen Türken hielten, geholfen. Er war auf offener Straße zusammengeschlagen worden.

Er hatte keine Chance gehabt.

Jetzt war es Nacht und hier war niemand, außer diesen drei Vollwichsern. Vielleicht würden sie es nicht damit bewenden lassen, ihn zu verprügeln. Vielleicht würden sie auf ihn eindreschen, bis er keinen Mucks mehr machen würde.

Bis er tot wäre…

Aber war es nicht gerade das, wonach er sich sehnte? Gerade noch war er zu feige gewesen, die Waffe an seiner Schläfe einfach abzufeuern. Vielleicht brachte er jetzt mehr Mut auf. Er merkte, wie er wütend wurde.

»Hey du Wichser, ich hab dich was gefragt. Was lungerst du hier rum??«

»Lass doch das Arschloch, Kai. Lass uns rüber in den Bierteufel. Ein paar Nutten aufreißen. Der da isses nicht wert…«

Der Typ namens Kai drehte sich zu seinem Kumpel und blitzte ihn mit einem Blick an, der so scharf wie ein Rasiermesser war.

»Vielleicht hältst du jetzt einfach besser deine Fresse, Rolo. Weil ich nämlich mit Ali hier ein Gespräch unter vier Augen führe. Und wenn dir das nicht passt, dann können wir zwei uns gleich danach unter vier Augen unterhalten und ich schwöre dir, du Pissnelke, dass du danach im Leben nie wieder nur eine einzige Nutte ficken wirst, Rolo. Hast du mich verstanden?«

Der andere sagte nichts. Ließ kleinlaut den Kopf sinken. Er hatte wohl Respekt vor Kai. Vielleicht hatte er ihn schon in Aktion gesehen. Vielleicht hatte er schon gesehen, wie Kai einen kaltgemacht hatte, als er sich unter vier Augen mit ihm unterhalten hatte.

»Also noch mal von vorn, Ali. Bist du ein verfluchtes Kanakenschwein, oder was?«

»Seh ich so aus?« fragte Hartmut und presste die Lippen aufeinander. Er begann zu zittern und seine Hand klammerte sich an den Griff der Colt in seiner Jackentasche.

»Sieh an… Das Arschloch kann sprechen«

»Das ist kein Kanake, Kai. Lass uns abhauen!«

Kai zog die Augenbrauen ins Gesicht und wirkte durch die erneute Unterbrechung, diesmal hatte sich sein zweiter Kumpel eingemischt, sichtlich genervt.

»Kann ich mich jetzt mal fünf Minuten mit diesem kleinen Arschloch unterhalten, ohne dass einer von euch Mattköpfen das Maul aufmacht? Häh?!«

»Ach mach doch, was du willst!« sagte der zweite und drehte sich weg.

Einige Sekunden herrschte Schweigen. Kai wollte wohl sichergehen, dass er nicht mit weiteren Unterbrechungen zu rechnen hatte.

»Und nun?« fragte Hartmut. »Kleines Gespräch unter vier Augen?«

»Warum nicht…«, zischte Kai und wirkte wie ein Luchs, der sich darauf vorbereitete, jeden Moment auf seine Beute zu springen.

»Es ist besser du gehst jetzt nach Hause, Kai.« sagte Hartmut, hielt den Girff der Pistole in seiner Jackentasche fester und wurde plötzlich ruhiger, was ihn am meisten wunderte.

»Ach ja?«

»Ja, sonst wirst du nämlich nirgendwo mehr hingehen, du kleines dämliches Nazischwein!«

»WAS?!?«

Hartmut zog die Colt aus der Jackentasche und zielte auf Kais Kopf. Jetzt erst bemerkte er das tätowierte Hakenkreuz auf Kais Handrücken und die Worte, die darunter standen. Er zwang sich jedoch, nicht hinzusehen. Er sah in Kais Augen und er sah die Angst darin.

»Scheiße, Mann. Der hat ‚ne Knarre!« brach der eine, den sie Rolo nannten, heraus und wich einen Schritt zurück.

Kai stand unbeweglich da und starrte auf die Mündung der Waffe. Er sagte nichts, blieb nur unbeweglich stehen, als überlege er, was er jetzt noch tun könnte. Welche Möglichkeiten er hatte, sich mit Hardi doch unter vier Augen zu unterhalten.

»Du glaubst doch nicht, dass die echt ist, Rolo. Du glaubst doch nicht, dass SO EIN PENNER MIT ‚NER ECHTEN KNARRE DURCH DIE GEGEND RENNT!!!«

»Warum lässt du es nicht einfach drauf ankommen, Wichser?!« sagte Hartmut und hatte aufgehört zu zittern. Er hatte keine Angst mehr. Plötzlich war er von einer seltsamen Ruhe durchflutet. Kai und seine Freunde würden entweder sterben oder ihn fertig machen. Beides war in Ordnung. Es gab keinen Grund aufgeregt zu sein. Es war plötzlich alles egal.
Dann machte Kai einen Schritt nach vorn und duckte sich links weg. Nur nicht schnell genug. Den Hardi zog die Waffe nach und drückte ab.

Kai wurde durch den Schlag in seinen Brustkorb einen halben Meter nach hinten geschleudert.


Rolo und der andere begannen im selben Moment wegzurennen. Beide in verschiedene Richtungen und beide so schnell, wie sie vermutlich in ihrem ganzen Leben noch nie gerannt waren. Wie Kackerlaken, die schnell unter den Küchenmobiliar verschwinden, sobald man reinkommt und das Licht anschaltet.

Hardi hielt die Waffe am Anschlag auf Kai gerichtet, der am Boden lag und wie ein kaputter Motor sprotzte. Er hatte dieses Arschloch auf der linken Seite seines Brustkastens erwischt.

»Na, du beschissenes Stück Dreck! Hast du noch irgendwas zu sagen, bevor ich dein krankes Hirn übers Pflaster puste?« sagte Hardi und presste die Lippen aufeinander.

»Nich.. Bitte… Ich.. Scheiffe…«

»Ja, klar.. Du willst dich bei mir entschuldigen. Ist schon klar. Aber weißt du, das würde ich an deiner Stelle wahrscheinlich auch machen… Aber nur aus dem Grund, um nicht abgeknallt zu werden. Ich würde Sorry sagen und denken… Wenn ich wieder auf den Beinen bin, werde ich dich finden und dann werde ich dich fertig machen! Hmm… oder wie ist das bei dir???«

»Nich… Scheiffe.. neiiiieiiin..«

»Stellt sich die Frage, ob ich riskieren soll, dich hier liegen zu lassen, du Pisser. Ich meine, ohne dich auf Wolke Nummer sieben zu schicken. ICH FRAGE MICH WIRKLICH OB ICH DAS EINFACH SO.. TUN… SOLL, DU MIESES, KLEINES, VERFICKTES, DRECKIGES NAZI-SCHWEIN!!!« schrie Hartmut und trat dem Jungen am Boden in die Seite. Dieser schrie auf, wie Hartmut noch nie einen Menschen hatte schreien hören.

Hartmut erschrak… Er schien plötzlich wieder bei Besinnung. Es war, als hätte er begriffen, was er da getan hatte. Er kniff die Augen zusammen und atmete ein paar Sekunden lang tief durch. Als er die Augen öffnete, sah er einen Moment lang nur schwarze Flecken. Dann formte sich der Platz wieder zu dem, was er war, und die Dunkelheit wich dem schwachen Schein der Straßenlaternen.

Hartmut sicherte die Colt, wendete sich ab und setzte sich langsam in Bewegung. Er ging ein paar Schritte, dann hielt er an. Er drehte sich um und starrte zu dem Kerl, der sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte. Er fühlte kein Mitleid. Er fand, dass dieses Arschloch es verdient hatte, eine vor den Latz geknallt zu bekommen. Er betrachtete diesen Menschen, der nur noch ein japsendes Schmatzen von sich gab, wie ein modernes Kunstwerk, dessen Sinn man nicht erfassen konnte, egal, wie genau man hinsah.

Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn Meister Lembke hier vor ihm auf dem Boden liegen würde. Oder irgendein anderer Wichser, dessen Tod er sich immer gewünscht hatte. Er richtete die Waffe in seiner Hand auf den am Boden liegenden und zielte auf seinen Kopf. Mit einer schlichten Muskelbewegung könnte er dem sinnlosen Dasein dieses gesellschaftlichen Schandflecks ein Ende setzen. Es wäre nur das Ende einer Kreatur, die vermutlich im Verlauf ihrer parasitären Existenz nur Schaden anrichten würde. Die es im Grunde gar nicht verdiente, dass man sich mit ihr auseinandersetzt, außer man schafft sie beiseite, wie man Schädlinge nun mal leider Gottes beiseite schaffen muss.

Hartmut drückte nicht ab, sondern ließ seinen Arm sinken. Er fühlte immer noch kein Mitleid mit dem Verletzten. Er dachte nur, dass es sinnlos sei, ihn zu erschießen. Er war es nicht wert. Im Grunde war es egal, ob er tot war oder nicht. Er hatte seine Lektion bekommen. Hartmut wendete sich gleichgültig ab und ging Richtung Marktplatz.

Dort angekommen, ging er zu einer der Telefonzellen und verständigte einen Krankenwagen. Er tat dies nicht aus Nächstenliebe oder Reue. Er wusste beim besten Willen nicht, was ihn dazu bewegte, dies zu tun. Doch als der Typ am anderen Ende der Leitung ihn blöd anquatschte, legte er auf. Hatte dieser Trottel doch wissen wollen, warum er bei ihm anrief.

»Am Schillerplatz liegt ein angetrunkener Skinhead mit ‚ner Kugel in der Brust. Wäre nett, wenn sie vorbeikommen könnten?«

Das hatte er gesagt und dieses Arschloch am Telefon wollte seinen Namen wissen.

»Hören Sie, mein Name hilft ihnen doch nicht weiter. Da ist jemand verletzt, o.k.?«

Und dann hatte der Typ gesagt, dass man nicht jedem anonymen Anruf nachgehen könne, da wäre man nämlich die ganze Nacht beschäftigt. Und Hartmut hatte ihm erklärt, dass es ihm im Grunde scheißegal war, ob dieser Typ da hinten verreckte oder nicht. Es ärgere ihn nur, dass er gerade eine Mark verschwendet habe, um sich dann dumm anmachen zu lassen.

Nachdem er aufgelegt hatte und seinen Weg in Richtung Altstadt fortsetzte, dachte er darüber nach, dass das Leben nichts weiter eine Folge von aneinandergereihten Lügen war. Lügen, die von der Willkür einiger Auserwählter abhing und alle machten mit. Meister Lembke machte mit, Cora machte mit und sein beschissener Großvater machte auch mit. Und was Hartmut am meisten ankotzte war, dass er selber auch mitmachte. Er hatte sich die Waffe in seiner Hand durch eine Lüge verschafft und war somit durch eine Lüge zu Macht gekommen. Aber die Macht der Waffe half ihm herzlich wenig, wenn ihn so ein Arschloch, dem die Nachtschicht auf den Geist ging, ihn wie ein Stück Scheiße behandelte. Und welche Macht hatte er denn schon? Das eine Taxischlampe plötzlich ihr dummes Maul hielt und ein beschissener Skin es sich zukünftig zweimal überlegen würde, ob er einen potentiellen Ausländer dumm anmachte. Wahrscheinlich nicht mal das.

Er würde vermutlich, Gesetz dem Fall er überlebte diese desasterhafte Nacht, noch mehr Wut auf jeden haben, der sich nur die Jacke wie ein Ausländer zuknöpfte und sich zehnfach dafür rächen, was ihm ein Bettpisser wie Hartmut es war, neulich nachts angetan hatte.

Scheiße.

Und dabei belog sich dieser arme Kerl selber, weil kein Ausländer etwas dafür konnte, dass Kai eine beschissene Kindheit gehabt hatte, der eine beschissene Paranoia entsprungen war. Und so stiefelte Hartmut gedankenschwer und müde durch die Stadt, bis er auf die ersten Straßenmädchen traf, die er zunächst gar nicht bemerkte. Erst als ihn die erste Prostituierte ansprach, sah er auf und wurde sich bewusst, wo er war und vielleicht auch wonach er sich sehnte.

»Willst du nicht ein bisschen mit rauf kommen? Hmm?? Ich verwöhn‘ dich auch. Ganz ohne Zeitdruck…«

»Sorry… Ich glaub ich bin zu müde«, antwortete Hartmut und ging weiter. Die Prostituierte machte auf dem Absatz kehrt und flanierte in die andere Richtung, so als wäre Hartmut nie an ihr vorbeigekommen. So, als hätte es ihn gar nie gegeben.

Die Welt war eine einzige große Lüge.

Er war schon lange nicht mehr bei einer Nutte gewesen. Das letzte Mal, bevor er Cora kennengelernt hatte. Danach hatte er nie mehr das Verlangen nach bezahltem Sex gehabt.
Auch eine große Lüge.

Man ging zu einer Nutte, weil man die Nähe eines anderen Menschen suchte. Und man bekam mehr Distanz zu spüren, als man eigentlich verkraften konnte. Man bezahlte und legte sich zu ihr aufs Bett. Wenn man Glück hatte, durfte man sie anfassen, während sie einem den Schwanz hochwichste. Das Allerhöchste war ein Kuss auf den Hals, bei dem sie den Kopf wegdrehte, um ihm zu zeigen, wie angewidert sie von ihm war. Wahrscheinlich war sie es auch bei jedem verfluchten Freier, der zu ihr kam, um seinen Dreck abzuladen. Dann steckte man seinen Schwanz in ihre Möse, mit übergestreiftem Kondom versteht sich, und rammelte sich zwei Minuten einen ab, damit man fertig wurde. Zeit war schließlich Geld und das, was Hartmut dort immer gesucht hatte, hatte er ohnehin nie gefunden.

Zwei Arme, in die man sich legen, einen Körper, an den man sich zärtlich schmiegen konnte. Zwei Hände, die einen streichelten und Lippen, die einen mit sanften Küssen liebkosten. Ein Mensch, der einem das Gefühl gab, geliebt zu werden. Ein Mensch, bei dem man sein durfte und dem man nicht zuviel wurde. All das hatte Hartmut gesucht. Jedes Mal, wenn er zu einer Nutte gegangen war. Jedes Mal, wenn die Einsamkeit unerträglich geworden war. Und jedes Mal war er deprimiert aus der Bumsbaracke der Horizontalen gekommen und schwor sich, sich nie wieder selbst etwas vorzumachen. Nie wieder würde er sich der Phantasie hingeben, dass er dort so etwas wie Liebe finden würde. Jedenfalls hielt der Schwur so lange, bis die Einsamkeit wieder unerträglich wurde und er sich wieder in irgendeiner Lasterhöhle bei irgendeiner Frau wiederfand, die so lange nett und freundlich zu ihm war, bis er abgespritzt hatte.

Aber vielleicht waren sie doch ehrlich. Vielleicht waren es die ehrlichsten Menschen der Welt. Weil sie von vornherein klarstellten, was möglich war und was nicht. Man sprach es ab und jeder hielt sich an die Klauseln des Vertrages. Keine Nutte log einem vor, dass sie einen liebte. Sie sagte, dass man sie ficken könne. Für etwas mehr, lutschte sie einem noch den Schwanz und für noch etwas mehr, konnte man einmal die Stellung wechseln oder zusammen duschen oder man wurde massiert. Auf alle Fälle wusste man, woran man war. Die Enttäuschung über das nicht bekommene, die Liebe, die Zuwendung, das echte Gefühl, war das Ergebnis des Selbstbetruges. Nicht die Schuld der Hure.
Hartmut ging durch die Straßen der Altstadt und richtete sein Augenmerk auf die Frauen und Mädchen, die am Straßenrand standen und warteten, bis ein Wagen anhielt. An einer Bank am Rande einer Grünfläche ließ er sich nieder und kramte das zerknüllte Päckchen Zigaretten aus der Tasche.

