Almond senkte seine Lesebrille und musterte das Paar ihm gegenüber über den Rand der Gläser hinweg, bevor sein Blick wieder prüfend zu der kastanienbraunen Mappe in seiner Armbeuge wanderte.
»Und? Was meinen Sie?«, sagte er fast beiläufig.
Janet suchte erwartungsvoll den Blick ihres Mannes, während Steve mit den Fingerspitzen über die schneeweiße Tapete strich, als wolle er ihre Qualität prüfen.
»Was meinst du, Schatz?«
Er tat, als ob er überlegen müsste, obwohl er sich seiner Sache längst sicher war. Zu einfach wollte er es dem Makler auch nicht machen. Vier Monate waren sie nun schon von Wohnung zu Wohnung gerannt, hatten sich vom letzten Dreckloch bis hin zum nobelsten Penthouse alles angesehen. Steve hatte in dieser Zeit gelernt, wie man mit Maklern umging – diesen geldgierigen Halsabschneidern, die ihrer eigenen Mutter eine Wohnung andrehen würden, selbst wenn sie wüssten, dass es sich um ein besseres Grab handelte.
»Hm… gefällt mir schon. Wie hoch, sagten Sie, sind die monatlichen Belastungen?«
Der Makler reichte ihm ein Blatt Papier, das er griffbereit aus der Mappe gezogen hatte.
»Ich habe Ihnen hier eine komplette Aufstellung gemacht.«
Steve rieb sich das Kinn, während er so tat, als würde er das Papier studieren. In Wirklichkeit lauschte er jedoch der weiteren Unterhaltung, die Janet mit dem Makler führte.
»Und Sie sagen, die Wohnung müsste tatsächlich nie renoviert werden?«, fragte Janet.
»Mrs. Bernstein. Der Teppich ist aus nahezu unzerstörbarem Kunststoff. Ob Sie nun Rotwein oder Ölfarbe verschütten, ist relativ egal. Ein echter Barlington-Patent-Boden. Der Schaden kann jederzeit mit dem Pneumosauger, den Sie in der Abstellkammer finden, behoben werden. Die Tapete ist ebenfalls ein Patent der Barlington-Corporation. Durch ein neuartiges Verfahren ist es uns gelungen, eine Tapete zu entwickeln, die nie, absolut niemals, gestrichen werden muss. Den Vorgang im Einzelnen zu beschreiben, wäre wohl zu kompliziert. Auf jeden Fall reinigt sie sich sozusagen selbst und behält so ihre schöne, leuchtende Farbe.«
Janet staunte und auch Steve war beeindruckt, als er plötzlich den Kopf hob und fragend seine Frau ansah.
»Tja, also wenn meine Frau einverstanden ist…«
Sie erwiderte den Blick, lächelte, ergriff seinen Arm und schmiegte sich an ihn. »Also, ich finde sie großartig!«
Der Makler hatte seine Mappe geschlossen und drehte sich diskret zur Seite, als das Paar seine Entscheidung mit einem Kuss besiegelte.
»Ähm… wenn Sie dann soweit wären? Der Kaufvertrag liegt in meinem Büro zur Unterschrift bereit«, schlug er, in die Mappe starrend, vor.
»Ja, gehen wir.«, sagte Steve und dachte nicht mehr darüber nach, wie man sich am besten davor schützt, von einem Makler übers Ohr gehauen zu werden.
Als sich die Wohnungstür geschlossen hatte, war es still in den Räumen der Fünfzimmerwohnung. Lediglich eine Grille, die sich auf eines der Fensterbretter gesetzt hatte, untermalte zirpend die abendliche Stille.
*
Die Bernsteins waren eine Durchschnittsfamilie, wie viele tausend andere. Sohn Will und Töchterchen Jackie waren der Mittelpunkt im Leben von Steve und Janet. Der Traum einer gesicherten Zukunft sollte mit dem Kauf einer Eigentumswohnung in Erfüllung gehen.
Steve arbeitete als Abteilungsleiter in einem Versandhaus, während Janet sich um den Haushalt kümmerte und so den Hauptteil der Kindererziehung übernahm.
Vormittags waren die Kinder in der Schule, sodass Janet ab und an Zeit für sich hatte, die sie meistens in ein gutes Buch investierte. Auch hatte sie sich durch autogenes Training von einer inneren Unruhe befreit und eine eigene Methode der Meditation entwickelt, um den Stress des Alltags Herr zu werden, während Steve ganz versessen darauf war, Modellbausätze, in erster Linie handelte es sich um Schiffe aller Arten, in akribischer Kleinstarbeit zusammenzubauen und zu bemalen. Die meisten landeten jedoch ein paar Wochen nach ihrer Fertigstellung auf dem Speicher, weil der Platz für neue benötigt wurde.
