Sylvia lächelt

Sie steigen aus dem Wagen. Sylvia lächelt. Mit der rechten Hand winkt sie der jubelnden Menge zu, obwohl sie ganz genau weiß, dass ihr der Beifall nicht gilt. Mit der linken Hand hält sie die Handtasche fest umklammert.
Peter van Straaten ist bereits ausgestiegen und hält die Arme hoch erhoben. Er ist es, dem die Ovationen gelten, dem Spitzenpolitiker auf seinem Weg zur letzten großen Wahlveranstaltung. Hunderte von Menschen vor der Parteizentrale. Und sie jubeln, während Sylvia lächelt.
Peter geht zu ihr, legt seinen Arm um sie und drückt sie an sich.
Die vielen Menschen machen ihr Angst. Viel lieber wäre sie zu Hause geblieben. Aber Peter sagte, dass es wichtig sei. Nur heute … Versprochen ist versprochen.
Sie wünscht sich in ihr Zimmer am Starnberger See zurück. Man kann von dort den See sehen und die Schiffe, die darauf fahren. Weit weg von all dem Trubel, der Unruhe und der Angst. Weit weg auch von Peter .
Vielleicht hatte sie sich deswegen überreden lassen, die Sicherheit ihres Zimmers aufzugeben. Vielleicht ist sie es ihm schuldig. Vielleicht hat sie ihn auch nur vermisst. Sie haben sich so lange nicht gesehen.
Sie steigen die Stufen empor. Und während sie unter Beifall den Saal betreten, ist es, als gingen sie die Stufen zu der kleinen Eisdiele in Lammersbach hinauf. Dort hatten sie sich kennengelernt.
Als sie und Peter sich zum ersten Mal trafen, war er im Begriff, sein Studium zu beenden. Sie hatte damals bei Francesco in der kleinen Eisdiele, die den Namen Octavio trug, als Bedienung gearbeitet. Peter war mit ein paar Freunden dort gewesen, und sie hatten sich einen Don-Octavio-Coup bestellt, diesen Rieseneisbecher mit der Wunderkerze drin. Sie haben gelacht. Am nächsten Tag war er wieder gekommen. Diesmal allein. Und er hatte sie gefragt, ob sie mit ihm einmal ausgehen würde.
Sie willigte ein. Auch wenn sie durch ihren Vater ein wenig dazu angestachelt worden war. Der hatte am Vorabend nämlich einen Witz darüber gemacht, dass Sylvia mit 25 immer noch keinen Freund gehabt hatte. Sie hatte geweint, weil sie es so verstanden hatte, dass er sie loswerden wolle. Aber jetzt hatte sie eine Verabredung, und niemand würde mehr einen Witz über das kleine Mauerblümchen aus der Maybachstraße machen.
Der erste Abend war so schön gewesen. Peter war selber etwas schüchtern, aber ein Mann mit Grundsätzen. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Fortan sahen sie sich nur selten, meistens am Wochenende, und Sylvia ging es manchmal schlechter, weil sie sich bis über beide Ohren verliebt hatte. Sie dachte, es würde besser werden, als sie und Peter zusammenzogen.
Aber es wurde nicht besser.
Es wurde schlimmer.
In Sylvias Elternhaus war sie nie alleine gewesen. Immer war irgendjemand da. Mutter oder Vater, meistens alle beide. Seit sie mit Peter zusammenlebte, war sie allein. Abend für Abend. Manchmal die ganze Nacht hindurch.
Sie war die Einsamkeit gewöhnt. Nur nicht das Alleinsein.
Zu Hause war es einfacher gewesen. Meist hatte die Familie den Abend vor dem Fernseher verbracht. Dann driftete Sylvia ab … Tauchte in ihre eigene kleine Welt, in der sie alles sein konnte, was sie wollte. Von dem, was sie im Fernsehen zeigten, bekam sie dann kaum etwas mit. Aber sie wusste, dass dort jemand war. Dass sie nicht allein war, egal, was passierte. Sie saß dann meistens da und lächelte nur. Niemand wusste warum. Manchmal wusste sie es selbst nicht.