»Hast du mir auch eine?« hörte er eine helle Stimme sagen und blickte auf. Da stand ein Mädchen, sie mochte nicht älter als zwanzig sein, auch wenn ihr Aussehen gleichsam verriet, dass für ihre zwanzig Jahre eine Menge mitgemacht haben musste. Sie hatte dunkle schulterlange Locken und einen Schmollmund. Mal abgesehen davon, dass man ihr den Junkie auf drei Kilometer Entfernung ansah, war sie bestimmt ein kleiner Star auf dem Boulevard D‘amour. Hartmut hielt ihr wortlos das Päckchen hin, worauf sie sich vorsichtig eine Zigarette nahm.

»Danke«, sagte sie, kramte ein Feuerzeug aus ihrer Jeans und war im Begriff weiterzugehen, als Hartmut sie ansprach.

»Was kostet es bei dir?«

»Hundert im Auto… Französisch und Verkehr«, sagte sie, zündete sich die Zigarette an und strich sich eine Locke aus dem Gesicht.

»Ich hab aber kein Auto«, sagte Hartmut.

Die Kleine überlegte und schaute sich um, so als wollte sie sich überzeugen, dass keine Polizeistreife in der Gegend war.

»Wir können es auch da oben machen. Da hat‘s ein paar Gebüsche, wo man nicht reinsehen kann.«

»Setz dich doch einen Moment zu mir, dann können wir drüber quatschen«, sagte Hartmut.

»Was soll‘n wir denn darüber quatschen. Entweder du willst ficken oder nicht. So perverses Zeug mache ich eh nicht mit, das sag ich dir gleich!«

Hartmut zückte seinen Geldbeutel und zog einen Fünfzigmarkschein heraus. »Hier!«

»Bist du verrückt? Tu den Scheiß weg, wenn die Bullen das sehen, sind wir beide dran.«

»Scheiß auf die Bullen. Die Bullen fahren hier Nacht für Nacht rum und alles, was sie machen, ist ein paar Führerscheine kontrollieren. Und das, obwohl sie wissen, dass hier Nacht für Nacht Tausende von Mark über den illegalen Ficktisch gehen. Also bleib locker, setz dich zu mir und wir quatschen ‚ne Viertelstunde für ‚n Fuffi. Das ist besser, als wenn du so einem Fettsack für hundert einen bläst, mit dem du ‚ne Dreiviertelstunde unterwegs bist.«

Das Mädchen sah Hartmut misstrauisch an, nahm aber schließlich das Geld und setzte sich zu ihm.

»Was bist ‚n du für einer?« fragte sie und steckte das Geld in ihre Hosentasche, nicht ohne sich wieder umzusehen, ob die Luft rein war. »Hm…« Hartmut überlegte und konnte nicht umhin. Er musste schmunzeln. »Was denkst du denn, was ich für einer bin?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Na, du müsstest dich doch mit Männern auskennen?«

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Sorry, so hab ich das nicht gemeint…«, sagte Hartmut, weil er es wirklich nicht abfällig gemeint hatte.

»Ich mach das noch nicht so lange… Ein halbes Jahr vielleicht.«

Natürlich, dachte Hartmut. Und wahrscheinlich nur, weil du keine Lehrstelle gekriegt hast und deine Wohnung irgendwie finanzieren musst. Blöde Kuh. Und deshalb rennst du auch nachher zum nächsten Dealer und lässt dir ein paar Gramm Heroin raus, weil man ja schließlich mal abschalten muss. Aber du hast es bestimmt unter Kontrolle. Ganz sicher. Du könntest jeden Tag aufhören, wenn du wolltest. Du willst nur nicht, weil diese Welt sowieso Scheiße ist. In dem Punkt muss ich dir allerdings recht geben.

»Hast du keine Wohnung?« fragte sie und zog an der Zigarette.

»Doch, hab ich… Ich wollte nur… Mir fiel die Decke auf den Kopf.«

»Geht mir auch manchmal so.«

»Hmm… Glaub ich. Das geht jedem manchmal so.« Hartmut fand die Frage ziemlich blöd, stellte sie aber trotzdem, weil er mehr von ihr wissen wollte. »Warum machst du das hier?«

»Warum wohl… Dreimal darfst du raten.«

»Drogen?«

»Der Kandidat hat hundert Punkte.«

Sie grinste sarkastisch. Hartmut musste auch grinsen.

»Hast keinen Bock aufzuhören?«

»Hab‘s schon zweimal versucht. Mit Entzug mein ich… Bin aber jedes Mal wieder abgerutscht. Immerhin hab ich mich wieder auf die Warteliste für ‚nen Therapieplatz setzen lassen. Das dauert immer nur so ewig, bis man drankommt.«

Hartmut schämte sich ein wenig. Sie log nicht, jedenfalls glaubte er es nicht. Sie gab zu, ein Junkie zu sein. Das imponierte ihm, auch wenn es im Grunde keinen Sinn machte, zu lügen. Sie belog sich auch nicht selbst, so wie er sich belogen hatte, als er zu Nutten gegangen war.

»Hast du ne Freundin?«

Hartmut schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht.«

»Was machst du hier. Ich meine… Bist du so Typ, der sich die Mädels hier anschaut, und dann heimgeht und sich einen runterholt, oder was?«

Hartmut musste schon wieder schmunzeln. Das zweite Mal heute abend.

»Nein, bin ich nicht. Das heißt.. Ich hol mir natürlich ab und zu einen runter.. Und manchmal denk ich dabei auch an Frauen, die auf der Straße ihr Geld verdienen, aber ich bin nicht drauf fixiert oder so was.«

»Hmm…« Das Mädchen schien seine Ehrlichkeit zu akzeptieren, vielleicht war sie sogar ähnlich berührt, so wie Hartmut von ihrer Ehrlichkeit berührt gewesen war.

»Wie heißt du?« fragte er.

»Melanie«, antwortete sie. »Und du?«

»Hartmut. Aber die meisten Leute nennen mich Hardi«

»Alles klar, Hardi.«

Sie gaben sich die Hand, und Hardi fand, dass sie sehr weiche Hände hatte.

»Hör zu, Hardi. Die Viertelstunde ist rum und ich hab hier noch was zu erledigen. Du weißt schon. War auf jeden Fall nett mit dir zu plaudern.«

»Warte mal… Warum bleibst du nicht noch ein bisschen? Wir könnten auch die Kneipe da drüben gehen. Ich spendier dir einen Kaffee, oder was du willst.«

Melanie blieb stehen und sah genervt zur Seite.

»Was willst du von mir, Hardi?«

»Gar nichts? Ich bezahl dir die Zeit.«

»Das ist ja schön und gut, aber bei einem Fick weiß ich, wann‘s vorbei ist. Ich lass mich nicht gern auf solche Gehen-wir-einen-Kaffee-trinken-Geschichten ein, o.k.? Als nächstes heißt es dann… Fahr‘n wir noch zu mir? Und dann werde ich drei Tage ans Bett gefesselt.«

»Quatsch!« Hartmut zog die Augenbrauen tief ins Gesicht.

