Todeslotterie
Die Show begann wie jeden Abend um Punkt 20:15 Uhr mit dem vertrauten, synthetischen Jingle, der sich in das kollektive Bewusstsein einer ganzen Nation gebrannt hatte.
»Guten Abend und herzlich willkommen zur 26.437. Ziehung der Todeslotterie!«
Die Stimme der Moderatorin, Kiki DuChelle, säuselte aus den Lautsprechern, so süß und klebrig wie Zuckerwatte. Ihr Lächeln war eine technische Meisterleistung, so breit und unbeweglich, dass man die porenlos weißen Backenzähne zählen konnte.
»Auch heute Abend könnte wieder IHR großer Tag sein! Der Tag, an dem Sie das Ticket lösen… ins Paradies!«
In jedem Haushalt, in jeder überfüllten Bar, auf jedem flimmernden Bildschirm an den Häuserfassaden leuchteten die heiligen Nummern auf.
Marie Richter, Inhaberin der persönlichen Gewinnzahl 8.473.291.045, saß mit ihrer Familie beim Abendessen. Es gab Nudeln mit Tomatensoße. Ein ganz normaler Dienstag. Ihr Mann Thomas hielt ihre Hand unter dem Tisch, seine Finger waren feucht vor Aufregung. Die Kinder – der vierzehnjährige Leon und die neunjährige Lilli – starrten mit aufgerissenen Augen auf den riesigen Wandschirm, die Gabeln auf halbem Weg zum Mund erstarrt.
Auf dem Bildschirm drehte sich die riesige, goldene Lostrommel in einem Meer aus Scheinwerferlicht. Kameras zoomten auf die Kugeln, die wie gefangene Seelen durcheinanderwirbelten. »Und die heutige Gewinnzahl ist…«, rief Kiki LaBelle, ihre Stimme überschlug sich vor gespielter Ekstase.
Die goldene Kugel rollte durch den gläsernen Kanal
Klick. Klack. Klick.
Ein Moment der absoluten, landesweiten Stille.
»ACHT! VIER! SIEBEN! DREI! ZWEI! NEUN! EINS! NULL! VIER! FÜNF!«
Die Zahlen rasteten auf dem Bildschirm ein. 8.473.291.045.
Die Stille in Maries Esszimmer dauerte eine Sekunde länger als im Rest der Nation. Dann explodierte der Raum in einem ohrenbetäubenden Jubel.
»MAMA HAT GEWONNEN! MAMA HAT GEWONNEN!«, kreischte Lilli und sprang von ihrem Stuhl auf, die Nudeln fielen von ihrer Gabel. Leon pumpte die Faust in die Luft wie ein Fußballfan nach einem langersehnten Tor.
Marie erstarrte. Ihr Herz. Ihr gesundes Herz schlug einfach weiter. Ein dumpfer, panischer Rhythmus in ihrer Brust.
Sie hatte noch 23 Stunden und 42 Minuten zu leben.
»Schatz«, Thomas hatte Tränen der Freude in den Augen und zog sie in eine feste Umarmung. »Du hast es geschafft. Das Paradies! Endlich!«
Die Tür wurde aufgerissen. Die Nachbarn strömten herein, angelockt vom Jubel. Sektkorken knallten. Jemand drückte Marie ein Glas in die Hand. Thomas telefonierte bereits aufgeregt mit dem Bestattungsinstitut »Paradies-Reisen« – die besten Termine waren immer schnell ausgebucht.
Ein unkontrollierbares Zittern erfasste Maries Lippen, als sie versuchte zu lächeln. Dann löste sich eine einzelne Träne, dann eine zweite. Sie liefen heiß über ihre Wangen.
»Freudentränen!«, rief die Nachbarin und tätschelte ihr gerührt den Arm.
Thomas zog sie noch fester an sich. »Ich wusste es«, flüsterte er ergriffen. Marie nickte, lächelte durch den nassen Schleier und umarmte jeden, der ihr zu nahe kam. Sie spielte ihre Rolle perfekt, während die Tränen der stummen, verzweifelten Gestalt in ihr unaufhaltsam weiterliefen – eine stille Flut, die niemand verstand.
Die Regeln der Welt
Die Todeslotterie existierte seit dem Großen Vertrag, einem Ereignis, das so weit zurücklag, dass es sich in den Nebeln der Geschichte verloren hatte. Die offiziellen Geschichtsbücher – elegant und digital aufbereitet für die Schul-Tablets der Nation – sprachen von einer Zeit des Chaos, der Überbevölkerung und der Verzweiflung. Der Vertrag sei die ultimative, humane Lösung gewesen, eine göttliche Fügung, die der Menschheit Frieden, Ordnung und vor allem einen Sinn gegeben habe. Eine Chance auf Erlösung für jeden.