Sie denkt an die langen Abende allein zu Hause, an denen sie das Gefühl hatte, Tag und Nacht beobachtet zu werden, und niemand ihr glauben wollte, als sie von den Stimmen erzählte, die sie hörte. Peter hatte ihr einen Revolver besorgt, der fortan in ihrer Schublade lag und der ihr Angst machte. Erst zu spät hatte er begriffen, dass die Dämonen sich nicht mit einer geladenen Waffe vertreiben ließen.
Einen kurzen Moment denkt sie an Helena, die jetzt vier Jahre alt geworden wäre, wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hätte. Der Gedanke an ihr ungeborenes Kind zieht eine ganze Kette anderer Gedanken nach sich, die wie eine Lawine durch ihren Kopf rasen.
Sie nehmen an einem der vorderen Tische Platz. Die Dekorationen sind hübsch und natürlich in den Farben der Partei gehalten. Plötzlich hört Sylvia eine Stimme hinter sich …
»Haben Sie Ihre Medikamente schon genommen?«
Sylvia erschrickt und schaut auf. Eine junge Frau steht an ihrem Tisch. Sie trägt einen kurzen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, durch die man ihren BH sehen kann.
Hatte sie nicht gerade Schwester Edeltrauts Stimme gehört?
»Wie bitte?« fragt sie und krallt ihre Fingernägel in die Handtasche.
»Ob du etwas trinken möchtest …« sagt Peter und übernimmt es, zu bestellen. So wie er immer alles für Sylvia übernommen hatte, wenn es zu schwierig geworden war.
»Ein Mineralwasser bitte!« hört sie ihn sagen und sieht, wie er auf ihre Bluse starrt. Er kann ihre Brüste sehen, denkt Sylvia und hört auf zu lächeln. Jetzt grinst sie ihn auch noch an, diese Schlampe. Wahrscheinlich hat sie gewusst, dass er heute Abend hier sein wird. Natürlich hat sie es gewusst. Jeder hat es gewusst, und diesen Fummel hat sie nur wegen ihm angezogen. Damit er ihre Brüste sehen kann. Ihre jungen festen Brüste, die nicht schlaff herunterhängen.
Vielleicht kennt er sie schon länger. Vielleicht haben die beiden ein Verhältnis miteinander. Sie wollen mich vor allen Leuten hier ins Lächerliche ziehen. Sie stecken alle unter einer Decke. Sie haben es auf mich abgesehen, weil ich nicht ganz dicht bin. Deshalb haben sie mich aus meinem Zimmer geholt. Sie wollen meinen Fall in aller Öffentlichkeit besprechen. Weil ich verrückt und hässlich bin … Eine Hexe mit schlaffen Brüsten …
»Was ist denn, mein Schatz?«
Sylvia schnellt aus ihren Gedanken und beginnt zu lächeln.
»Es ist nichts …« sagt sie. »Die vielen Leute … Das ist alles etwas ungewohnt für mich.«
Peter nimmt ihre Hand.
»Ist schon in Ordnung … Sag mir einfach, wenn‘s gar nicht mehr geht. Dann wird Dieter dich nach Hause bringen.«
»Es geht schon …« sagt sie und drückt seine Hand. Sie atmet ein paar Mal tief aus und ein. Ich muss mich beruhigen, denkt sie. Es wird schon alles gut gehen. Frau Dr. Schmidt hat gesagt, wenn ich meine Medikamente regelmäßig einnehme, kann gar nichts passieren. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich sie genommen habe …
Haben Sie Ihre Medikamente heute schon genommen?
Hat sie das? Sie kann sich beim besten Willen nicht erinnern. Sie kann sich an fast gar nichts erinnern, was heute war. Irgendwie erscheint ihr das auch gar nicht mehr wichtig. Es ist bedeutungslos. Es gibt nur noch den einen Gedanken, an den sie sich klammert, wie ein Bergsteiger sich an sein Seil …
Ich muss durchhalten … Ich muss mich beruhigen …
Auch sie hatte einmal eine weiße Bluse getragen, einen kurzen schwarzen Rock. Auch sie hatte einmal junge feste Brüste gehabt und die Gäste gefragt, was sie bestellen wollten. Damals im Octavio … als die Welt noch ihre Ordnung hatte.
Sie lehnt sich zurück und beruhigt sich langsam.