»Oder bist du so ein netter Onkel, der die süße Kleine aus der Gosse holen will, damit er kein schlechtes Gewissen vor Gott und der Welt haben muss, weil kleine Mädchen gefallen?«

»Scheiße..« zischte Hardi und erhob sich. »Ich wollte nur…«

»Was?!«

»Verdammt, ich will heute nicht mehr alleine sein. Ich will mit jemandem reden, der ehrlich ist. Ich habe niemanden, den ich anrufen könnte, oder der da ist, wenn man ihn braucht. Du bist der erste nette Mensch, den ich heute treffe.«

»Und das soll ich dir abnehmen, wie? Du findest also jemanden nett, der sich dafür bezahlen lässt, dass er sich deine Scheiße anhört.«

»Ja, verdammt. Weil das ehrlicher ist als geheuchelte Freundschaft.«

»Ich hab aber keinen Bock mir deine Probleme anzuhören. Was ist los? Ist dir die Alte weggelaufen, oder was?«

»Ich hatte nicht vor, dir was vorzuheulen, Kleine. Am besten wir vergessen das!«

»Ja, ist wirklich besser so. Ich hab keine Lust auf Probleme.«

»Probleme?«

Hartmut wurde wütend, aber es war eine andere Art von Wut. In keiner Sekunde stellte er sich vor, seine Knarre auf die Kleine zu richten. Er starrte sie an und dann brach es wie ein Gewitter aus ihm heraus…

»Dein Leben besteht aus nichts anderem als aus Problemen. Du bist süchtig und gehst auf den Strich. Hast vermutlich keine Bleibe und niemandem zu dem du gehen kannst außer vielleicht deinem Dealer oder ein paar Junkie-Kumpels. Probleme… Ich will dir mal was sagen, Fräulein. Ich hab den beschissensten Abend meines Lebens hinter mir. Ich habe mir ne Knarre besorgt, um mir ne Kugel durch den Kopf zu jagen. Ich wollte das zu Hause machen… Ganz gemütlich in aller Ruhe. Dann wollte ich noch etwas spazieren gehen, und diese blöde Taxischlampe dachte ich will sie über den Tisch ziehen. Dann tauchen diese Fuck-Skins auf und legen es auf ne Keilerei an, so dass ich gezwungen bin, mich zu wehren. Das erste Mal heute abend habe ich diese Scheiße für fünf Minuten vergessen, will mich verdammt noch mal nur mit irgend jemandem unterhalten und jetzt behandelst du mich wie einen perversen Psychopathen?«

»Du bist ein Psychopath, wenn du dir eine Kugel in den Kopf schießen willst! Ziemlich kaputt!« sagte sie, nahm ihre Tasche und setzte sich in Bewegung.

»Ach nein… Und was bist du?«

Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen.

»Du hängst an der Nadel, lässt dich von Typen ficken, wie sie vermutlich ekliger nicht sein können, und nennst mich kaputt? Gerade du wirst mir nicht erzählen wollen, dass du nicht auch schon daran gedacht hast. Nicht du… Dir ist es doch bestimmt schon des Öfteren durch den Kopf gegangen, dieser ganzen Scheiße ein Ende zu setzen. Vermutlich jedes Mal, wenn irgendein Dreckskerl deinen Kopf in seinen Schoß gedrückt hat und dich was weiß ich was genannt hat. Jedes Mal, wenn der Entzug den Bach runter ging und du wieder auf dem Strich gelandet bist. Meine Liebe, wenn ich kaputt bin, dann wäre ich bei dir in bester Gesellschaft.«

Dann herrschte Schweigen. Melanie stand regungslos da. Ein Wagen hielt an und der Fahrer ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. Er rief dem Mädchen etwas zu, das Hardi jedoch nicht verstehen konnte. Melanie drehte sich zur Seite und schrie den Typ im Wagen an. Sie schrie, dass er sich verpissen sollte, weil sie sonst die Bullen holen würde. Dann nannte sie ihn noch einen Wichser und schickte ihn zum Teufel. Mit quietschenden Reifen fuhr der Wagen an und der Fahrer rief ihr noch etwas zu, das Hartmut abermals nicht verstand, aber er konnte sich denken, zu welcher Art Wortschatz es gehörte. Melanie drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte Tränen in den Augen, aber Hartmut wusste, dass sie dagegen ankämpfen und den Kampf auch gewinnen würde. Sie trat zwei Schritte näher zu ihm.

»Du hast mir gerade einen Job versaut. Die Stunde in der Kneipe kostet zweihundertfünfzig… Und das Geld fürs Taxi. Danach werde ich nämlich heimfahren.«
»Das wirst du nicht. Du wirst das Geld nehmen und dir Stoff besorgen. Aber das ist mir wurscht. Lass uns gehen… Es ist kalt hier draußen.«

Sie gingen eine Querstraße weiter, in das nächstbeste Lokal, das nicht nach einer Bar aussah, und ließen sich in einer Nische wieder. Hartmut bestellte zwei Kaffee und Melli verlangte einen Cognac dazu.

»Es ist üblich im Voraus zu bezahlen«, sagte sie und Hartmut zückte seinen Geldbeutel. Er fischte zwei Hunderter heraus und bemerkte Mellis Erstaunen darüber, dass sich von dieser Sorte noch einige darin befanden. Hardi sah sie an und fragte sich, was sie jetzt dachte. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie sich mit der Frage auseinanders etzte, wie sie ihm noch mehr Geld aus der Tasche ziehen konnte. Sie mochte eine Nutte sein, die auf Drogen war, aber sie war keine, die einen bei der erst besten Gelegenheit abzockte.
Bis der Kaffee kam, sagte keiner von beiden etwas. Jeder dachte nach und beide befanden sich in einer für ihn ungewohnten Situation. Hardi war derjenige, der ursprünglich alleine sein wollte, und auch doch nicht. Sein Plan, heute Nacht seinem Leben ein Ende zu setzen, hatte mit einem Mal genauso an Bedeutung verloren, wie alles andere. Ihm war es im Grunde egal, ob er lebte oder nicht. Seltsamerweise war ihm dieses Mädchen, das er überhaupt nicht kannte, aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht egal.

Melli fragte sich, ob der Typ ihr gegenüber eine Zentralmeise oder einfach nur zuviel Kohle hatte. Für Zweihundertfünfzig verlangten die Kerle sonst tausend Extras. Analverkehr oder abspritzen in den Mund oder dass sie sich die Hände an die Kopfstütze fesseln ließ. Oder so ein Arschloch versprach ihr Zweihundertfünfzig und mehr und nahm sich später im Wagen auf einer abgelegenen Lichtung was er wollte. Schreien hätte nichts genützt. Erstens, weil sie stets Orte auswählte, wo wirklich kein Schwein hinkam, und zweitens, weil alles brauchen konnte, nur keinen Ärger mit den Bullen. Den hatte sie nämlich schon zur Genüge gehabt. 600 Mark Bußgeld standen noch offen, die sie innerhalb der nächsten drei Monate zu bezahlen hatte. Strafbescheid wegen Prostitution ohne angemeldetes Gewerbe und Verstoß gegen das Gesundheitsgesetz. Und wie sollte sie das Geld verdienen, ohne wieder gegen das Gesetz zu verstoßen? Wer schon gab einem Mädchen einen Job, dem man das Heroin auf zwei Kilometern ansah?

Aber sie machte sich nicht wegen des Geldes Sorgen. Höchstens, dass die Bullen fragen könnten, wo sie es her habe. In einer guten Nacht machte sie um die fünfzehnhundert. Das bedeutete, wenigstens zehn Freier, einer schlimmer als der andere. So einen Typ wie Hardi traf man wenn, dann nur selten. Und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte auch er einen gewaltigen Sprung in der Schüssel. Aber sie hatte das Geld und ohne dafür die Beine breit gemacht zu haben, und nur das zählte. Der Kellner brachte die Getränke und Melli griff zuerst nach dem Cognac, den sie auf Ex hinunterkippte. Hardi zog es alles zusammen, als er das sah. Er bemühte sich jedoch, ihr das nicht zu zeigen.

»Warum willst du das tun?« fragte sie und schüttelte sich.

»Was?«

»Na, das mit der Knarre… Oder hast du das nicht ernst gemeint?«

Hartmut überlegte einen Moment und suchte nach einer Antwort. Einer Antwort, die er sich selbst nicht geben konnte.