Die Dogmen des Vertrags waren von einer brutalen Einfachheit, eingraviert in das Fundament ihrer Gesellschaft. Jeder Bürger erhielt bei der Geburt seine Nummer, nicht mehr nur als simple Tätowierung, sondern als Teil des genetischen Codes, für alle sichtbar auf einem kleinen, biometrischen Display am Handgelenk.
Jeden Abend um 20:15 Uhr wurde eine dieser Nummern live im nationalen Fernsehen gezogen. Es war ein Versprechen und eine Drohung zugleich: Wer an seinem gezogenen Tag starb, dem war das ewige Paradies garantiert, untermauert von endlosen, glücklichen Bildern angeblicher „Ankömmlinge“. Wer seinen Termin jedoch verpasste – sei es durch Krankheit, einen Unfall oder Flucht – den erwartete die garantierte Hölle, ein Zustand ewiger, digitaler Auslöschung, der als schlimmer als jeder Tod galt. Selbst der Freitod war kein Tabu mehr, sondern wurde als „kreative Selbstverwirklichung“ gefeiert, solange er nur am richtigen Tag stattfand.
Niemand stellte diese Regeln mehr infrage. Aus der anfänglichen Verzweiflung der ersten Generationen war über die Jahrzehnte eine fanatische Akzeptanz gewachsen. Die Begeisterung wurde von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Man träumte nicht mehr davon, Astronaut oder Ärztin zu werden, sondern davon, einen möglichst spektakulären „Gewinn-Tag“ zu haben.
Marie wusste das alles. Sie war mit diesen Wahrheiten aufgewachsen. Und doch fühlte sich an diesem Morgen, dem Morgen ihres letzten Tages, alles wie eine monströse Lüge an. Die Sonne schien durch das Küchenfenster, als sie mechanisch Kaffee kochte. Thomas hatte ihr die Kleider für das Terminierungszentrum herausgelegt – ihr schönstes blaues Kleid. »Für die Videos, Schatz«, hatte er gesagt. »Du sollst perfekt aussehen, wenn du gehst.«
Lilli kam in die Küche, ihr Gesicht strahlte. In der Hand hielt sie eine Zeichnung. Darauf war eine lachende Marie mit Engelsflügeln zu sehen, die auf einer Wolke saß. Darunter stand in krakeliger Kinderschrift: »Meine Mama ist die beste Gewinnerin!«
»Für dich, Mama«, sagte Lilli und drückte ihr das Bild an die Brust. »Damit du weißt, wie stolz wir sind.«
Marie umarmte ihre Tochter. Der Duft von Kindershampoo stieg ihr in die Nase, ein vertrauter, schmerzhafter Anker in der Realität. Sie wollte sagen: Ich will nicht gehen. Ich will sehen, wie du erwachsen wirst. Ich will deine Hand halten, wenn du Angst hast.
Stattdessen flüsterte sie: »Danke, mein Schatz. Das ist wunderschön. Ich werde es mitnehmen.«
Die Lüge schmeckte wie Asche auf ihrer Zunge.
Das Terminierungszentrum
Das Terminierungszentrum trug den Namen »Haus der Ewigkeit« und sah aus wie die Lobby eines Fünf-Sterne-Wellnesshotels. Der Raum war in sanfte, warme Farben getaucht, aus unsichtbaren Lautsprechern plätscherte beruhigende Instrumentalmusik, und in der Luft hing ein künstlicher Duft nach Vanille und Lavendel, der den sterilen Geruch von Desinfektionsmittel nur unzureichend überdeckte. An den Wänden hingen riesige, holografische Porträts von glücklichen »Gewinner-Familien«, die lächelnd mit den Urnen ihrer Liebsten posierten.
Marie saß auf einem weichen, weißen Sofa und fühlte sich, als würde sie schweben. Ihr Körper war hier, aber ihr Geist war weit weg, gefangen in einer Endlosschleife aus den Gesichtern ihrer Kinder. Eine Beraterin mit einem aufgesetzten Lächeln und einem Namensschild, auf dem »Engel Jasmin« stand, setzte sich ihr gegenüber.
»Guten Tag, Gewinnerin Richter«, säuselte sie. »Sind Sie bereit für Ihren großen Moment? Wie möchten Sie denn ins Paradies übergehen? Wir haben heute einige wundervolle Optionen im Angebot: die Goldene Pille, eine sehr friedliche Wahl. Die Trauminfusion, bei der Sie in Ihren schönsten Träumen entschlafen. Oder unseren absoluten Bestseller – die Engelskammer.«
»Was… was ist die Engelskammer?«, fragte Marie, ihre Stimme ein heiseres Flüstern.