Die folgenden Wochen verrannen wie im Fluge. Der Umzug, das Einrichten der Wohnung, die obligatorische Eingewöhnungszeit. All das hielt die Familie auf Trab, bis sich eine beruhigende Gewohnheit über den Alltag der Bernsteins gelegt hatte.
Eines Sonntagmorgens, als die ersten Sonnenstrahlen sich aufmachten, den bevorstehenden Tag anzukündigen, schien alles friedlich und ruhig. Der Lichtstrahl, welcher sich langsam über die Falten der Bettdecke tastete, bewegte sich geradewegs auf Janets Hand zu, die geschlossen auf dem Laken ruhte. Als er sie erreicht hatte und das Licht zwischen ihre Finger fiel, schien es, als ob sie sich langsam zu öffnen begannen, wie eine Knospe, die bereit ist, die wärmenden Strahlen in sich aufzunehmen. Es schien auch, als ob Janet im Schlaf versuchte, nach dem Licht zu greifen, es zu fühlen, es zu erfassen. Sekunden später zerriss ein Schrei die morgendliche Stille.
»Was… ist?«, fuhr Steve erschrocken aus dem Schlaf. Janet hatte sich aufgesetzt und zitterte am ganzen Leib.
»Janet, was ist denn?«
»Weiß nicht… hab geträumt…«
Steve grinste. »Ob das wohl die Nachwirkungen der letzten Nacht sind?«
»Ferkel!«, sagte sie und gab ihm einen Rippenstoß, den Steve erwiderte, indem er sie in die Hüfte zwickte.
»Lass mich einen Moment.«, bat sie.
Steve nahm darauf jedoch keine Rücksicht und traktierte sie weiter. Während sie herumalberten, merkten sie nicht, wie die Türklinke sich langsam senkte und das Töchterchen, wie auf Katzenpfoten, den Raum betrat. Durch sein leises Schluchzen wurden sie jedoch auf das Kind aufmerksam.
»Jackie! Was ist denn, mein Schatz?«
Janet sprang aus dem Bett.
»In meinem Zimmer ist ein dicker schwarzer Käfer.«
Janet drehte sich zu Steve: »Machst du das, ja?«
Steve sprang aus dem Bett, wohlwissend, dass Janets Angst vor Insekten ebenso groß war wie die seiner Tochter.
»Na los, Mädchen. Zeig mir, wo das Monster ist.«
Er nahm Jackie auf den Arm, während Janet sich wieder in das noch warme Bett zurückzog und für einen Moment die Augen schloss. Krampfhaft versuchte sie, sich an den Traum zu erinnern, doch kaum hatte sie die Spur eines Bildes vor Augen, verschwand es wieder und machte einer flackernden Schwärze Platz. Steve kam zurück.
»Es scheint, als wärst du nicht die einzige, die heut Nacht schlecht geträumt hat«, sagte er und kauerte sich neben Janet.
»Kein Käfer?«, fragte sie.
»Kein Käfer!«, bestätigte er.
»Na ja. Kleine Kinder sehen eben manchmal Sachen, die gar nicht da sind«, erklärte sie.
»Große Kinder auch, mein Schatz…«
Die Tür sprang auf und Jackie stürmte mit einem aufgeschlagenen Buch ins Schlafzimmer.
»Schau Daddy, so einer war‘s!« Sie hielt ihm das Buch hin. Steve nahm es und schaute auf den Titel.
»Die Welt der Insekten? Wo hast du denn das her?«
»Willi hat es aus der Schule mitgebracht!«
»So, so? Dein Monster gehörte also zu einer Borkenkäferart, die im südamerikanischen Dschungel beheimatet ist.«
Jackie schaute ihn mit großen Augen an.
»Dann, mein Schatz, weiß ich sicher, dass es ein Traum war, denn solche Käfer gibt‘s hier nicht. Und noch was… Wenn du Angst vor irgendwas hast, dann lies abends keine Bücher darüber!«
Der Tag sollte dem Müßiggang gehören. Ein gemütliches Frühstück, ein Spaziergang im Park, eine Erfrischung in der Eisdiele. Die Familie hatte Spaß. Mit einem vorsichtigen, von Besorgnis begleiteten Schmunzeln beobachteten Steve und Janet ihre Kinder, die mit waghalsiger Akrobatik das Klettergerüst eines Spielplatzes erklommen, wie es nur Kinder tun, ohne Angst herunterzufallen.
*
Abends fielen die Kinder, müde vom Tag, ins Bett und schliefen, während Steve sich und seiner Frau einen Gute-Nacht-Drink mixte. Bei leiser Musik kuschelten sie sich auf das Ledersofa. Steve hatte seinen Arm um Janet gelegt, als diese sich plötzlich erhob.