»Ich weiß es nicht. Es hat alles keinen Sinn mehr.«

»Warum? Ich meine, da muss doch irgendwas passiert sein?«

»Hmm… Ich weiß nicht… Nein, da ist gar nichts passiert. Oder es ist soviel passiert, dass ich es gar nicht auf die Reihe kriege. Ich kann einfach nicht mehr. Es ist mir alles wurscht. Der Job, mein Leben… Ich habe keine Lust mehr dazu. Ich finde an nichts mehr Freude.«

»An gar nix?«

»An gar nix…«

»Hast du keine Hobbys oder so was?? Was macht dir denn normalerweise Spaß?«

Hartmut musste wieder lächeln. Seltsam, dass sie es ansprach.

»Ich.. habe früher oft geschrieben.«

»Geschrieben? Was denn?«

»Alles mögliche. Kurzgeschichten, Gedichte… Alles mögliche.«

»Cool! Und warum macht dir das keinen Spaß mehr?«

»Weil es sinnlos ist«, sagte Hartmut und fühlte sich plötzlich unter Druck gesetzt. Das Thema behagte ihm ganz und gar nicht. »Wo wohnst du eigentlich?«

Melli zögerte. »Warum willst du das wissen?«

»Nur so. Keine Sorge, ich will dich nicht auf den rechten Weg bringen oder so was… Ich möchte nur ein bisschen was über dich erfahren.«

»Hmm… Ich wohne in ‚ner WG. Mit vier andern Mädels.«

»Und woher kommst du? Ich meine ursprünglich.«

»Heilbronn… Nicht direkt. Aus einem kleinen Kaff, wo sich Fuchs und Haas Gute Nacht sagen. Aber das ist schon lange her…«

Hardi bohrte weiter und im Verlauf des Gespräches erfuhr er, dass Melli mit 16 von zu Hause ausgebüxt war, weil sie es nicht ertragen konnte. Die cholerischen Anfälle ihres Vaters, den Alkoholismus der Mutter und das ordentliche Bild, das man nach außen hin zu zeigen hatte. Schließlich musste man ja den Nachbarn und den anderen Arschlöchern aus dem Ort nicht auf die Nase binden, dass man keine Familie mehr war, seit Mama das mit Papa und Tante Marlies herausgefunden hatte und sich jeden Abend die Kante gab. Aber Melli wollte nicht still sein. Melli hatte ihr Maul nicht halten können und Papa die Meinung gesagt. Nachdem sie sich nach drei Tagen Bettruhe wieder im Stande sah aufrecht zu gehen, hatte sie das Nötigste zusammengepackt und war abgehauen. Vier Tage danach wurde sie von den Bullen wieder heimgebracht. Nach der dritten Flatter schaltete sich das Jugendamt ein und entzog den Eltern das Sorgerecht. Melli kam in ein Heim, in dem sie lernte, wie man sich auf der Straße durchschlug und wie gut es tat, wenn man dieser beschissenen Welt mit Hilfe von ein paar Gramm weißem Zauberpulver entfloh, und mochte dies auch nur für ein paar Stunden sein.

Mit neunzehn wurde sie in die Welt entlassen, mit zwanzig verbrachte sie ihre ersten drei Monate in einer psychiatrischen Klinik. Eine Sozialarbeiterin mit dem Namen Finkbeiner besorgte ihr einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft, von wo sie einen Arbeitsversuch bei der Bundespost machte.

Alles wäre vielleicht erfolgreich verlaufen, wäre da nicht Herr Schlotterbeck gewesen, der ihr Vorgesetzter war und dem es ein diebisches Vergnügen bereitete, ihr an den Hintern zu fassen, wenn keiner hinsah. Einmal waren sie allein im hinteren Lager und dieser fette Schleimi kam zu ihr, drückte sie gegen eine Palette mit Briefumschlägen. Er zischte ihr ins Ohr, dass sie nur ein wenig nett sein brauche, um die beste Beurteilung ihres Lebens zu kriegen. Dabei hatte er seine fette Pranke schon unter ihren Pulli geschoben. Sie hatte es damals schon ein paar Mal für Geld gemacht und sagte ihm, dass sie sich nicht wehren würde, wenn er dieser Spitzenbeurteilung noch zweihundert Mark zulegen würde, worauf er ihr eine scheuerte und ihr sagte, dass er es melden würde, dass sie sich ihm für Geld angeboten habe. Dann drückte er sie auf die Knie und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Fünf Minuten später war es vorbei und Melli schwor sich, diesen Mistsack umzubringen. Doch sie tat es nicht. Sie fehlte drei Tage mit der Begründung, sich erkältet zu haben. Seltsamerweise hatte er sie nach diesem Vorfall nie wieder betatscht. Vermutlich weil er doch fürchtete, mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Ihre Beurteilung war zufriedenstellend, aber das war ihr so wurscht wie sonst was.

Nachdem Melli ihre Geschichte erzählt hatte, erzählte auch Hartmut von sich, seinem Leben, Cora und seinem Plan, dessen Durchführung noch ausstand. Melli hörte zu, versuchte jedoch nicht, ihn von der Unsinnigkeit seines Todeswunsches zu überzeugen

Sie kannte diesen Wunsch mehr als ihr lieb war. Hardi hatte recht gehabt, als er ihr das auf der Straße an den Kopf geworfen hatte. Nur zweifelte sie daran, dass er es wirklich ernst meinte, denn wenn dieser Typ, der eigentliche gar keinen Sprung in der Schüssel zu haben schien, es wirklich ernst gemeint hätte, dann hätte er es längst getan. Wäre nicht in dem Taxi sitzen geblieben und hätte sich mit Waffengewalt gegen seine eigene Suizidalität verteidigt.

»Ich weiß, was du meinst. Das mit dem Sterben wollen…«

»Glaub ich dir«, antwortete er. »Ich weiß nur nicht, ob ich es wirklich will. Es ist mir irgendwie egal, ob ich lebe oder tot bin. Ich habe auch irgendwie keine Lust, mir weiterhin darüber den Kopf zu zerbrechen.«

»Du solltest dir vielleicht auch lieber den Kopf darüber zerbrechen, was du den Bullen erzählst. Die werden bestimmt schon hinter dir her sein.«

»Erstens wegen dieser Taxitante und zweitens wegen dieses Skins, von dem du nicht weißt, ob er schon das Zeitliche gesegnet hat.«

»Im Grunde war es Notwehr…«

»Ja, das interessiert nur keinen Schwanz.«

»Und es war ein Riesenarschloch!«

»Ja, aber das zählt leider auch nicht.«

»Das muss man sich mal geben..«, sagte Hardi. »Der hatte sich ein Hakenkreuz auf den Unterarm tätowieren lassen, mit einem Totenkopf drüber und runter stand: Die Rache für den Führer kommt!«

Melli hörte die Worte und erstarrte.

»Was hast du?« fragte Hardi.

»Es ist.. nichts. Ich glaub nur… Ich kenne den Typ.«

»Ehrlich? Ist aber hoffentlich kein Freund von dir?«

Melli lächelte gequält. Man sah ihr an, dass ihr Herz bis zum Hals schlug. »Nein… Bestimmt nicht. Den hast du abgeknallt?«

»Ich denke schon«, sagte Hartmut. Er stutzte. Irgend etwas stimmte nicht. Sie schien am ganzen Leib zu zittern.

»Hey… Da stimmt doch was nicht. Was ist denn?«

»Es ist.. nichts.«

»Erzähl das deiner Großmutter.«

Melli presste die Lippen aufeinander und starrte ins Leere. Hartmut konnte ihre Anspannung förmlich fühlen.

»Was ist passiert?« fragte er instinktiv.

Melli sah ihn an und ließ die Augenlider sinken.