Ein Mann betritt das Podium und begrüßt die Ehrengäste. Er zählt Peters Erfolge auf und spricht ihm seine Bewunderung aus, dass er es trotz der vielen Schwierigkeiten geschafft hat, ganz nach oben zu kommen. Er ist voller Zuversicht auf die bevorstehende Wahl, aber dann beginnt er, Dinge zu erzählen, die keinen etwas angehen …
»Und vor allem, liebe Freunde, muss man Peter van Straaten zugutehalten, dass er es geschafft hat, trotz dieser verrückten Hexe in seinem Haus. Man muss sich vorstellen, liebe Parteigenossinnen und -genossen, dass die beiden in den letzten drei Jahren keinen Sex mehr miteinander hatten. Nicht, dass er es mit einer der schlimmsten Legislaturperioden zu tun hat. Nein, er musste es auch noch mit einer Frau aushalten, die komplett verrückt ist! Die nicht mal in der Lage ist, sich ordentlich vögeln zu lassen. Meine Damen und Herren, das nenne ich bewundernswert! Sehen Sie sich doch nur einmal dieses Miststück an!«
Sie drehen sich um. Alle drehen sich um. Der Mann oben auf dem Rednerpult beginnt laut zu lachen, und einige schließen sich ihm an. Andere schauen zu ihr herüber.
»Die kann man nicht mal alleine zu Hause lassen, ohne dass sie durchdreht. Sie frisst täglich Tabletten, die von uns Steuerzahlern finanziert werden … Und sie ist hässlich … So hässlich!!«
Sie zeigen mit den Fingern auf sie … Sie lachen … Sogar Peter lacht … Erst ganz leise, mit vorgehaltener Hand … Dann lauthals, sodass es jeder hören kann. Sein Gesicht verzerrt sich zu einer entsetzlichen Grimasse … Sie sieht den Teufel! Den leibhaftigen Teufel sieht sie vor sich sitzen und lachen. Er beugt sich zu ihr. Er kommt näher … Ganz nah … Und er spricht mit einer seltsam verzerrten Stimme, so als würde er rückwärts sprechen.
»Ich hätte dich zu Hause lassen sollen! Immer musst du mich blamieren, du hysterisches Stück Scheiße! Ich hätte dich in der Klapse lassen sollen. Hinter Schloss und Riegel. Aber ich werd’s dir schon noch heimzahlen … Ich mach‘ dich fertig!«
»Aber ich kann doch nichts dafür!« fleht sie. Die Angst steht ihr ins Gesicht gemeißelt.
»Was sagst du, Schatz?« sagt Peter und sieht sie entgeistert an.
»Was ist los, Sylvie. Geht‘s dir nicht gut?«
Sie sieht sich um. Niemand lacht. Niemand zeigt mit dem Finger auf sie.
»Tut mir leid, Peter … Ich weiß nicht, was los ist. Es sind so viele Menschen.«
»Ich werde Dieter Bescheid sagen …«
»NEIN!« fleht sie und nimmt seine Hand. »Bitte nicht … Ich will hier bleiben. Ich schaffe es, Peter. Ganz bestimmt. Ich muss mich nur ein wenig an die Leute gewöhnen.«
Peter lächelt und nickt. Er hält ihre Hand und streichelt zärtlich mit seinem Daumen über ihren Handrücken.
»Ist in Ordnung … Aber bitte sag mir, wenn es nicht mehr geht … Bitte.«
Sylvia lächelt und schwört insgeheim, dass sie sich nicht mehr von ihrer Phantasie reinlegen lassen wird. Sie wird sich jetzt zusammenreißen. Peter soll stolz auf sie sein können. Sylvia weiß ganz genau, dass sie ein Teil dieser Schwierigkeiten ist und dass sie froh und dankbar sein muss, dass sie heute Abend hier sitzen darf.
Sie hatte als Kind schon Stimmen gehört, aber die waren immer genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Erst seit den vielen langen Abenden allein zu Hause. Nachdem es nichts mehr zu putzen und zu waschen gab, nachdem im Fernsehen schwarze und weiße Punkte durcheinander rannten und sie nicht wusste, wie sie der Einsamkeit entrinnen sollte … Erst da waren die Stimmen wiedergekommen. Dann flüchtete sie in ihre eigene Welt. In ihre eigenen Phantasien, die niemand außer ihr verstand.