»Was machst du?«, fragte er.
»Der Philodendron hat Durst!«
»Wie bitte?«
Sie verschwand in der Küche. Steve runzelte die Stirn. Janet war schon immer pflanzennärrisch gewesen, aber in letzter Zeit schien ihre Fürsorge für die grünen Mitbewohner geradezu zwanghaft. Er versuchte anhand der Geräusche zu erraten, was dort vor sich ging. Außer einem nicht zu identifizierbaren Geklapper hörte er das Prasseln des laufenden Wasserhahns. Als Janet wieder das Wohnzimmer betrat, hielt sie die gefüllte Gießkanne in der Hand. Steve nippte an seinem Drink und beobachtete sie verstohlen über den Rand des Glases hinweg. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, aber er konnte nicht genau sagen, was es war.
»Hast du die Pflanzen heute Morgen nicht schon gegossen?«
Janet ließ sich nicht ablenken. Trotzdem antwortete sie mit einem uninteressierten »Ja.«
»Warum gießt du dann den Philo jetzt?«
Sie wandte sich ihm zu, nachdem sie die Kanne geleert hatte, und schaute ihn fragend an, während sie langsam in Gedanken abzudriften schien. Steve fiel auf, wie abwesend ihr Blick wirkte, als stünde sie unter Hypnose.
»Ich weiß nicht… ich… ich glaube, ich hab‘ den Philo heut Morgen vergessen.«
Sie tastete die Erde, welche sich am Rande des Tontopfes befand und nichts von dem Guss abbekommen hatte, mit dem Rücken ihres Zeigefingers ab.
»Ja… vergessen! Die Erde war ganz trocken.«
Dann versuchte sie dem Behälter noch ein paar Tropfen zu entlocken und sie auf den noch trockenen Rand zu leiten.
»Er ist schön, findest du nicht?«, fragte sie.
Steve stellte das Glas ab.
»Wer? Der Philodendron?«
»Ja, natürlich der Philodendron.«
»Hm, ja. Sehr schön«, wunderte er sich und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Janet war wieder in der Küche verschwunden. Aber nur kurz, um sich danach mit einer Zeitschrift neben Steve zu setzen. Lustlos blätterte sie in der Illustrierten. Die Chance, einen interessanten Artikel aufzustoßen, schien gering, und so ließ sie das Blatt irgendwann neben sich auf das Sofa sinken.
»Ich sollte wieder einmal meditieren.«
»Wenn du meinst, dass es dir Spaß macht. Ich hab‘ bei Barrets neulich einen neuen Bausatz gesehen. Die Titanic… im Maßstab 1 zu… Lach nicht über mich!«
»Männer werden nie erwachsen!«
»Das ist auch nichts anderes als dein Aerobic und dein komisches In dich gehen…«
»Ich weiß nicht. Diese Träume in letzter Zeit. Und jetzt diese merkwürdige Eingebung mit dem Philodendron… Ich fühle mich auch in letzter Zeit nicht besonders.«
Erneut legte Steve seinen Arm um sie.
»Du bist ein wenig überarbeitet. Der Umzug… Alles ist neu…«, sagte er mit einem Schmunzeln, wie er es immer aufsetzte, wenn er Janet aufziehen wollte.
»Das wird es wohl sein“, entgegnete sie ihm und verzog dabei ihr Gesicht, um ihm zu zeigen, dass sie die Ironie seiner Worte bemerkt hatte. Er ließ ihr keine Zeit, die Grimasse zu lösen, und drückte seine Lippen auf die ihren, worauf sie ihn mit zusammengekniffenen Augen und gepressten Lippen abzuwehren versuchte.
»Du Idiot!“, schimpfte sie, als er sie aus der Umarmung freigab.
»Ich finde es überaus reizvoll, wenn du ausfallend wirst, mein Schatz.«
Sie grinste nur, und kurze Zeit später löschten sie das Licht im Zimmer, ohne die Absicht, sich schlafen zu legen.
*
Am nächsten Tag, Steve und die Kinder hatten das Heim bereits verlassen, verdunkelte Janet den Raum und hockte sich im Schneidersitz in die Mitte des Wohnzimmers. Ihre Hände lagen, wie zwei Schalen geformt, auf ihren Knien und nachdem sie ihre Augen geschlossen hatte, versank sie in einen Zustand tiefer Lethargie. Jeder Muskel in ihrem Leib lockerte sich, wurde schlaff und schwer. Und je tiefer sie sank, desto höher wurde ihre Sensibilität für das Innerste ihres Wesens. Die Geräusche, welche vor kurzem noch von der Straße an ihr Ohr gedrungen waren, hatten sich in ein kaum hörbares Rauschen verwandelt. In diesem Zustand verharrte sie einige Minuten, als sie plötzlich ein leises Flüstern wahrzunehmen schien, welches jedoch sofort wieder verschwand, da sie aus ihrer Konzentration aufschreckte.