»Kann ich noch einen Cognac haben?«

Hartmut winkte dem Kellner.

»Es war vor etwa zwei Jahren. Ich hatte die erste Behandlung gerade abgebrochen. Ich war mit ‚ner Freundin im Roxy, als uns drei Typen ansprachen und uns Stoff anboten. Ich hatte keine Kohle. Meine Freundin auch nicht. Sie wollten uns es so geben, wenn wir… uns von ihnen ficken lassen würden. Wir gingen mit. Und dann…«

Sie wischte sich eine Träne von der Wange, die sie nicht hatte halten können.

»Was ist passiert, um Gottes Willen? Haben sie euch verge…«
Hartmut verschluckte den Rest des Satzes, der ihm im Hals steckengeblieben war.
»Vergewaltigt? Nein… So einfach kann man das nicht nennen. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Nach dieser Nacht hatte ich den selben Wunsch wie du. Nicht das erste Mal… Aber ich hatte ihn noch nie so stark.«

Sonja, meine Freundin, lag zwei Wochen im Krankenhaus. Mich wollten sie zuerst auch da behalten. Aber ich konnte rechtzeitig abhauen. Es ist verrückt… So verrückt… Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass dieser Wichser den schlimmsten aller Tode sterben würde und jetzt sitze ich mit dem Typ an einem Tisch, der ihn umgenietet hat.«
Melli lächelte unter den Tränen in ihren Augen.

Hartmut brachte keinen Ton raus. Er war ebenso fassungslos. Er bereute es plötzlich, nicht noch einmal abgedrückt zu haben.

»Scheiße…« zischte Melli und sah über Hartmuts Schulter vorbei.

»Was ist?«

»Dreh dich nicht um, die Bullerei ist grad eingelaufen. Ich wette, du stehst schon ganz oben auf ihrer Liste. Bleib locker… Wir waren den ganzen Abend zusammen … im Kino. Nur falls sie fragen.«

Hartmut nickte und zitterte. Das war ihm plötzlich nicht mehr egal. Er hatte keine Angst vor der Polizei. Er hatte nur Angst, dass sie ihm seine Kanone, seine Macht wegnehmen könnten. Er hatte die Durchführung seines Planes lediglich aufgeschoben, keineswegs aufgegeben.

Es waren zwei Beamte in Zivil, die langsam durch das Lokal gingen und sich jeden Gast besonders genau ansahen. Sie suchten jemand, das stand für Melli fest. Sie kannte den einen der beiden, ein Typ namens Schultheiß. Ein Bulle, der Melli schon zweimal hochgenommen hatte. Einer von denen, die sich schmieren ließen und die manchmal darauf verzichteten, die Nutten aufs Revier zu bringen, wenn diese nett zu ihm waren. Er hatte Melli gesehen. Er hatte sie erkannt. Und er kam auf sie zu…

»N‘abend Melli. Na, wärmen wir uns auf?«

»Hi… Wir trinken nur was.«

»Trinken? Ja, das seh ich.«

Der Beamte nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu Melli und Hartmut an den Tisch. Der andere blieb stehen und suchte mit gezielten Blicken das Lokal ab.

»Was ist los, Melli. Wieder im Geschäft?«

»Nö.. Gar nicht. Ehrlich… Wir trinken nur was. Das ist mein Freund, Hardi.«

»Servus Hardi. Nett deine Bekanntschaft zu machen… Du bist also Mellis Freund?«

»Ein Freund…«, sagte er und verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Der Bulle hatte nicht das Recht, ihn zu duzen. Was fiel diesem Arschloch ein, ihn zu duzen. Was musste er sich eigentlich noch alles gefallen lassen. Er hatte seine Hände in die Jackentaschen geschoben und die Finger seiner rechten Hand umklammerten die Colt wie ein Rettungsseil.

»Ein Freund… So, so… Wie lange kennt ihr euch denn schon?«

»Ein Jahr… Anderthalb?«

»Ach, so lange schon? Und wo habt ihr euch kennen gelernt?«

Hartmut sah dem Bullen jetzt direkt in die Augen. Er hatte aufgehört zu zittern, obwohl die Wut in ihm wuchs. Aber die Wut machte ihn jetzt ruhig.

»Wir haben uns in der Klapsmühle kennen gelernt. Ich war da als Patient. Ich war da nämlich schon öfters. Ich hab ‚ne Psychose…«

Melli trat Hardi gegen sein Schienbein. Die provokante Art, wie er dem Polizisten antwortete, war nicht gut. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Schultheiß gehörte zu den Bullen, die nur darauf warteten, dass sie einer provozierte.

»Schon gut, Kumpel… Du brauchst hier keine Show abziehen. Du interessierst mich überhaupt nicht. Aber dich Melli dürfte interessieren, dass sie den guten alten Kai heute abend mit ‚ner Kugel in der Brust gefunden haben.«

Melli atmete schneller.

»So?«
»Ja… Irgend so ein Arschloch hat der Welt einen Gefallen getan und ihn ins Jenseits befördert. Der Typ hat sogar den Nerv gehabt einen Krankenwagen zu rufen. Scheint so, als sei Kai diesmal an den Falschen geraten. Freust du dich, Melli? Du scheinst gar nicht überrascht zu sein. Weißt du was über die Sache?«

»Ich?! Nein… Natürlich nicht.«

»Komm schon, Melli. Du hast den Typ doch gehasst, wie die Pest.«

»Und jetzt soll ich was mit dieser Scheiße zu tun haben? Hören sie, ich bin froh, dass dieses Arschloch tot ist, aber…«

»Warum lassen sie uns nicht einfach in Ruhe?« fragte Hartmut.

»Wie?« Der Bulle drehte seinen Kopf und sah Hartmut an, als handle es sich um einen Außerirdischen.

»Hab ich gesagt, Arschloch melde dich, oder was?« schrie der Bulle. »Ich geb‘ dir einen letzten guten Rat, Kumpel. Halt jetzt deine Fresse, außer ich frage DICH etwas, oder du bist fällig.«

Hartmut schloss die Augen und atmete tief durch.

»Schon gut, Herr Schultheiß. Ich… Wir waren wirklich den ganzen Abend zusammen… Im Kino.. Wir waren im Kino!« sagte Melli hastig.

Der Blick des Bullen klebte immer noch an Hartmut. Schultheiß war sauer. Er wurde sehr schnell sauer, dennoch hatte er heute abend, bei diesem Wichser schon Geduld genug bewiesen. Er schwor sich, kurzen Prozess zu machen, sollte dieser Schleimscheißer noch einmal sein verwichstes Maul aufmachen.

»In welchem Film?« fragte er, hielt jedoch seinen Blick starr auf Hartmut gerichtet.

Melli zögerte einen Moment, suchte nach einer Antwort, die es nicht gab.

»Golden Eye… Der neue James Bond«, antwortete Hardi und fixierte den Polizisten.

»Welches Kino?«

»Atrium« antwortete Hardi wie aus der Pistole geschossen.

»Um wie viel Uhr?«

»Viertel nach Acht… Die Vorstellung ging bis etwa halb elf. Dann sind wir um die Häuser gezogen. Dann kamen wir hierher.«

»So so… Wie war der Film?«

»Gut«

»Echt? Ich fand ihn beschissen… Erzähl mir den Schluss… Melli!«

Hartmut hielt seinen Blick stur auf den Beamten gerichtet, der seinerseits nicht von Hardi abließ. Melli zitterte und sehnte sich vermutlich nach einem Schuss. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.

»Ich… Ich weiß nicht genau… Ich fand den Film langweilig… Wäre beinahe eingeschlafen.«

»Ach so… Dann werden wir Eurer Erinnerung auf dem Revier auf die Sprünge helfen.«

»Wir werden nirgendwo hingehen«, sagte Hardi ruhig.