Sie war schwanger und Peter hoffte, dass das Kind ihrem Leben einen neuen Sinn geben würde, doch die kleine Helena verwandelte sich in Sylvias Bauch zu etwas Bösem. Etwas, das noch schlimmer war als die Einsamkeit. Doch sie wusste, dass sein Kind auch ihr Kind war, und dass sie es irgendwie schaffen musste, mit den bösen Gedanken zurechtzukommen.
Die Ärzte sagten, dass es zu gefährlich wäre. Dass die Vorstellungen, die Sylvia in ihrem Unterbewusstsein entwickelte und gegen die sie machtlos war, nicht nur für das Kind gefährlich waren, sondern auch für Sylvia selbst. Die Abtreibung war das Schlimmste, was sie durchmachte.
Es kommen weitere Redner, die Peter alles Gute wünschen und ihm ihr Vertrauen aussprechen. Schließlich bitten sie Peter auf das Podium. Er muss eine Rede halten.
Er bedankt sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen und verspricht, sich nach bestem Wissen und Gewissen für die Partei und ihre Ziele einzusetzen. Er spricht von Steuern, die gesenkt werden müssen, von Renten, die gesichert werden müssen und von einem wohlverdienten und vernünftigen Wohlstand, der allen Bürgern dieses Landes zusteht. Arbeit, die für alle da ist, und von Hilfe, die denen zukommt, die sie brauchen. Er endet damit, dass eine neue Zeit angebrochen ist, die für alle die lang versprochene Wende bringen wird.
Zeit hat für Sylvia keine Bedeutung. Sie ist ein Mensch, der immer in seinem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum gelebt hat. Ihre eigene Zeit, ihre eigene Welt, die niemand verstehen will … Und niemand verstehen kann.
Ihre Welt ist heilig, und jeder Versuch, diese Welt anzugreifen, versetzt Sylvia in Panik. Manchmal kann sie dann nur um sich schlagen und versuchen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass dieses sichere Gefüge außer Kontrolle gerät.
Ihre Welt hat sie sich sorgsam im Laufe der Jahre aufgebaut. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, weil niemand da war, mit dem sie sich etwas hätte aufbauen können. In all den Jahren voller Angst war es ihre einzige Möglichkeit, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sie mit ihren Gedanken existieren konnte.
Einen Raum, der ihr all die Sicherheit und Wärme gab, die sie so sehr vermisste. Doch war es ihr nie gelungen, das Böse aus ihrer Welt zu bannen. Manchmal kamen die Dämonen und schlichen sich wie dunkle Schatten in ihr Reich und versuchten, Sylvia zu beherrschen. Sie kämpfte und sie flüchtete, und manchmal verlor sie sich in ihrer Welt. Dann begann sie um Hilfe zu schreien … so laut und voller Verzweiflung, dass sie immer mehr Dämonen anlockte. So wie ein blutendes Stück Fleisch immer mehr Haie anlockt.
Die Dämonen kamen … in Gestalt ihrer Nachbarn, Sanitätern und Polizisten. In Gestalt von Ärzten und Freunden und Peter, der eine ganze Zeit lang ihr Anführer zu sein schien.
Man riss sie aus ihrer Welt, gab ihr Spritzen, die sie in einen lebenden Leichnam verwandelten. Man sperrte sie in ein Zimmer mit Gitterstäben vor einem Fenster, das man nicht öffnen konnte. Man fesselte sie an ein Bett, das weiß und kalt war.
Wieder kamen Ärzte, um ihrer Krankheit komplizierte Namen zu geben. Sie gaben vor, die Dämonen, die angeblich nur in Sylvias Kopf existierten, vertreiben zu wollen. Aber die Wahrheit war, dass sie glaubten, Sylvia sei der Dämon, den man an ein Bett fesseln musste.
Sie wusste, dass die Ärzte das glaubten, dass ihre Freunde und Verwandten dies glaubten und allen voran Peter, dem es peinlich war. So unendlich peinlich. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Er wurde mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Frau, die doch eigentlich nur ein stiller, ängstlicher Typ gewesen war, an einer Schizophrenie leiden sollte. Die plötzlich und unvermittelt ausbrach. Vermutlich aufgrund der Vereinsamung.