Sie hatte die Augen geöffnet und schaute sich im Raum um. Dann schüttelte sie verärgert den Kopf und versuchte erneut, sich in diesen Zustand gleiten zu lassen. Und wieder, als die Spannung aus ihren Gliedern gewichen und alles um sie herum nicht mehr zu existieren schien, war es, als sei da ein merkwürdiges Geflüster, welches sie nicht zu definieren vermochte. Diesmal erschrak sie jedoch nicht. Eher war es neugierige Spannung, die sie fühlte und welche sie versuchte, in Ruhe zu verwandeln. Und je mehr ihr dies gelang, desto deutlicher wurde das Geflüster. Desto mehr schien es, als ob sie dem störenden Wirrwarr von Tönen Worte entnehmen konnte.
»Hilf mir…« glaubte sie erkannt zu haben. Es war schwierig, denn sie konnte es nicht mit den Ohren hören. Vielmehr schien es, als ob die Stimme in ihr sei. Aus ihren tiefsten Tiefen sprach.
»Hilf mir!«
Jetzt hatte sie es laut und deutlich gehört und mit einem starken Herzklopfen öffnete sie die Augen. Hastig stand sie auf und ließ Licht in den Raum. Immer wieder schaute sie sich um, als ob sie prüfen wolle, dass sich auch niemand mit ihr im Zimmer befand. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was ihr widerfahren war. Angst davor, verrückt zu werden. Doch irgendwann schaffte sie es, das Erlebte zu verdrängen. Sie beschloss, dass Hausarbeit eine ebenso gute Therapie sein konnte, und machte sich an die Arbeit.
*
Tags darauf verdunkelte sie erneut das Zimmer. Steve gegenüber hatte sie ihr gestriges Erlebnis nicht erwähnt, schon allein deshalb, weil sie Angst davor hatte, dass Steve hinter einem möglichen Überarbeitetsein eine schwerere Belastung vermuten könnte. Als ein, was die Gesundheit seiner Familie betraf, sehr vorsichtiger Mensch, würde er sie sicher bei der Hand nehmen und den nächstbesten Nervenarzt aufsuchen.
Minuten später befand sie sich wieder in dem Dämmerzustand, in dem sie tiefer und tiefer hinabsank. Bis plötzlich ein Flüstern, von einem leisen Echo begleitet, in ihr emporstieg. Diesmal versuchte sie, so gut es ging, ruhig zu bleiben. Sie wusste, dass sich außer ihr niemand sonst im Raum befand. Und so lauschte sie aufmerksam, und langsam begann das seltsame Geflüster lauter zu werden.
»Hilf mir!«, glaubte sie erneut erkannt zu haben und nach einiger Zeit wieder: »Hilf mir!«
Sie sammelte all ihren Mut, all ihre Konzentration und formte ihre Gedanken zu einer Frage:
»Wer bist du?«
»Ich bin dein Freund«, vernahm sie nun ganz deutlich.
»Wo bist du?«
»Ich bin immer bei dir. Ich bin dein Freund. Freunden muss man helfen. Hilf’ mir!«
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte sie in Gedanken weiter.
»Bring mich zurück!«
»Wohin zurück?«
»Zurück! Dorthin, wo es warm ist …«
»Ich verstehe dich nicht. Wo ist es warm?«
»Zuhause ist es warm. Bring mich nach Hause!«
»Ich kann dich nicht zurückbringen, wenn ich nicht weiß, wo dein Zuhause ist.«
»Dort, wo es warm ist. Dort ist mein Zuhause. Hilf mir!«, klagte die Stimme fortwährend in ihr.
»So sag mir doch, wer du bist!«
»Dein Freund …«
»Sag mir deinen Namen!«
»Freunden muss man helfen …«
»Hörst du nicht?«, fragte sie, und ihr Denken wurde energischer, verkrampfter und auf ihrer von Falten zerfurchten Stirn begannen sich die ersten Schweißperlen zu bilden.
»Hilf mir …«, hörte sie noch, aber da begann aus der Stimme wieder ein Flüstern zu werden, welches sich langsam von ihr entfernte.