»Willst du mir Ärger machen, Arschloch.«

»Was habe ich Ihnen eigentlich getan?«

Plötzlich schnellte Schultheiß‘ Faust wie aus dem Nichts in Hartmuts Gesicht. Der Schlag traf ihn so hart, dass er vom Stuhl kippte und für einige Sekunden besinnungslos liegen blieb. Schultheiß stand auf und packte Mellis Arm, zog sie hoch und schubste sie nach vorn, wo sie beinahe über den am Boden liegenden gestolpert wäre.
Schwarze Punkte flimmerten vor Hartmuts Gesicht. Instinktiv schob er seine Hand in die Jackentasche und ergriff die Pistole. Nur langsam kam er wieder zu sich und hörte die Stimme des Polizisten.

»Steh auf du kleiner Wichser. STEH AUF HAB ICH GESAGT!«

Hartmut rappelte sich auf die Knie, darauf gefasst, jeden Moment wieder einen Schlag abzubekommen. Sein Kopf schmerzte und auf seinen Lippen fühlte er Blut. Er hatte dem Polizisten nichts getan. Der hatte kein Recht ihn zu schlagen. Was bildete sich dieses Schwein eigentlich ein? Niemand durfte ihn schlagen.

»Hast du nicht gehört, verdammt noch mal?« hörte er den Bullen zischen und sah im Augenwinkel dessen Schatten auf sich zukommen. Hardi warf sich zur Seite und zog die Waffe heraus. Er riss sie hoch und feuerte. Ohne ein Ziel. Er hatte die Mündung instinktiv in Richtung des Schattens gerissen, als der Schuss sich löste. Schultheiß wurde zwei Meter nach hinten gerissen, stieß gegen die Wand und rutschte an ihr herunter wie ein Teller mit klebrigen Spaghetti. Melli schrie auf. Die anderen Leute stürmten aus der Kneipe. Der Wirt griff nach dem schnurlosen Telefon und rannte zu einer Tür hinaus, auf der das Wort PRIVAT geschrieben stand.

Schultheiß starrte Hardi mit weit aufgerissenen Augen an, so als könne er gar nicht begreifen, was geschehen war. Es war beinahe so, als drücke sein Blick nicht die Folge einer Verletzung aus, sondern die Verwunderung darüber, dass es jemand gewagt hatte, auf ihn zu schießen.

Die Tür zum Lokal sprang auf und ein Mann mit einer Waffe stürmte in das leergefegte Lokal. Melli warf sich zwischen den Tischen auf den Boden und schrie…

»Vorsicht!«

Hardi drehte sich und feuerte, was das Magazin hergab. Der Mann, vermutlich der Kollege von Schultheiß, der inzwischen das Lokal verlassen und im Wagen gewartet hatte, taumelte nach hinten und stürzte zu Boden, wo er regungslos liegen blieb.

Hardi stand auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, die wie Feuer brannten. Blut klebte an seiner Hand. Melli erhob sich ebenfalls und glaubte nicht, was sie sah.

»Scheiße… Mann, was für eine Scheiße. Wir müssen verschwinden, Hardi. SCHNELL!«, schrie sie, griff nach Hartmuts Hand und zog ihn aus dem Lokal. Die Straßen waren leergefegt. Keine Nutte war mehr zu sehen. Kein Zuhälter… Niemand. Melli rannte los. Hartmut mit ihr. Er wusste nicht wohin sie rannte. Er folgte ihr nur, rannte ihr nach. Das Schicksal hatte sie auf bizarre Weise aneinander geschweißt.

*

Hardi saß zusammengekauert in einer dunklen Ecke des Zimmers eines verlassenen Bürogebäudes, in das Melli ihn gebracht hatte. Der alte Bau sollte abgerissen werden. Aber nicht heute Nacht.

Er hielt die Waffe in seinen Händen fest umklammert. Melli stand am Fenster und lugte vorsichtig hinaus auf die Straße, bemüht darum, von draußen nicht gesehen zu werden. Sie waren fast eine Stunde gerannt, wohin wusste Hardi nicht. Er hatte sich den Weg nicht gemerkt. Sie hatten zwischen Büschen und Hecken Deckung gesucht, waren von Nische zu Nische gehastet. Hatten Zäune erklommen und sich darüber gekämpft und waren schließlich in diesem verlassenen Haus gelandet.

»Niemand zu sehen«, sagte sie fast flüsternd und zog sich in die Dunkelheit des Zimmers zurück, wo sie sich neben Hardi niederließ.
»Du bist ganz schön durchgeknallt, weißt du das eigentlich?« sagte sie und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche ihrer Jeansjacke. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und reichte das Päckchen samt Feuerzeug Hardi, der es gar nicht recht registrierte.

»Zieh eine und beruhig dich erst mal. Wir sitzen ziemlich in der Scheiße und sollten ‚nen klaren Kopf behalten.«

Sie lehnte sich zurück und legte das Päckchen neben Hardi. Sie fragte sich selbst, woher sie die Ruhe nahm, aber war es das wirklich? War es nicht vielmehr die Müdigkeit, die sie zwang, sich zu entspannen. Sie hatte sich einen Schuss gesetzt, kurz nachdem sie in diesen Trümmerhaufen gekommen waren und sie Hartmut in die Ecke dieses Loches gesetzt hatte. Sie war nach unten gegangen, unter dem Vorwand Pinkeln zu müssen. In einer Nische des vergammelten Treppenhauses des Gemäuers, in dem kein Mensch mehr wohnte, hatte sie das Spritzbesteck herausgeholt, die Ladung Dope heiß gemacht und sich gedrückt.

Jetzt fühlte sie sich besser, zufrieden, alles war egal. Schultheiß war über den Jordan. Schultheiß, das korrupte Bullenschwein. Um so besser. Ein Arschloch weniger auf diesem Planeten und dann auch noch am selben Abend zur Hölle gefahren, wie Nazi-Kai. Eigentlich sollte man sich bei so vielen guten Neuigkeiten gleich noch eine Spritze setzen zur Feier des Tages. Aber sie hatte nur noch etwa ein halbes Gramm und das musste reichen, bis sie sich wieder auf der Szene blicken lassen konnte. Es würde bestimmt nicht reichen, aber das war jetzt egal, alles war egal… Alles war Itzti-Bitzti! Scheiß drauf!

Sie setzte sich neben Hartmut und legte ihren Arm um ihn. In diesem Moment tat er ihr leid. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr für einen anderen Menschen empfunden hatte. Nicht mal für sich selbst.

»Erzählst du mir von dir?« fragte sie leise und begann vorsichtig über seinen Rücken zu streicheln.

Hartmut legte die Waffe beiseite und nahm sich eine Zigarette.

»Du hattest ja selber welche« sagte er und grinste. »Warum hast Du mich heute Abend wegen einer Zigarette angequatscht?«

»Weiß nicht…« sagte sie und grinste.

Melli drängte ihn nicht. Sie ließ ihn seine Gedanken sammeln. Das tat gut. Es tat so verdammt gut, nicht bedrängt zu werden. Er wusste nicht, was er ihr jetzt hätte erzählen können.

Hartmut kauerte sich in Mellis Arme und begann zu weinen. Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Einen Mann, den sie so gut wie nicht kannte, der ihr aber in diesem Moment vertrauter erschien als der beste Freund, den sie je hatte. Ob es die Verzweiflung war, die ihr so vertraut war, oder die Wut, die sich in maßlose Trauer verwandelte, wusste sie nicht. Aber das war jetzt auch nicht von Bedeutung. Sie waren beide nicht mehr allein, nur das zählte. Sie wollte diesen Moment auskosten, weil sie wusste, dass er bald wie ein nasses Stück Seife davongleiten würde, weil sie kommen würden. In Scharen würden sie kommen, um sie beide zu holen. Die Bullen hatten ihre Spitzel überall.