Für Sylvia war die Psychose die Flucht in eine Welt, in der sie keine Angst haben musste. Auch wenn sie sich an nichts erinnern konnte, von dem, was sie ihr im Krankenhaus darüber erzählten.
Sie versprachen ihr, sie loszubinden und sie nach Hause zu schicken, wenn sie bereit war, ihre Welt aufzugeben. Wenigstens so lange, bis Peter van Straaten seinen Wahlkampf erfolgreich abgeschlossen haben würde und als neuer Kanzler im Bundestag saß. Zu dieser Zeit sah sie ihn häufiger im Fernsehen als zu Hause. Sie hatten ihm geraten, sie wenigstens für die große Feier aus der Klinik zu holen. Es sah immer besser aus, wenn ein Mann des Volkes auch ein Mann der Familie war. Ein Mann, dem man vertrauen kann.
Sylvia lächelt und erinnert sich an die Fahrt nach Hause. Peter hatte sie persönlich abgeholt. Das war jetzt zwei Tage her. Ihr kommt es vor, als geschehe das alles jetzt in diesem Augenblick.
»Wie fühlst du dich?« fragt er und sieht sie mit einem …
peinlichen
… besorgten Blick an.
»Es geht mir gut!« sagt Sylvia und lächelt.
Peter sieht besorgt aus. Er nimmt ihre Hand und drückt sie. Sie hält sie fest umklammert, und für den Bruchteil eines Moments ist da ein Gefühl von Sicherheit. Doch so schnell sie dieses Gefühl überkommt, so schnell verfliegt es wieder. Ein Hauch von Angst steigt in ihr empor. Ist es ein Trick, fragt sie sich. Ein Trick, um sie aus der Welt zu locken, in die sie sich zurücksehnt. Sie glaubt zu begreifen. Er täuscht Liebe und Sorge vor und wartet nur darauf, dass sie sich auf ihn einlässt, damit sie seine Marionette wird und er wieder alles mit ihr machen kann. Er würde sie in Sicherheit wiegen, und wenn die Trennungen am schlimmsten sind, würde er sie verlassen! Mit all ihren Schmerzen, all ihrer Angst. Dann würde sie vor der verschlossenen Tür zu ihrer Welt stehen, mit beiden Fäusten dagegen trommeln und schreien und schreien und schreien … Bis die Dämonen kommen … die Nachbarn, die Sanitäter …
Sie stellt sich vor, was passieren würde. Sie haben ihr den Schlüssel bereits schon einmal weggenommen und ihr stattdessen Tabletten gegeben. Tabletten, die wie der Kuchen und der Saft von Alice waren, die sie größer und kleiner werden ließ, sodass der Eingang zum Wunderland unerreichbar geworden war.
Sie hatten ihr erzählt, dass sie wirres Zeug geredet hatte, dass sie splitternackt in der Ecke eines Zimmers gesessen habe und von den Dämonen erzählte, die als dunkle Schatten durch die Wohnung gehuscht waren. Von überall habe sie ihr Lachen gehört … Im Fernseher, im Radio, aus den Steckdosen und den Heizungsrohren.
Heute kommt ihr das alles wie ein böser Traum vor … Ihre eigene kleine Welt liegt weit entfernt auf einem fernen Planeten, der unerreichbar und unwichtig erscheint … Nur die Stimmen kommen wieder. Sie kann sie flüstern hören.