Verzweifelt versuchte Janet wieder, sich auf die Stimme zu konzentrieren, was zur Folge hatte, dass sie aus der Trance erwachte. Verwirrt sah sie sich im Zimmer um. Wie zu vermuten gewesen wäre, befand sie sich immer noch allein im Raum. Nach einem kurzen Moment des Sinnierens beschloss sie, bei der Annahme zu bleiben, dass das Erlebte eine reine Halluzination gewesen war, wie es in der Literatur häufiger beschrieben wurde. Vermutlich hatten zwei Teile ihrer eigenen Persönlichkeit miteinander kommuniziert und so versuchte sie, das Vorgefallene zu vergessen, auch wenn … oder vielleicht gerade, weil sie wusste, dass es sich bei solchen Phänomenen um eine beginnende Schizophrenie handeln konnte.
Das Erlebte zu verdrängen gelang ihr jedoch nur bedingt. Die darauffolgenden Tage wurde sie immer wieder von Erinnerungen an die Trance überfallen. Steve bemerkte währenddessen, dass eine Veränderung in Janets Wesen vorging. Sie hatte eine plötzliche Vorliebe, (man hätte es auch Besessenheit nennen können), für Topfpflanzen gefunden, welchen sie mehr Aufmerksamkeit zu schenken schien als ihm oder den Kindern.
Abends pflegte sie jetzt Kräuter-Fußbäder zu nehmen, was bis dato auch nicht der Fall gewesen war. Steve hatte sie mit Hemden und Bermudashorts eingedeckt, die mit Blumenmustern bedruckt waren. Einmal hatte er ihr einen Strauß Schnittblumen mitgebracht, welchen sie, unter Tränen, in den Mülleimer warf, unter der Begründung, er habe ermordete Pflanzen gekauft. Steve sah sich nicht in der Lage, sie zur Rede zu stellen. Eines Morgens jedoch geschah etwas, das Steve veranlasste, sein Schweigen zu brechen. Es begann ganz harmlos, als …
»Ich hab‘ heut Nacht von Kolibris geträumt!«, rief Janet, die den Frühstückstisch deckte, während Steve sich im Badezimmer rasierte.
»Autsch! Mist, verdammter.« Der weiße Schaum in Steves Gesicht begann sich rot zu färben. »Was hast du gesagt?«
»Ich sagte, ich hab‘ heute Nacht von Kolibris geträumt!«
»Na wunderbar«, zischte Steve mit der ihm eigenen Ironie. Als er das Wohnzimmer betrat, saßen Janet und die Kinder bereits am Tisch. Jackie empfing ihren Vater sofort.
»Vati, heut Nacht war der schwarze Käfer wieder da!« Steve reagierte verärgert. »Sind wir einem Indianerstamm beigetreten, oder warum erzählt mir jeder seine Träume?«
»Senoi, Steve«
»Was?«
»Die Senoi, ein Eingeborenenstamm von … was weiß ich woher. Die besprechen morgens ihre Träume.«
»Schon gut, Janet …«
»Will, hol den Toast.«, schickte Janet ihren Sohn. Er kam, mit einem Brotkorb in der Hand, zurück und suchte einen Platz auf dem Esstisch. Er beschloss, den kleinen Blumentopf, welcher die Mitte des Tisches zierte, beiseite zu räumen, um so den nötigen Platz zu schaffen, worauf Janet heftig reagierte.
»Nein. Der Topf bleibt da, wo er ist!«
»Du siehst doch, dass kein Platz mehr auf dem Tisch ist«, sagte Steve.
»Ich sagte, der Topf bleibt da, wo er ist!« Sie schlug heftig mit der Hand auf die Tischkante.
»Jetzt hab‘ ich aber genug!«, erhob Steve energisch seine Stimme. »Du machst ein Theater um das Grünzeug, als wären es deine Verwandten.«
»Das ist doch wohl meine Sache, oder?«
»Nicht ganz, mein Schatz. Nicht ganz!« Und mit diesen Worten warf er die zerknüllte Serviette auf den Tisch, stand auf und klemmte sich seine Aktentasche unter die linke Armbeuge. »Heute Abend werden wir die Sache ausdiskutieren.«, worauf er türknallend die Wohnung verließ. Janet, den Blick auf die Tür richtend, wurde von ihren Kindern schweigend angestarrt.
»Und ihr werdet jetzt aufessen, damit ihr nicht zu spät zur Schule kommt.«, befahl sie, stand auf und verschwand im Schlafzimmer.
*
Als sie einige Zeit später wieder allein war, verdunkelte sie abermals das Wohnzimmer, um sich ihrer Meditation zu widmen. Ihr selbst war natürlich nicht entgangen, dass sie sich verändert hatte und mit jeder Stunde weiter veränderte. Dass ihre Neigungen in letzter Zeit ein Ausmaß erreicht hatten, welches der Familie keinesfalls zugute kam. Sie wusste nur nicht, was sie dagegen machen sollte. Denn scheinbar gab es kein Mittel dagegen. Sie sah Pflanzen und fühlte Zuneigung. Und so verrückt es sich anhörte, in den Philodendron hatte sie sich sogar ein wenig verliebt. Es war diese Stimme in ihr, an die sie immer wieder denken musste. Sie schien der Schlüssel zu dem Geheimnis zu sein. Sie fürchtete sich davor, sich ihrem Innersten zu stellen und dennoch war das Verantwortungsgefühl für ihre Familie noch nicht ganz verschwunden. Ein kleiner Teil … ein ganz kleiner Teil war noch da, und sie wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, sich ihrem Innersten zu stellen.