»Oh, die werden Sie LIEBEN!«, quietschte Engel Jasmin. »Sie schweben in körperwarmem Salzwasser, völlig schwerelos, umgeben von Projektionen Ihrer schönsten Erinnerungen. Musik Ihrer Wahl. Und dann, ganz sanft, wird der Sauerstoff in der Luft durch Helium ersetzt. Sie schlafen mit einem Lächeln ein und wachen im Paradies auf!«
Marie nickte stumm. Um sie herum diskutierten andere Gewinner aufgeregt ihre Optionen wie Urlauber, die Ausflüge buchen. Ein alter Mann wählte mit dröhnender Stimme den »Heldentod Deluxe« – ein virtuelles, inszeniertes Szenario, bei dem er Kinder vor einem erfundenen Terrorangriff retten würde.
Ein junges Mädchen kicherte, als sie sich für den »Romeo & Julia«-Pakt entschied, um gemeinsam mit ihrem Freund zu gehen, dessen Nummer morgen gezogen werden sollte.
Nur in der Ecke saß ein Mann, der nicht jubelte. Er passte nicht in diese sterile, fröhliche Umgebung. Er schien aus einer anderen Zeit zu stammen, sein Gesicht eine Landkarte aus unzähligen Falten, seine Augen von einer unendlichen Müdigkeit gezeichnet. Er trug einfache, abgetragene Kleidung und starrte auf das Display an seinem Handgelenk. Es zeigte eine einzige Ziffer: 1.
Elias. Der Unsterbliche.
Seine Nummer wurde nie gezogen. Konnte nicht gezogen werden. Ein Fehler im System, sagten die einen. Eine ewige Strafe, sagten die anderen. Er war bei der allerersten Ziehung dabei gewesen, damals, als die Menschen noch begriffen, was sie da unterschrieben hatten. Als die ersten Gewinner noch schrien, statt zu lächeln.
»Sie wollen nicht sterben«, sagte er leise, ohne Marie anzusehen. Seine Stimme war rau wie Schmirgelpapier. Sie zuckte zusammen.
»Natürlich will ich das! Ich habe gewonnen! Das Paradies wartet!«, sagte sie, die Worte klangen wie auswendig gelernt.
»Nein«, er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Sie wollen leben. Ich kann es in Ihren Augen sehen. Dieselbe Panik wie bei allen anderen, die noch nicht aufgehört haben, selbst zu denken.«
»Das ist Blasphemie!«, zischte Marie und sah sich nervös um. »Die Kontrolleure…«
»Zum Teufel mit den Kontrolleuren«, unterbrach er sie, seine Stimme immer noch leise, aber schneidend. »Wissen Sie, was das Schlimmste an all dem ist? Nicht, dass die Menschen sterben müssen. Sondern dass sie es wollen. Dass sie ihre Kinder dazu erziehen, sich nach dem Tod zu sehnen.«
Maries Fassade bekam einen Riss. Die Worte trafen sie wie ein körperlicher Schlag.
»Meine Tochter«, flüsterte sie plötzlich, die Worte brachen aus ihr heraus wie Wasser aus einem lecken Damm. »Sie ist neun. Sie… sie malt schon ihr Traumsterben. Sagt, sie will an ihrem Tag von einem Einhorn aufgespießt werden. In einem Schloss. Mit all ihren Freundinnen, die zusehen.«
»Und das erschreckt Sie?«, fragte Elias und sah sie zum ersten Mal direkt an.
»Es sollte mich stolz machen«, Tränen liefen über ihre Wangen, diesmal verstand sie selbst ihre Bedeutung. »Aber alles, woran ich denken kann, ist: Ich werde nie sehen, wie sie erwachsen wird. Nie ihre Hochzeit erleben. Nie ihre Hand halten, wenn sie mich braucht.«
»Dann fliehen Sie«, sagte Elias eindringlich. »Jetzt! Stehen Sie auf, rennen Sie zur Tür und verschwinden Sie. Es gibt Orte, außerhalb der Mauern, wo…«
»GEWINNERIN 8.473.291.045!« Die glockenhelle Stimme von Engel Jasmin schnitt durch den Raum wie ein Skalpell.
»Ihre Engelskammer ist bereit!«
Marie zuckte zusammen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. In der Tür des Warteraums stand ihre Familie. Strahlend. Stolz.
Thomas hielt die gute Holo-Kamera in der Hand, um alles für die Ewigkeit festzuhalten. Leon und Lilli trugen ihre besten Kleider.
»Mama! Du siehst toll aus!«, rief Leon. »Das wird das beste Sterbevideo aller Zeiten!«
Marie erhob sich. Ihre Beine fühlten sich an wie Wasser. Der Funke Rebellion, den Elias entzündet hatte, erlosch unter der Welle der Realität. Sie sah in die leuchtenden, erwartungsvollen Augen ihrer Kinder. Sie war gefangen.