Sie hört jetzt Peters Stimme. Oben auf dem Podium … Durch die Lautsprecher … Er beginnt, gemeine Sachen zu sagen, aber sie weiß, dass sie es verdient hat, weil sie verrückt ist …
»Noch ein paar Worte zu der Frau, die ich vor vielen Jahren in meiner Wohnung aufgenommen habe. Sie lebt jetzt in einer Klapsmühle am Starnberger See und starrt den lieben langen Tag auf die Schiffe, die darauf herumfahren. Ich werde mich natürlich von ihr trennen, denn ein Mann in meiner Position kann sich einiges leisten, nur keine Ehefrau, die einen Dachschaden hat. Sobald sie wieder in ihrer Zelle ist, werde ich mich scheiden lassen und meine Verlobung mit Miss Piggy bekannt geben, diesem netten Sex-Häschen, das mit ihrem Knackarsch um Ihre Tische schwänzelt und Sie mit Champagner versorgt, meine Damen und Herren. Wir haben schon länger ein Verhältnis, und es wird Zeit, die Sache offiziell zu machen. Ich kann mir weitere Schlagzeilen in der Regenbogenpresse nicht leisten. Sie wird gesunde Kinder zur Welt bringen und sich nicht, wie der erste Mensch, anstellen, wenn ich mal ein Stündchen später nach Hause komme!«
Sylvia lächelt und schließt sich dem Beifall der Menge an, nachdem Peter mit seiner Rede geendet hat. Er streckt den Arm nach ihr aus und bittet sie hinauf auf das Podium. Sie steigt graziös die Stufen empor und hört Peters Stimme …
»Meine Frau wird mir auch in Zukunft zur Seite stehen …« sagt er, aber sie weiß, was er in Wirklichkeit sagt … »Verabschieden wir uns von der kleinen Psychopathin, bevor wir sie zurückschicken, wo sie hingehört. In eine Klapsmühle!«
Die Menge bricht in Beifallsstürme aus.
Sie stellt sich neben ihn und sieht die Fratzen in der Menge. Wie sie lachen … Wie sie sich über ihren Triumph freuen und mit den Fingern auf sie zeigen. Sie muss gehen, weil sie Peter ganz für sich allein haben wollen …
Sie tritt einen Schritt in den Hintergrund. Es ist sein großer Abend, und jetzt, da er die Arme zur Siegerpose hebt und sich von einer Welle von Ovationen umspülen lässt, ist es sein Vorrecht, im Rampenlicht zu stehen.
Sie geht noch einen Schritt zurück und ist plötzlich traurig, weil sie morgen wieder allein sein wird.
In ihrem Zimmer am Starnberger See.
Sie steht eine ganze Weile da und beobachtet ihn.
Sie spürt die aufkommende Eifersucht und Wut. Die Stimmen kommen wieder. Es sind die Stimmen der Dämonen.
Die Stimmen, die sie den ganzen Tag schon quälen. Die Stimmen, die ihr befahlen, den Revolver aus der Nachttischschublade zu nehmen.
Sie öffnet ihre Handtasche und zieht den Revolver heraus.
Es passiert zu schnell, als dass irgendjemand etwas tun könnte. Sie zielt auf Peters Kopf.
Er wird diese kleine Schlampe nicht heiraten. Er wird nie wieder Witze machen. Er wird nie wieder seinen Freunden zusehen, wie sie mit dem Finger auf sie zeigen. Auf die hässliche Verrückte … Niemals!
Ein Schuss zerreißt das Jubeln der Menge und verwandelt es in ein entsetzliches Konglomerat aus Schreien und Poltern. Die Menge stürzt in einem heillosen Durcheinander in sich zusammen.
Sylvia lässt die Waffe sinken, dann wird sie von drei Sicherheitsbeamten überwältigt. Man wirft sie zu Boden, dreht ihr die Arme auf den Rücken und setzt sich auf sie.
Es sind entsetzliche Schmerzen, die ihren Körper durchfahren. Der Lärm ist ohrenbetäubend, und sie kann die Zeitspanne nicht messen, die vergeht, bis sie sie hinausbringen und auf den Rücksitz eines Wagens werfen. Sie kann ihre Hände nicht bewegen, weil man ihr Handschellen angelegt hat.
Sie werden sie wieder in die Klinik bringen, wo man ihr wieder Medikamente geben wird, die sie wieder in einen lebenden Roboter verwandeln.
Sylvia lächelt.
Sie freut sich auf ihr Zimmer und die Schiffe auf dem Starnberger See. Frau Dr. Schmidt wird stolz sein, dass sie ihre Medikamente genommen hat. Dass sie alles richtig gemacht hat. Dass sie die Stimmen besiegt hat.
Sie wird nun für immer dort bleiben. Niemand wird mehr lachen.
Niemand wird nun kommen und sie holen.
Niemand wird Peters Frau …
Sylvia lächelt.


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