Wenig später war es soweit. Sie bewegte sich in tieferen Bewusstseinsschichten und verlor mehr und mehr ihre Sinneswahrnehmung für das, was sie umgab. Plötzlich tauchte das Flüstern wieder in ihr auf, welches sich bald zu einer drängenden Stimme formte und aus ihren tiefsten Tiefen zu kommen schien.
»Bring mich zurück … Hilf mir!«
Und wieder begann ein Dialog in Janets Innerem, bei dem sie selbst die Rolle des Fragenden übernahm.
»Wer bist du?«
»Ich bin dein Freund.«
»Ich möchte dir gerne helfen, aber ich muss wissen, wer du bist und woher du kommst.«
»Ich komme von weit her, wo es warm ist …«
»Kannst du den Namen des Ortes sagen?«
»Was ist ein Name? Ich komme von dort, wo es warm ist …«
»Bist du immer da?«
»Ich bin dein Freund … Ich bin immer da. Aber ich will weg. Nach Hause … Es ist so kalt hier …«
»Wie kann ich dir helfen?«
»Bring mich zurück! Mir ist so kalt …«
»Kannst du mir nicht einen Anhaltspunkt geben? Sag mir, wo du im Moment bist!«
»Fühle mein Herz!«
»Was?«
»Fühle mein Herz!«
In diesem Moment erwachte sie mit einem leichten Nachhall des Echos in ihrem Innersten. Verwirrt blickte sie auf ihre Hand, die sie, ohne es zu merken, auf die schneeweiße Fläche der Tapete gelegt hatte und mit der sie ein leichtes, kontinuierliches Pulsieren wahrnahm. Sie wollte schreien, als sich aus der Wand Hände formten und ihre Hand umschlossen. Bei dem Versuch, sie wegzuziehen, packten die schneeweißen Pranken ihre Hand und zogen sie in das Innerste der Wand.
»Nein … nein …«
Sie trat mit dem Fuß gegen die Wand, der darin versank, als sei sie in ein Schlammloch getreten. Dann sah sie das Gesicht … diese grauenvollen Fratze, die sich aus der Wand schob, wie durch eine Gummiplane. Ein riesiges Maul öffnete sich und begann Blätter zu spucken, die an Janet kleben blieben und ein groteskes Eigenleben entwickelten, als sie sich wie Blutegel an ihr festsaugten … In ihrer Panik begann sie wild zu strampeln und um sich zu schlagen.
Plötzlich realisierte sie, dass die Blätter und die Hände verschwunden waren. Nur die schemenhaften Konturen eines Gesichtes sah sie in der Maserung der Tapete langsam verblassen. Sie starrte auf die Wand, und noch bevor sie schreien konnte, verdrehten sich ihre Augen, als sie ohnmächtig auf die Seite kippte.
Steve betrat sichtlich erschöpft die Wohnung. Janet schien auf ihn gewartet zu haben. Sie kam ihm entgegen und zog ihn ins Schlafzimmer, obwohl er sich heftig zu sträuben begann.
»Was ist denn nun schon wieder los?«
»Irgendwas ist hier!«, sagte sie und wirkte dabei mehr als verstört.
»Was soll denn das jetzt. Was heißt das, irgendwas?«
»Ich weiß es doch auch nicht. In der Wand ist irgendwas. Etwas Lebendiges. Etwas … ganz Böses! Es behauptet, es wäre mein Freund. Als ich heute wieder meditierte…«, und sie begann ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Als sie geendet hatte, reagierte Steve heftig und ablehnend.
»Janet, ich glaube, wir sollten es wirklich in Erwägung ziehen, Dr. Jenkins anzurufen. Dein seelischer Zustand…«
»Steve, glaub mir! Ich habe diese Stimme gehört! Und das Gesicht war wirklich da!«
»Ich glaube dir ja …, aber gerade das ist es, was mir große Sorgen macht.«
»Vergiss es, o.k.?« Sie schleuderte ihm die Worte ins Gesicht, erhob sich und schlug die Tür hinter sich zu.