Es dauerte eine ganze Weile, bis seine Tränen versiegten. Als sein Schluchzen aufgehört hatte, lockerte sie den Griff ihrer Arme. Hartmut richtete sich auf und sah sie an. Sie war schön. So wunderschön, im hereinströmenden Licht einer Straßenlaterne. Er näherte sich ihr langsam und gab ihr vorsichtig einen Kuss… Dann noch einen und sie erwiderte seine Küsse, während sich ihre Finger in seine Haare wühlten.

Sie sanken auf den kalten Steinboden, eng umschlungen und wälzten sich wie Kinder umher. Er schob seine Hände unter ihren Pullover und sie tat es ihm gleich. Sie entledigten sich nur des Nötigsten, um miteinander zu schlafen, denn die Nacht war kalt und so sehr sie beide ineinander versinken wollten, so sehr froren sie auch noch zu Beginn ihres Liebesspiels.

Es war lange her, dass sie mit einem Mann geschlafen und etwas dabei empfunden hatte, doch darüber wollte sie auch jetzt nicht nachdenken. Sie kannte den Mann nicht, der in sie eindrang und ihr eine Lust bereitete, wie sie sie zuvor kaum erlebt hatte. Sie wusste auch nicht, ob das, was er tat, aus Liebe, Wollust oder Dankbarkeit geschah. Sie wollte ihn und sie bekam ihn und erlebte einen Höhepunkt, wie sie ihn selten zuvor erlebt hatte. Als Hartmut kam, dachte er, er müsse sterben, so intensiv war das Gefühl, in ihr zu sein. Und wenngleich er es nicht geschafft hatte, sich selbst zu töten, so erlebte er den kleinen Tod in einer Frau, die es geschafft hatte, ihn vergessen zu machen, was geschehen war. Sie hatte ihre Beine um seine Hüften geschlagen, ihre Arme umfassten seinen Oberkörper und mit beiden erdrückte sie ihn fast, so als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
Als Hardi seinen kleinen Tod gestorben war, blieb er auf ihr liegen. Sie hätte ihn auch nicht gehen lassen, sie wollte ihn so lange als möglich bei sich behalten. So schliefen sie ein, zusammen. Beide träumten nichts in dieser Nacht. Sie hatten einen wundervollen Traum real erlebt. Es gab nichts mehr, wovon sie sonst träumen konnten.
Am nächsten Morgen erwachte Melli und konnte sich kaum bewegen, so fest hielt Hartmut sie. Sie blieb ganz still liegen und betrachtete sein Gesicht. Es war vollkommen entspannt.

Sie spürte, wie ihr Körper nach den verdammten Drogen verlangte, doch sie kämpfte dagegen an, so gut es ging. Sie wollte ihn jetzt nicht wecken. Vielleicht würde er erwachen und einfach verschwinden. Wahrscheinlich würde er es tun.

Sie wollte so lange als möglich davon träumen, einen Prinzen gefunden zu haben, dem es egal ist, was sie war und in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Der sie so abgefuckt liebte, wie sie nun einmal war. Wenigstens so lange er noch schlief.

Draußen war es Tag geworden und auf der Baustelle schienen die ersten Leute mit der Arbeit anzufangen. Irgendwann würde sie ihn wecken müssen.
Sie musste es nicht. Hartmut schlug die Augen auf, blinzelte, machte die Augen wieder zu und wiederholte das Spiel. Als er Melli sah, lächelte er. Sie dachte, ihr Herz müsse vor Glück zerspringen. Er wendete sich nicht ab, erschrak nicht über das, was er in der Nacht getan hatte. Er hatte sie gesehen und gelächelt. Melli konnte es kaum glauben, sie war kurz davor loszuheulen.

»Guten Morgen«, flüsterte er.

»Morgen…« flüsterte sie und eine Träne entwischte ihr jetzt doch.

»Was hast du?«

»Es ist nichts..« sagte sie. »Ich bin glücklich.«

»Geht mir auch so.«

Draußen war Geschrei zu hören. Laster mit schweren Motoren fuhren umher. Plötzlich hörten sie einen Schlag und Schritte.

Hartmut erstarrte. Die Schritte waren hart und metallisch, Sicherheitsschuhe auf Beton. Melli presste ihren Körper an ihn, als könnte sie ihn in sich hineinziehen. Ihre Finger bohrten sich in seinen Arm, nicht aus Lust wie in der Nacht zuvor, sondern aus nackter Angst.

Er suchte den Raum mit seinen Blicken ab und sah einen alten Schreibtisch, neben dem eine Plastikplane zusammengeknüllt in der Ecke lag.
Wie zwei Kakerlaken huschten sie unter den Tisch und zogen vorsichtig die Plane vor sich, bemüht, keinen Mucks von sich zu geben.
Irgendwo knarzte eine Tür, die geöffnet wurde und wieder zuschlug. Die Schritte kamen näher.

Hartmut spürte Mellis Atem auf seiner Haut. Schnell und hektisch. Jetzt kamen die Schritte zu dem Raum, in dem sie sich befanden, und bleiben stehen. Ein paar Sekunden Stille, dann setzte sich die Person wieder in Bewegung und entfernte sich von dem Raum. Irgendwann schlug wieder eine Tür zu, und es wurde still.

»Schauen wir mal, ob wir unbemerkt abhauen können, hmmm?«

Melli nickte. Beide wollten nicht aufstehen, wussten jedoch, dass sie keine andere Wahl hatten. Hartmut ging vorsichtig zu einem der eingeschlagenen Fenster und lugte vorsichtig heraus. Draußen standen Leute, eine ganze Menschenmenge und auch mehrere Polizeiwägen. Alles war abgesperrt. Es war sogar ein Kamerawagen des Lokalfernsehens da.
»Scheiße…« flüsterte Hartmut.

»Was ist?« Melli kam ans Fenster und sah vorsichtig hinaus. Sie begriffen sofort, was los war, gingen zurück zu ihrem Lager und ließen sich nieder. Hartmut setzte sich zu ihr.

»Was machen wir?« fragte er.

Melli überlegte einen Moment, bevor sie ihm antwortete.

»Das war so ziemlich die schönste Nacht meines Lebens«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich so was überhaupt noch mal erlebe, weißt du.«
Hartmut nickte. »So ähnlich geht‘s mir auch.«

»Und wenn wir jetzt da raus gehen, dann werden sie dich einlochen, Hardi. Ich selber rutsche grad in den Scheiß-Entzug. Alles wird nie mehr so sein, wie es war. Und trotzdem wird die ganze Scheiße wieder von vorne losgehen.«

Hartmut nickte und dachte einen Moment nach, dann nahm er ihre Hand und zog sie an die Stelle, wo sie die Nacht verbracht hatten. Sie deckten sie mit ihren Jacken zu und kuschelten sich eng aneinander. Sie hätten gerne noch einmal miteinander geschlafen, aber sie wussten nicht, wie viel Zeit ihnen noch blieb, darum beließen sie es dabei, sich gegenseitig fest in die Arme zu nehmen.

In der Nacht hatten beide das Schild mit der Aufschrift »ACHTUNG SPRENGUNG!« gesehen. Was als Abschreckung gedacht war, versprach ihnen eine verquere Form von Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass man hier nach ihnen suchen würde, war eher gering.

Ein alter Kellereingang hinter einer schlecht montierten Absperrung hatte ihnen Zugang gewährt.

Das Gebäude, eine alte Industriebrache am Stadtrand, hatte sie wie ein Monster einfach verschluckt.

Die Schritte mussten dem Sprengmeister gehört haben, der einen letzten Kontrollgang gemacht hatte. Jetzt waren sie unsichtbar in einem Gebäude, das offiziell schon tot war, bevor es gesprengt wurde.

Irgendwann hörten sie die Sirene und wenig später die Explosionen, die nacheinander gezündet wurden. Sie hielten sich ganz fest umklammert und hielten die Augen geschlossen.

Als man später ihre Leichen zwischen den Trümmern fand, waren sie entkommen.

***

Lesezeit wird berechnet...
Szenen wird erstellt...