»Ich… ich komme.«
Die Engelskammer
Der Gang zur Engelskammer war kurz. Ein steriler, weißer Korridor, der in einem Raum endete, der aussah wie eine private Spa-Suite. In der Mitte stand ein gläserner, eiförmiger Tank, gefüllt mit schimmerndem, blau leuchtendem Wasser. Eine Technikerin in einem weißen Kittel lächelte Marie an, als wäre sie eine VIP-Kundin.
Ihre Familie wartete hinter einer großen Glasscheibe. Sie winkten und formten Küsse mit ihren Mündern. Thomas hielt die Holo-Kamera hoch, das rote Aufnahmelicht blinkte. Lilli drückte ihre Zeichnung gegen die Scheibe.
»Meine Mama geht ins Paradies!«, hatte sie darunter geschrieben.
»Sind Sie bereit für Ihre Reise, Gewinnerin Richter?«, fragte die Technikerin. Marie nickte, ein mechanisches Zucken ihres Kopfes. Sie ließ die Prozedur über sich ergehen, das Anlegen der Sensoren, die letzten Anweisungen.
Dann stieg sie in den Tank.
Das Wasser war warm und umschloss sie wie eine sanfte Umarmung. Sie schwebte schwerelos, ihr blaues Kleid wie eine Blume um sie herum. An die gewölbte Decke des Tanks wurden Bilder projiziert.
Ihre Hochzeit mit Thomas. Das erste Lachen von Leon. Lillis erste, wackelige Schritte. Dazu spielte leise ihr Hochzeitslied, genau wie von Engel Jasmin versprochen. Es war alles perfekt. Eine perfekt inszenierte Falle.
Durch das Glasdach sah sie ihre Familie. Alle lächelten. Filmten. Die Kleine hatte ein Schild gemalt: »Wir lieben dich, Gewinnerin!«
»Starten Sie«, hörte sie sich selbst sagen, ihre Stimme klang fremd und weit weg.
Ein leises Zischen ertönte. Das Helium strömte ein, süßlich und leicht. Marie atmete tief ein, und ein seltsames Kribbeln durchfuhr sie.
Sie versuchte zu schreien, zu sagen, dass das alles ein Fehler war, dass sie leben wollte. Aber aus ihrem Mund kam nur ein hohes, komisches Quietschen, wie aus einem Cartoon.
Hinter der Scheibe lachte ihre Familie. Lilli klatschte in die Hände.
So lustig!
So süß!
Mama machte Witze bis zum Schluss!
Ihre Lungen brannten. Ihr Körper kämpfte, ein verzweifelter, urzeitlicher Reflex gegen das Ersticken. Aber das warme Wasser hielt sie sanft gefangen. Die Musik spielte lauter. Ihr Hochzeitslied. Ihr Herz hämmerte einen wilden, letzten Protest gegen ihre Rippen.
Ihr letzter Gedanke, bevor die Dunkelheit sie nahm, war nicht die Frage, ob es ein Paradies gab. Es war die schreckliche, klare Erkenntnis: Was, wenn die Hölle nicht der Ort für die Verweigerer war, sondern das hier? Eine Welt, in der Kinder den Tod ihrer Eltern feierten und es für Liebe hielten?
Elias saß immer noch in der Ecke des Warteraums, als die Familie Richter eine Stunde später glücklich herauskam. Thomas trug die kleine, goldene Urne unter dem Arm, während er auf seinem Handy das Video bearbeitete. Lilli und Leon stritten sich schon darum, wer die Urne auf dem Kaminsims platzieren durfte. Sie würden es in den sozialen Medien teilen.
#BesteMamaImParadies #Gewinnerfamilie #Blessed.
Elias wandte den Blick ab. Er hatte aufgehört, die Familien zu zählen. Morgen würde die nächste Nummer gezogen. Und übermorgen. Und übermorgen. Bis niemand mehr da war außer ihm. Dem Unsterblichen in einer Welt, die den Tod anbetete.
Er fragte sich, ob das seine wahre Strafe war. Nicht die Unsterblichkeit selbst. Sondern das ewige Zuschauenmüssen, wie die Menschheit sich freiwillig abschaffte. Lächelnd. Jubelnd. In HD gefilmt.
Im Terminierungszentrum bereiteten sie schon die nächste Engelskammer vor.
Ein Kind. Gerade 18 geworden. Seine Freunde hatten eine Überraschungsparty organisiert.
Thema: »Ab ins Paradies!«
Elias erhob sich und ging. Manche Höllen waren zu real, um sie länger anzuschauen. Und manche Paradiese waren die grausamsten Lügen, die je erzählt wurden.
Die Ziehung würde in 23 Stunden und 12 Minuten wieder beginnen. Die Show musste weitergehen.
Für immer.