*
Die nächste Zeit redeten beide wenig miteinander. Steve hatte darauf verzichtet, den Psychiater Dr. Jenkins anzurufen, und sich stattdessen immer mehr in den Keller zu seinen Modellbausätzen zurückgezogen. Janet und Steve hatten sich in einem Maße voneinander entfernt, das auch die Kinder von Spannungen nicht verschont blieben. Immer öfter suchte Janet nun die abgeschiedene Stille in sich und unterhielt sich mit der geheimnisvollen Stimme, die sie immer wieder um Hilfe bat. Die fürchterliche Fratze aus der Wand war seither nicht mehr aufgetaucht. Janet wusste nicht, ob sie darüber glücklich sein sollte, denn sie wusste, dass irgendwo hinter der Wand des Zimmers ein Geheimnis, vielleicht ein sehr schlimmes Geheimnis, verborgen lag. Doch so oft sie auch den Kontakt aufnahm, es war, als könne sie gar nicht anders, sooft erwachte sie mehr oder weniger enttäuscht und kraftlos aus der Trance. Die Stimme behielt ihr Geheimnis für sich, bis zu jenem Tag, als es an der Tür klingelte und ein Mann in Arbeitskleidung um Einlass bat.
Steve öffnete die Tür und schaute den Besucher verwundert an, der sich sofort auswies …
»Mein Name ist Dotch. Ich komme von der Barlington Zellstoff-Zentrale und möchte die jährliche Zellstoff-Dialyse vornehmen.«
Steve konnte damit nichts anfangen. Janet war aus der Küche gekommen, um zu schauen, was vor sich ging.
»Was wollen Sie?« fragte Steve.
»Hat Ihnen Mr. Almond nichts gesagt? Einmal im Jahr muss die Zell-Flüssigkeit Ihrer Tapete gereinigt werden.«
Er hielt einen kleinen Kasten hoch und erklärte weiter: »Dazu muss dieser Apparat zwei Stunden lang an den Zirkulationsgenerator angeschlossen werden. Das ist alles. Sie werden davon kaum etwas mitbekommen, da es völlig geräuschlos abläuft.«
Steve, immer noch skeptisch, ließ den Mann herein. Jedoch nicht, ohne ihn weiter mit bohrenden Fragen zu traktieren.
»Um ehrlich zu sein, weiß ich immer noch nicht so recht, um was es eigentlich geht. Sie sagen, die Tapete unserer Wohnung sei aus Zellstoff?«
»Ja, genau …«, erklärte der Mann. »Aus dem Zellstoff einer Pflanzenart, die im südamerikanischen Dschungel beheimatet und auch dort nur selten anzutreffen ist. Darum brauchen Sie ja auch niemals Ihre Wohnung zu renovieren. Sie erneuert selbständig ihre Zellen und behält dadurch auch ihre schöne weiße Farbe. Das einzige, was der Anwender des Barlington-Patentes in Kauf nehmen muss, ist die jährliche Zell-Dialyse, bei der, wie ich schon sagte, die Zell-Flüssigkeit gereinigt wird.«
Janet trat aufgeregt heran.
»Wollen Sie damit sagen, dass diese Tapete nichts anderes ist, als eine Pflanze?«
»Ja, im Prinzip schon.«, sagte er lächelnd. »Im Grunde genommen könnte man sagen, sie lebt!« Er zögerte einen Moment … »Sie hatten doch nicht etwa … Schwierigkeiten?«
»Schwierigkeiten?!?«, fragte Steve. »Wie meinen Sie das?«
»Oh … nichts weiter. Ich frage nur, weil … Ihre Vorgänger standen der ganzen Sache im Nachhinein eher skeptisch gegenüber.«
»So … dann hatten sie also schon einmal Ärger mit dieser Tapete?«
»Nun … Ärger wäre übertrieben. Die Tochter der Simpsons war wohl etwas sensibel. Die Vorstellung, von etwas Lebendigem umgeben zu sein, brachte sie fast um den Verstand. Wissen Sie, Mr. Bernstein, es ist faszinierend. Die Wissenschaftler haben diese Pflanze anfangs für medizinische Zwecke erforscht, aber ihre Fähigkeit zur Zellregeneration erwies sich als revolutionär für Baumaterialien. Ja, diese Pflanze, genannt Clivia Regenerativa, wurde sogar bereits von einheimischen Stämmen in Südamerika verehrt und als ‚lebendiges Wesen‘ betrachtet. Sie soll in der Lage sein, sich mit ihrer Umgebung zu verbinden und soll magische Kräfte haben. Aber das ist natürlich Unsinn.«
Janet ging langsam zur Wand und legte ihre Hand auf die Tapete.
»Fühle mein Herz …«, stieg ein Gedanke in ihr auf, so laut, dass sie ihn beinahe hätte hören können. Dann blickte sie in das Gesicht in der Wand, das sie so traurig ansah.
Plötzlich überkam sie eine Welle von Eindrücken. Vor ihrem inneren Auge erschien ein dichter, überwucherter Regenwald. Sie hörte das durchdringende Kreischen exotischer Vögel und das monotone Summen unsichtbarer Insekten. Die Luft schien feucht und schwer, und ein modriger Geruch nach feuchtem Holz und Verfall stieg ihr in die Nase. Alles wirkte lebendig, pulsierend, unheimlich.
Janet schnappte nach Luft und stolperte einen Schritt zurück. »Steve!«, rief sie, ihre Stimme brach fast. Der Gedanke »Hilf mir …« hallte wieder in ihrem Geist wider, diesmal eindringlicher und dringlicher, als würde er direkt aus der Wand kommen. Und dann sah sie eine Hand im Muster der Tapete. Die Hand in der Tapete bewegte sich … oder hatte sie sich das eingebildet?«
Steve eilte zu ihr und jetzt starrten sie beide wie gebannt auf das Muster in der Tapete in dem die schemenhafte Gestalt eines seltsamen Wesens sich deutlich abzuheben begann.
»Glaubst du mir jetzt???« fragte Janet, ohne ihren Blick von der Wand zu nehmen.
»Entschuldigung …«, sagte Dotch, der Monteur, und dachte, dass die beiden wohl im Begriff waren, ihren Verstand zu verlieren, denn sie starrten auf eine leere Stelle in der Wand.
Steve wandte sich augenblicklich ab und stürzte die Treppe hinauf. Janet ahnte, was er vorhatte, und versuchte, ihn aufzuhalten.
»Steve, nein!«, schrie sie in panischer Angst, während sie ihm nachrannte.
Er hatte bereits die Tür zur Kammer aufgerissen, sich den erstbesten Gegenstand gegriffen und schlug auf den Generator ein. Im selben Moment, als habe man ihr einen kräftigen Hieb verpasst, brach Janet zusammen. Dotch eilte zu ihr, ohne auch nur eine Spur von dem zu begreifen, was vor sich ging. Mit jedem Schlag, den Steve dem Generator versetzte, schienen Janets Kräfte zu schwinden.
Dem ahnungslosen Monteur, der neben ihr kniete, war, als höre er sie ein leises »Hilf mir …« flüstern. Ängstlich stellte er fest, wie es ihr immer schlechter ging, und rannte zu Steve, der es bereits geschafft hatte, den Generator aus seiner Verankerung zu reißen.
»Was tun Sie da, verdammt noch mal. Ihre Frau braucht Hilfe!« Steve ließ das Aggregat fallen und holperte die Treppe hinunter zu Janet.
»Was ist mit dir?« Er legte sein Ohr an ihren Mund und hörte ebenfalls ihr leises Flüstern. »Hilf mir …«
»Ich bringe dich sofort hier raus!« Er packte den ausgelaugten zierlichen Körper und stürzte in Richtung Tür.
»Ich bringe Sie in ein Krankenhaus.«, rief er dem Monteur zu. »Und Almond können Sie bestellen, dass wir binnen einer Woche ausziehen!«
Ein großer Strauß Frühlingsblumen fehlte auf dem Nachttisch des Krankenbettes von Janet. Doch ließ Steve es sich nicht nehmen, sie mit Zeitschriften, Süßigkeiten und anderweitigem Zeitvertreib zu versorgen, während sie sich erholte. Almond hatte den Kaufvertrag anstandslos annulliert, nachdem ihm Steve damit gedroht hatte, die Sache an die große Glocke zu hängen. Sie waren nicht die ersten, die diese Wohnung Hals über Kopf geräumt und sich übergangsweise in einem Motel eingemietet hatten. Vermutlich würden sie auch nicht die letzten sein, denn so wie er diesen Mistkerl von Makler einschätzte, hatte dieser noch am selben Abend eine neue Anzeige in die Zeitung gesetzt. Steve hatte es sogar geschafft, eine kleine Abfindung herauszuschlagen. Jeden Tag saß er an Janets Bett. Die Kinder jeden zweiten. Und jedes Mal sprachen sie über dasselbe …
»Ich konnte ihre Gedanken lesen, Steve.«
»Ich weiß, mein Schatz. Wir können von Glück sagen, dass die Kinder nur leicht beeinflusst wurden und ich so gut wie gar nicht … Du hast sie in deiner Meditation erreicht.«
»Ich konnte fühlen, wie sie die Kraft verließ, als du den Generator zerstört hast.«
»Ich weiß es. Es tut mir leid, dass ich dich nicht ernst genommen habe.«
»Ich bin so froh, dass es vorbei ist.«
»Ich auch …«
»Sie war ein Lebewesen und sie wollte nur nach Hause …!«
»Ich weiß, Liebling …«
